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Ausgestaltung der Demokratie | Polen | bpb.de

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Ausgestaltung der Demokratie

Klaus Ziemer

/ 19 Minuten zu lesen

Blick auf das polnische Parlament im Juli 2006. (© AP)

Errichtung der "Dritten Republik"

Polen war im Herbst 1989 das erste sozialistische Land Europas, das eine nicht-sozialistische Regierung erhielt. Noch wenige Monate zuvor hatte es keineswegs danach ausgesehen. Erst Streiks im Mai und August 1988 veranlassten die politische Führung, auf Gesprächsangebote von Teilen der Opposition einzugehen. Von Februar bis April 1989 berieten am Runden Tisch reformbereite Vertreter des bisherigen Establishments und kompromissbereite Repräsentanten der Opposition.

Am Runden Tisch wurde unter anderem vereinbart, dass bisher von der regierenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) wahrgenommene Machtkompetenzen auf staatliche Institutionen übertragen werden sollten. Auf Parteichef General Jaruzelski, dessen Person unerlässlich war, um die Bündnisloyalität Polens gegenüber der Sowjetunion zu signalisieren, wurde ein mit umfangreichen Befugnissen ausgestattetes Präsidentenamt zugeschnitten, das sich am Vorbild der V. Französischen Republik orientierte. Zu den präsidialen Kompetenzen zählten ein weitgehendes Vetorecht gegen Gesetzesvorhaben des Parlaments sowie die Ernennung des Premierministers.

Die parteipolitische (nicht aber die personelle) Zusammensetzung des Sejm wurde im Verhältnis 65 zu 35 zugunsten des ancien régime, der PZPR, ihrer Satellitenparteien Vereinigte Bauernpartei (ZSL) und Demokratische Partei (SD) sowie einiger christlicher Politiker festgelegt, so dass die Machtverteilung für die nächsten vier Jahre klar schien. Wahlen zur wieder eingeführten Zweiten Kammer des Parlaments, zum mit geringeren Kompetenzen ausgestatteten Senat, waren frei. Sie sollten dem von den Kommunisten dominierten Institutionensystem Legitimität verleihen.

Der überwältigende Wahlsieg der Solidarnosc im Juni 1989 (99 von 100 Sitzen im Senat, alle ihr zugänglichen 161 Sitze im Sejm) veränderte die politischen Prämissen grundlegend. ZSL und SD wollten nicht mehr mit der PZPR koalieren, weil sie dieser keine erfolgreichen Reformen zutrauten. Nun rächte sich für die PZPR, dass sie für sich erstmals weniger als 50 Prozent der Sitze im Parlament beansprucht hatte. Premierminister wurde mit Tadeusz Mazowiecki nach mehr als 40 Jahren erstmals in einem realsozialistischen Staat ein Nichtkommunist, der eine Regierung aus Vertretern der Solidarnosc, ZSL und SD bildete. Ende 1989 wurden durch Verfassungsänderungen die wichtigsten Elemente der sozialistischen Verfassung, vor allem die Führungsrolle der PZPR, beseitigt und die Grundlagen pluralistischer Demokratie wie Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Parteienvielfalt eingeführt. Ferner wurde der Staatsname wieder von Volksrepublik Polen in Republik Polen (Rzeczpospolita Polska) geändert.

Die durch die Wahlen vom Juni 1989 ausgelöste Dynamik führte zu Konsequenzen auf mehreren Ebenen. Die jahrzehntelang regierende PZPR löste sich Ende Januar 1990 selbst auf, da ihre Führung angesichts der Diskreditierung der Partei keine Chance mehr sah, die Macht wiederzugewinnen. Die wichtigste Nachfolgepartei, die Sozialdemokratie der Republik Polen (SdRP), formierte ab Ende des Jahres 1990 ein Bündnis linker Gruppierungen (u.a. mit dem bisher der PZPR nahen Gewerkschaftsverband OPZZ), die "Allianz der Demokratischen Linken" (SLD), die bis 2001 von Wahl zu Wahl Stimmen hinzugewann. Nach den vorgezogenen Wahlen von 1993 stellte die SLD mit dem zur Polnischen Bauernpartei (PSL, vormals ZSL) gewendeten früheren Koalitionspartner die Regierung. General Jaruzelski erkannte, dass seine Zeit abgelaufen war, und trat im Spätherbst 1990 zurück, obwohl er bis 1995 gewählt worden war. Eine Verfassungsänderung führte die Direktwahl des nun auf fünf Jahre gewählten Staatspräsidenten ein. Diese gewann im Dezember 1990 der Solidarnosc-Vorsitzende Lech Walesa, der bei seiner Amtseinführung die "Dritte Republik" proklamierte – nach der Adelsrepublik (bis zur dritten Teilung Polens 1795) und der Zwischenkriegszeit (1918–1939, "Zweite Republik"). Die gesamte Zeit ab 1939 wurde ausgeblendet, die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete Volksrepublik nicht als souveräner Staat betrachtet. Diese Interpretation behielt auch die Präambel der mit Zustimmung der SLD formulierten Verfassung von 1997 bei.

In der Euphorie des Systemwechsels – im Oktober 1989 unterstützten 80 Prozent der Befragten die Tätigkeit der Regierung Mazowiecki – gelang es dem Finanzminister und Vizepremier Leszek Balcerowicz, zum 1. Januar 1990 mit einem harten Schnitt die sozialistische Planwirtschaft außer Kraft zu setzen und im Rahmen einer "Schocktherapie" die Marktwirtschaft einzuführen. Obwohl die ohnehin sehr niedrigen Realeinkommen um rund ein Fünftel sanken, gab es kaum Proteste gegen diesen Schritt, mit dem die zeitweise dreistellige Inflation eingedämmt wurde. Balcerowicz räumte später ein, er habe ein "window of opportunity" (begrenztes Zeitfenster) für die Einführung seiner Finanz- und Wirtschaftsreformen genutzt, die später politisch nicht mehr durchsetzbar gewesen wären.

Die hohen sozialen Kosten dieses Transformationsweges (u.a. ein Ansteigen der Arbeitslosigkeit zwischen 1989 und 1993 von 0,1 auf 16,4 Prozent) trugen mit zum Wahlsieg der SLD 1993 bei.

Die Verfassung von 1997

Zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung war das 1989 nur halbfrei gewählte Parlament nicht hinreichend legitimiert und das 1991 gewählte zu zersplittert. Da vor allem nach der Übernahme des Präsidentenamtes durch Lech Walesa, der seine Kompetenzen maximal ausschöpfen wollte, die unklare Kompetenzabgrenzung zwischen Präsident, Regierung und Parlament zu ständigen Reibungen führte, wurde 1992 zunächst eine "Kleine Verfassung" verabschiedet, die die Institutionen stabilisieren sollte. Allerdings zeigte der auch weiterhin fast jährliche Wechsel im Amt des Premierministers, dass dies nicht gelang. Im 1993 gewählten Sejm war die in vielen kleinen Parteien angetretene Rechte wegen der Wirkung der neuen Fünf-Prozent-Klausel nur schwach vertreten. Obwohl einige ihrer Vertreter trotzdem in den Verfassungsausschuss berufen wurden, bestritt sie die Legitimation dieses Gremiums.

Das Regierungssystem Polens

Die im Mai 1997 bei nur 42,9 Prozent Abstimmungsbeteiligung und einer knappen Zustimmung von 52,7 Prozent per Volksentscheid verabschiedete neue Verfassung beschnitt die Kompetenzen des Staatspräsidenten, so dass Polen seither über ein parlamentarisch-präsidentielles System verfügt. An einigen Stellen sind Analogien zum deutschen Grundgesetz erkennbar, etwa die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums (dass also der Regierungschef nur gestürzt werden kann, wenn gleichzeitig sein Nachfolger gewählt wird), die Rolle des Verfassungsgerichts oder das Prinzip der wehrhaften Demokratie, das es dem Verfassungsgerichtshof erlaubt, verfassungswidrige Parteien zu verbieten. Der weiterhin in allgemeinen Wahlen auf fünf Jahre gewählte, mindestens 35 Jahre alte Präsident besitzt die üblichen repräsentativen und protokollarischen Kompetenzen eines Staatsoberhaupts. Darüber hinaus verfügt er aber auch über das Recht auf Gesetzesinitiative und vor allem über die Möglichkeit, ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz nicht nur vom Verfassungsgerichtshof überprüfen zu lassen, sondern auch sein Veto dagegen einzulegen (wobei er sich allerdings entscheiden muss, welche der beiden Möglichkeiten er wählt). Ein Veto des Präsidenten kann der Sejm nur mit einer Mehrheit von 60 Prozent zurückweisen. Doch in Zeiten einer unterschiedlichen politischen Herkunft des Präsidenten und der Regierung ("Kohabitation"), etwa unter Präsident Lech Kaczynski, der 2007 bis 2010 eine ganze Reihe von Gesetzesprojekten der Regierung Donald Tusk mit seinem Veto versah, erwies sich die 60-Prozent-Hürde als relativ hoch, da die Regierung nur über eine Mehrheit von 52,2 Prozent der Abgeordneten verfügte. Nur in rund der Hälfte der Veto-Fälle konnte sie Unterstützung bei der Opposition mobilisieren, so dass die andere Hälfte der Projekte scheiterte.

Der Präsident ist oberster Vorgesetzter der Streitkräfte, übt in Friedenszeiten diese Vorgesetztengewalt aber nur mittelbar über den Verteidigungsminister aus. Er verfügt ferner über Kompetenzen in der Außenpolitik. Die Verfassung bestimmt in Art. 133, Abs. 2: "Der Präsident der Republik Polen arbeitet im Bereich der Außenpolitik mit dem Vorsitzenden des Ministerrates und dem zuständigen Minister zusammen." Auch diese außenpolitische Zusammenarbeit litt während der "Kohabitation" zwischen Präsident Lech Kaczynski und der Regierung von Donald Tusk. Mehrfach gab es auch für die Öffentlichkeit sichtbare, zum Teil spektakuläre Unstimmigkeiten, sodass sich die Regierung Tusk schließlich an den Verfassungsgerichtshof wandte, um die Verfassung in diesem Punkt interpretieren zu lassen. Dieser antwortete 2010 dahingehend, dass der Präsident in den Bereichen für die Außenpolitik mit verantwortlich sei, die seine verfassungsmäßigen Kompetenzen betreffen (Art. 126, Abs. 2: "… hütet die Souveränität und die Sicherheit des Staates sowie die Integrität und Unteilbarkeit von dessen Staatsgebiet") – also in der Sicherheitspolitik.

Während die Präsidenten Lech Walesa (1990–95) und Aleksander Kwasniewski (SLD, 1995–2005) sich als Präsidenten aller Polen verstanden – Walesa dabei als ein wie de Gaulle "über den Parteien" stehender Schiedsrichter –, wollte Lech Kaczynski vor allem die Politik seines Zwillingsbruders und PiS-Parteivorsitzenden unterstützen. Nach dem Tode von Lech Kaczynski bei einem Flugzeugabsturz in Smolensk im April 2010 setzte sich Anfang Juli 2010 Bronislaw Komorowski (PO) in der Stichwahl gegen Jaroslaw Kaczynski (PiS) durch. Der neue Präsident ließ deutlich erkennen, wie seine beiden ersten Amtsvorgänger eher integrierend wirken zu wollen.

Regierung, Parlament und Gewaltenteilung

Der Präsident ernennt den Regierungschef und vereidigt das von diesem vorgeschlagene Kabinett. Binnen 14 Tagen muss der Premierminister sein Regierungsprogramm dem Sejm vorlegen und dessen Zustimmung zu seiner Regierung einholen. Verfehlt er die absolute Mehrheit der Stimmen bei der Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Abgeordneten, schlägt der Sejm einen anderen Kandidaten vor. Scheitert auch dieser, fällt die Initiative an den Staatspräsidenten zurück. Erhält auch dessen neuer Vorschlag keine Billigung, löst der Präsident das Parlament auf. Mit Hinweis auf diese Bestimmung konnte Präsident Kwasniewski 2004 gegenüber dem Sejm den zunächst abgelehnten Kandidaten Marek Belka durchsetzen, der eine Minderheitsregierung bildete. In die Verfassung von 1997 wurde – als Konsequenz aus der hohen Fluktuation an Regierungschefs (acht zwischen 1989 und 1997) – die Bestimmung aufgenommen, dass der Ministerpräsident künftig nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt werden kann, also unmittelbar ein Nachfolger gewählt werden muss. Dies ermöglichte mehreren Regierungen ohne parlamentarische Mehrheit das Überleben. Allerdings können weiterhin einzelne Minister vom Sejm abberufen werden. Dies wurde zwar mehrfach versucht, gelang bisher aber noch nie. Innerhalb der Regierung dominiert die Stellung des Premierministers, der den Kompetenzbereich (und damit die Macht) eines Ministers festlegt und ggf. ändert sowie die Arbeit der Regierung leitet und kontrolliert.

Das auf vier Jahre gewählte Parlament besteht aus zwei Kammern, dem 460 Abgeordnete umfassenden Sejm und dem 100 Mitglieder zählenden Senat. Die mindestens 21 Jahre alten Abgeordneten der wichtigeren Kammer, des Sejm, werden seit 2001 in 41 Wahlkreisen mit zwischen sieben und 19 Mandaten nach Verhältniswahl (seit 2002: d´Hondt) gewählt. Die Wähler können die Reihenfolge der Kandidaten auf der von ihnen bevorzugten Parteiliste ändern (lose gebundene Listen). Es gilt eine landesweite Fünf-Prozent-Klausel, von der nur Parteien nationaler Minderheiten ausgenommen sind. Diese Regel ermöglicht der im Wahlkreis Oppeln (Opole) konzentrierten deutschen Minderheit, auch bei landesweit nur etwa 0,2 Prozent der gültigen Stimmen immer mindestens einen Abgeordneten in den Sejm zu entsenden. Die 100 Senatoren werden seit einer Wahlgesetzänderung von 2011 in 100 Einmannwahlkreisen nach relativer Mehrheit gewählt. Ein Senator muss mindestens 30 Jahre alt sein. Der Senat besitzt in der Praxis die Funktion, vom Sejm verabschiedete Gesetze zu überprüfen und inhaltliche sowie gesetzestechnische Mängel zu korrigieren. Über die Ablehnung von Gesetzen durch den Senat oder Änderungsvorschläge kann der Sejm sich mit absoluter Stimmenmehrheit hinwegsetzen. Bei vorzeitiger Auflösung des Sejm wird auch der Senat neu gewählt.

Die Gewaltenteilung ist durch die neue Verfassung insofern gestärkt worden, als jetzt Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs unmittelbar bindendes Recht sind. Noch in den 1990er Jahren hatte der Sejm in mehreren Fällen Urteile des Verfassungsgerichts überstimmt. Als "Organe der staatlichen Kontrolle und des Rechtsschutzes" nennt die Verfassung unter anderem die Oberste Kontrollkammer (vergleichbar dem Bundesrechnungshof) und die/den "Beauftragte(n) für die Bürgerrechte". Diese/r kann selbst keine Entscheidungen treffen, aber Anträge und Eingaben an eine Reihe von staatlichen Institutionen bis hin zum Verfassungsgerichtshof richten und hat dies in tausenden von Fällen meist mit Erfolg getan. Daneben gibt es weitere Beauftragte, beispielsweise für Datenschutz oder für die Rechte von Kindern. Der Vorsitzende der Obersten Kontrollkammer und die Beauftragten werden vom Sejm gewählt. Sie sind dessen Hilfsorgane.

Heftig umstritten war bei der Ausarbeitung der Verfassung die Präambel, und zwar die Frage, ob – wie in den Verfassungen von 1791 und 1921 – ein Gottesbezug eingefügt werden sollte. Am Ende setzte sich die von Tadeusz Mazowiecki vorgeschlagene Formel durch, dass das polnische Volk diese Verfassung beschlossen habe, "sowohl diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten". Inzwischen hat sich die Verfassung im Wesentlichen bewährt und ist auch die Präambel allgemein akzeptiert.

Die Reform der regionalen und lokalen Selbstverwaltung 1999

1975 war in Polen unterhalb der nationalen Ebene eine zweistufige Verwaltung eingeführt worden. Neben 49 Woiwodschaften gab es nur noch Gemeinden, die erst durch die Reform der territorialen Selbstverwaltung 1990 eigenständige Kompetenzen erhielten. Angesichts des tief verwurzelten Zentralismus im Polen des 20. Jahrhunderts besitzen die zum 1. Januar 1999 wieder eingeführte Dreistufigkeit der Verwaltung und die damit einhergehende Dezentralisierung eine große Bedeutung. Die Zahl der Woiwodschaften wurde zwar auf 16 verkleinert. Diese erhielten jedoch deutlich größere Kompetenzen vor allem im Bereich der regionalen Wirtschaftsentwicklung, der Raumordnung und des Landschaftsschutzes. Jede Woiwodschaft bekam ein auf vier Jahre gewähltes eigenes Parlament (Sejmik) und eine von diesem gewählte Exekutive mit einem "Marschall" an der Spitze, jedoch keine eigene Verfassung. Da die Woiwodschaften nicht nur eigene Kompetenzen besitzen, sondern auch von der Zentrale vorgegebene Aufgaben zu erfüllen haben, ernennt die Landesregierung als ihren Vertreter auf der Woiwodschaftsebene einen "Woiwoden", der die Durchführung gesamtstaatlicher Gesetze und Verordnungen sicherstellt. Seine demokratisch nicht legitimierte Position reibt sich bisweilen mit der des Marschalls, mit dessen Kompetenzen es Überschneidungen gibt. Beide gehören nicht immer derselben politischen Richtung an. Nach den Wahlen zu den Sejmiki vom November 2010 konnten PO und PSL – in einigen Fällen mit einem weiteren Koalitionspartner – erstmals in allen 16 Woiwodschaften den Marschall stellen.

Auf der mittleren Ebene wurden 314 Kreise wieder eingeführt. Hinzu kommen 65 Städte mit Kreisrecht. Die unterste Einheit der Territorialverwaltung bilden schließlich die rund 2500 Gemeinden mit einem Gemeinderat und als Exekutive einem – je nach Gemeindegröße – wójt (Schulzen), Bürgermeister oder (bei mehr als 100000 Einwohnern) Stadtpräsidenten. Die Kompetenzverlagerung nach unten hat zu einer gewissen Regionalisierung des politischen Lebens beigetragen und auch ein zuvor – von wenigen Ausnahmen abgesehen – kaum vorhandenen Regionalbewusstsein gefördert. Herausragende Stadtpräsidenten wie Rafal Dutkiewicz (parteilos) in Breslau (Wroclaw), Ryszard Grobelny (parteilos) in Posen (Poznan) oder Pawe Adamowicz (PO) in Danzig (Gdansk) sind landesweit bekannt und unabhängig von irgendeiner "Zentrale" in Warschau. Dutkiewiczs Gruppierung gewann im November 2010 sogar bei den Wahlen zum niederschlesischen Sejmik über 22 Prozent der Stimmen. Während die Bürger in Umfragen die Möglichkeiten, selbst Einfluss auf die Politik zu nehmen, für die zentralstaatliche Ebene eher skeptisch beurteilen, wächst die Zahl derer, die eigene Einflussmöglichkeiten auf der lokalen Ebene sehen. Im Herbst 2010 waren es 52 Prozent, während 45 Prozent gegenteiliger und drei Prozent ohne Meinung waren. Gleichzeitig beurteilten 52 Prozent die Bilanz von 20 Jahren Selbstverwaltung auf lokaler Ebene positiv (davon sieben Prozent "entschieden") und nur acht Prozent negativ (29 Prozent: "weder – noch", elf Prozent: "schwer zu sagen").

Etliche Woiwodschaften, Städte und Gemeinden bemühen sich, Fördermittel der EU einzuwerben. Ob dadurch die teilweise extremen regionalen Einkommensunterschiede etwas ausgeglichen werden können, bleibt abzuwarten. 2008 betrug das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner in der Woiwodschaft Vorkarpaten 23 100 PLN (Zloty), in der angrenzenden Woiwodschaft Masowien mit der Hauptstadt Warschau dagegen 52 800 PLN.

Die Reform des Rechtssystems

Als vordringlichste Aufgabe bezeichnete Premierminister Tadeusz Mazowiecki in seiner Regierungserklärung vom 12. September 1989 die Herstellung eines Rechtsstaates. Im sozialistischen Staat konnte die Partei bei Bedarf das Recht für ihre Zwecke instrumentalisieren. Entscheidend war nun, dass der Primat des Rechts durchgesetzt wurde, dass alle staatlichen Institutionen, einschließlich Regierung, Verwaltung und Ordnungskräfte, sich an die Vorschriften des Rechts hielten.

Am Runden Tisch war 1989 die Einsetzung eines Landesrates für das Gerichtswesen beschlossen worden, der die Unabhängigkeit der Gerichte stärken sollte. Seine heute 25 Mitglieder setzen sich vor allem aus Vertretern der Richter, aber auch der Exekutive und der Legislative zusammen. Sie können sich an das Verfassungsgericht in Fragen der Unabhängigkeit von Richtern und Gerichten wenden, überprüfen die Kandidaturen für das Richteramt auf allen Ebenen und können Disziplinarverfahren gegen Richter einleiten.

Umfassende Reformen von 1989 bis 1992 führten einen dreigliedrigen Gerichtsaufbau in ordentliche, Militär- und Verwaltungsgerichte ein. Die Richter werden vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag des Landesrats für Gerichtswesen auf unbefristete Zeit ernannt, sind unabhängig und können nicht abgesetzt oder gegen ihren Willen versetzt werden. Die grundsätzliche Zuständigkeit bei allen Rechtsstreitigkeiten steht den ordentlichen Gerichten zu (mit Ausnahme von Militär und Verwaltung). Der Aufbau ist – vergleichbar den deutschen Amts-, Land- und Oberlandesgerichten – dreistufig (Stadt-/Kreisgericht, Bezirksgericht, Appellationsgericht). Höchstes polnisches Gericht ist der Oberste Gerichtshof in Warschau, der in vier Kammern gegliedert ist (Zivilrecht, Strafrecht, Arbeits- und Sozialversicherungsrecht, Militär) und Urteile der unteren Instanzen aufheben, aber auch auf der Ebene des Appellationsgerichts strittige Rechtsfragen entscheiden kann.

Der ebenfalls in Warschau ansässige Verfassungsgerichtshof urteilt über die Vereinbarkeit von Gesetzen, Rechtsvorschriften und internationalen Verträgen mit der Verfassung, über die Verfassungsmäßigkeit der Ziele und der Tätigkeit politischer Parteien und entscheidet bei Organstreitigkeiten, also in Fällen der Kompetenzabgrenzung zwischen Staatsorganen. Ferner wurde mit der Verfassung von 1997 die Möglichkeit der Individualklage eingeführt, die "Jedermann", also nicht nur polnischen Staatsbürgern, zusteht. Der Verfassungsgerichtshof kann außerdem die Recht setzenden Organe auf Rechtswidrigkeiten und Lücken im Recht hinweisen, deren Beseitigung zur Sicherung der Kohärenz des polnischen Rechtssystems notwendig ist.

Das Verfassungsgericht besteht aus 15 Richtern, die vom Sejm auf neun Jahre gewählt werden, und zwar nur mit absoluter Mehrheit bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der gewählten Abgeordneten. Damit liegt für die jeweilige Parlamentsmehrheit die Versuchung nahe, die Zusammensetzung der Verfassungsrichter in ihrem Sinne zu gestalten. Während der PiS-geführten Regierungen von 2005 bis 2007 warfen Vertreter der Regierungsparteien dem Verfassungsgericht nach der Annullierung von Gesetzen mehrfach vor, es handle wie eine dritte Parlamentskammer, die immer zu Gunsten der Opposition wirke. Jaroslaw Kaczynski hatte sich, bereits bevor er Regierungschef wurde, dafür ausgesprochen, bei freiwerdenden Stellen die Verfassungsrichter so auszuwählen, "dass die Urteile für die (PiS-) Regierung günstiger ausfallen". Das Ergebnis der vorgezogenen Neuwahlen des Parlaments vom Oktober 2007 beendete vorerst die Möglichkeiten für PiS, die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofs in ihrem Sinne weiter zu verändern. Anders als andere Instanzen der Justiz und staatliche Einrichtungen hat der Verfassungsgerichtshof auch in der Öffentlichkeit an Ansehen gewonnen.

Während kein Zweifel besteht, dass Polen heute ein Rechtsstaat ist, mehren sich in der Öffentlichkeit, aber auch in Fachkreisen, Klagen über eine "Krise der Rechtspflege". Diese äußert sich in einer extrem langen Dauer von Gerichtsverfahren, in einer vergleichsweise geringen Zahl von Rechtsanwälten, die von Standesvertretern bewusst niedrig gehalten werden soll, damit die Honorare auf relativ hohem Niveau gehalten werden können, in einer schlechten personellen und materiellen Ausstattung der Gerichte und nicht zuletzt in immer wieder zu hörenden Korruptionsvorwürfen.

Die Verfassung sieht des Weiteren ein vom Sejm in jeder Amtszeit neu bestelltes Staatstribunal vor, vor dem Politiker und hohe Funktionsträger angeklagt werden können, wenn sie in ihrer Tätigkeit gegen Verfassung und Gesetzgebung verstoßen. Bereits 1980 wurde ein Oberstes Verwaltungsgericht geschaffen, das erst 1997 Verfassungsrang erhielt und seit 2004 als Unterbau Verwaltungsgerichte auch auf Woiwodschafts-ebene besitzt. Durch die Verwaltungsgerichte werden auch Entscheidungen der Staatsverwaltung gerichtlicher Kontrolle unterworfen und strittige Verwaltungsvorschriften geklärt.

Parteiensystem

Zu den Schwachpunkten der Entwicklung des politischen Systems seit 1989 zählt wie in anderen ostmitteleuropäischen Staaten das Parteiensystem, das in Polen durch eine besonders große Fluktuation gekennzeichnet ist. Die beiden einzigen Parteien, die seit den ersten freien Wahlen von 1991 bis heute im Sejm vertreten sind, sind die "gewendeten" Postkommunisten (SLD, Allianz der Demokratischen Linken) und ihr früherer Satellit, der sich seit 1990 PSL (Polnische Bauernpartei) nennt. Die übrigen Parteien entstammen fast durchweg der Solidarnosc, haben aber teilweise mehrfache Wandlungsprozesse hinter sich. Eine Besonderheit des polnischen Parteiensystems im europäischen Vergleich zeigt sich in der Rechts-Links-Einteilung der Parteien, bei der weltanschauliche Kriterien über wirtschaftspolitische dominieren: Während so definierte "rechte" Parteien eher ein Eingreifen des Staates in die Wirtschaft verlangen, vertreten wichtige Kreise der linken Allianz SLD sehr wohl marktwirtschaftliche Positionen.

In der SLD sammelten sich alte Parteikader, aber auch von der Insider-Privatisierung Ende der 1980er Jahre profitierende Angehörige des Business sowie Mitglieder der früher parteinahen Gewerkschaft OPZZ, so dass die SLD fast zu einer Art "linker Volkspartei" wurde, die konsequent die Integration Polens in die EU befürwortete. Die Bildung bedeutungsloser linksextremer Kleingruppen, in denen sich die Verteidiger der alten Ordnung sammelten, erleichterte die Entwicklung der SLD zu einer sozialdemokratischen/sozialistischen Partei. Sie steigerte sich von zwölf Prozent 1991 kontinuierlich auf bis zu 41 Prozent (gemeinsam mit ihrem sich vor allem aus der linken Solidarnosc herleitenden, gegenüber der Marktwirtschaft kritischer eingestellten Juniorpartner Arbeitsunion/UP) in den Wahlen von 2001. Bereits 1993–97 konnte die SLD mit der PSL die Regierung bilden. Nach den Korruptionsaffären und Skandalen der SLD-geführten Regierung Miller (2001–04) verlor sie einen Teil der an sozialstaatlicher Hilfe orientierten Wählerschaft an die PiS und brach bei den Wahlen 2005 auf 11,3 Prozent ein. Seither stagniert sie auf etwa diesem Niveau. SLD und UP sind seit den 1990er Jahren Mitglieder der Sozialistischen Internationale und Teil der sozialistischen Fraktion des Europaparlaments.

Die Wahlen von 1991 waren unter einem Wahlsystem durchgeführt worden, das kleine Parteien extrem begünstigte, so dass 29 Parteien in das Parlament einzogen, darunter elf mit nur einem Mandat. Die Auswirkungen der daraufhin erlassenen Fünf-Prozent-Klausel überraschten vor allem Politiker der politischen Rechten, deren Gruppierungen bei den Wahlen 1993 in großer Zahl unter fünf Prozent blieben, so dass insgesamt mehr als 35 Prozent der gültigen Stimmen bei der Sitzverteilung unberücksichtigt blieben. Dies veranlasste den Vorsitzenden der Gewerkschaft Solidarnosc, Marian Krzaklewski, 1996 ein Wahlbündnis "Wahlaktion Solidarnosc" (AWS) zu initiieren, das wichtige 1993 gescheiterte Gruppierungen umfasste. Die AWS siegte 1997 mit 33,5 Prozent und stellte mit Jerzy Buzek den Ministerpräsidenten. Doch erwies sich die AWS als so heterogen, dass ihre Führung nicht in der Lage war, die auseinander driftenden Flügel zu integrieren, und die AWS selbst an der Rückkehr in den Sejm scheiterte.

Bei den Sejm-Wahlen 2001 schafften vier Parteien erstmals den Einzug ins Parlament, darunter drei erst wenige Monate zuvor gegründete. Aus Teilen der ebenfalls in der Bedeutungslosigkeit versinkenden Freiheitsunion (UW), der führende Intellektuelle der Solidarnosc wie Mazowiecki und Geremek angehört hatten, sowie Teilen der AWS bildete sich die liberal-konservative, betont proeuropäische Bürgerplattform (PO) mit Donald Tusk an der Spitze. Ebenfalls aus der AWS leitete sich ein Großteil des Führungspersonals der national-konservativen law and order-Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) unter den Zwillingsbrüdern Jaroslaw und Lech Kaczynski her. Mit PO (12,7 Prozent) und PiS (9,5 Prozent) nahm das rechte Parteienspektrum eine neue Gestalt an. Mit dem Niedergang der SLD profilierten sich PO und PiS als die beiden wichtigsten Parteien. Als neue Partei gelangte 2001 die im gleichen Jahr gegründete national-klerikale, fremdenfeindliche und anti-europäische Liga der Polnischen Familien (LPR, 7,9 Prozent) ins Parlament. Ihre führende Persönlichkeit ist der Anwalt Roman Giertych, der unter anderem durch homophobe Äußerungen bekannt wurde. Mit 10,2 Prozent schaffte auch die seit 1993 bestehende populistische Bauernpartei Samoobrona (Selbstverteidigung) unter der Führung des charismatischen, aber unberechenbaren Andrzej Lepper den Einzug in den Sejm.

Das neue Parteiengesetz von 1997 erhöhte die Anforderungen an die Parteien bezüglich innerparteilicher Demokratie und Transparenz im finanziellen Bereich. Zugleich wurde eine Erstattung von Wahlkampfkosten eingeführt, in deren Genuss aber nur diejenigen Parteien kommen, die ins Parlament gelangen. Darüber hinaus erhalten in Abhängigkeit vom Ergebnis der letzten Sejm-Wahlen diejenigen Parteien, die mehr als drei Prozent der gültigen Stimmen erhielten, direkte staatliche Zuwendungen. Diese Regelungen erschweren den politischen Wettbewerb und verleihen den etablierten Parteien den Status von Kartellparteien. Bis heute profitieren die "gewendeten" Parteien SLD und PSL von ihrer aus der realsozialistischen Zeit übernommenen, wenn auch "verschlankten" Parteiorganisation. Als mitgliederstärkste Partei galt Anfang 2010 die im ländlichen Raum vor allem im Südosten und Osten stark präsente PSL mit 128 000 Mitgliedern. Die PO zählte 45 000 Mitglieder, während die 22 000 Mitglieder von PiS offenbar nicht einmal ausreichen, flächendeckend eine Parteiorganisation bis auf Kreisebene sicherzustellen.

Propagierung einer "Vierten Republik"

Im September 2005 gewann PiS die Sejm-Wahlen, im Oktober siegte PiS-Kandidat Lech Kaczynski bei den Präsidentschaftswahlen. Nach diesem doppelten Wahlsieg und erst recht, nachdem Jaroslaw Kaczynski im Juni 2006 selbst das Amt des Regierungschefs übernommen hatte, versuchte PiS mit seinen ungleichen Koalitionspartnern Samoobrona und LPR, eine "Vierte Republik" durchzusetzen. Hinter diesem Schlagwort stand der Vorwurf, dass die Vertreter der Opposition am Runden Tisch gemeinsame Sache mit den Repräsentanten des kommunistischen Regimes gemacht und diesen das politische Überleben und eine wirtschaftliche Bereicherung ermöglicht hätten. Einige Schwachstellen des gegenwärtigen politischen Systems wie Korruption oder die unterlassene Entfernung von früheren Spitzenpolitikern und Mitarbeitern des Geheimdienstes aus Führungspositionen wurden durchaus richtig erkannt, es folgte jedoch eine teilweise ausgesprochen ungeschickte Umsetzung in die Praxis. So wurde es etwa tendenziell nicht dem Staat auferlegt, individuelle Vergehen nachzuweisen, sondern im Gegenteil, dem grundsätzlich "verdächtigen" Individuum, seine Unschuld zu belegen. Staatliche Institutionen, insbesondere die Exekutive, sollten gestärkt und der Staat "von oben her" erneuert werden, bei gleichzeitigem Misstrauen gegenüber der Zivilgesellschaft und Initiativen "von unten".

Zugleich wurde verstärkt eine "Geschichtspolitik" propagiert. Dieser lag die Prämisse zugrunde, dass die historischen Leistungen und Leiden Polens im In- und Ausland nicht hinreichend gewürdigt würden und von staatlicher Seite daher eine angemessene Darstellung gefördert werden müsse. Hintergrund dieser Propagierung von "Geschichtspolitik" war zum einen, dass einer breiteren polnischen Öffentlichkeit die Ermordung der jüdischen Bewohner des Dorfes Jedwabne durch polnische Mitbewohner im Jahr 1941, kurz nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion, bekannt wurde. Fachleuten waren diese Fakten schon länger bekannt gewesen. Entgegen dem verbreiteten Selbstbild waren Polen also nicht nur Opfer, sondern in diesem Fall auch Täter gewesen. Andererseits fiel in diese Phase der Verunsicherung der polnischen Öffentlichkeit eine stärkere Beschäftigung der Deutschen mit deutschen Opfern des Zweiten Weltkriegs, was in Polen als eine Neubewertung der Geschichte gesehen wurde, in der aus den Tätern Opfer würden. Die Betonung der positiven Seiten der polnischen Geschichte durch die "Geschichtspolitik" sollte der Gesellschaft ein grundsätzlich positives Bild der eigenen Nation vermitteln, wurde von Gegnern aber als Ausblenden problematischer Punkte der polnischen Geschichte kritisiert.

QuellentextStreit um das Erbe der Solidarnosc

Was ist übrig geblieben von der einst so starken, progressiven Solidarnosc und ihrem Willen zur Selbstverwaltung der Fabriken?
[...] Zbyszek Kowalewski – in den achtziger Jahren ein Theoretiker der Taktik des "Aktiven Streiks", bei dem Arbeiter durch Betriebsbesetzungen die Produktion selbst übernehmen sollten – war maßgeblich an der Niederschrift des Selbstverwaltungsprogramms der Solidarnosc beteiligt, das dem I. Delegiertenkongress im Herbst 1981 vorlag. Es skizzierte eine Alternative zu Real-Sozialismus und Kapitalismus. Arbeiterräte sollten die Betriebe leiten und in einer speziellen Kammer des Parlaments repräsentiert sein – Betriebsdirektoren durch die Belegschaften gewählt werden. Doch ein Referendum darüber kam durch das im Dezember 1981 verhängte Kriegsrecht nie zustande. […] 1988 flammten Streiks und Proteste zum letzten Mal in der Volksrepublik auf, wurden aber von den Eliten der Bewegung abgewürgt, um mit der Nomenklatura der regierenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) am Runden Tisch verhandeln zu können. In den Jahren danach wurde aus dem Elektriker Walesa ein Präsident, avancierten andere Solidarnosc -Sprecher zu Politikern, Bankdirektoren und Unternehmern. Es verwundert kaum, dass die einstigen Protagonisten heute dermaßen zerstritten sind. [...]
Für die von Radio Maryja behüteten Verlierer der "Wende" ist jede marxistische Analyse der Niederlage ein Werk des Teufels. Für die Entfremdung der Solidarnosc -Funktionäre von der Basis in den Jahren des Kriegszustandes behilft sich der Sender mit verschwörungstheoretischen Erklärungsmustern, versehen mit mehr als einem Hauch Katholizismus, Russophobie und Antisemitismus. […] Durch das Geschichtsbild von Radio Maryja geistert ein Walesa, der als Agent der polnischen Staatssicherheit im August 1980 mit einem Motorboot des Geheimdienstes in die Lenin-Werft kam, um den Streik zu beenden. Er sei nicht wie behauptet über das Tor gesprungen. [...] Zu Anhängern dieser Lesart der Geschehnisse vom August 1980 gehört auch Andrzej Gwiazda [...]. Für ihn wie andere ist unstrittig, nicht der Kapitalismus ist der Grund ihrer Niederlage – Walesa sei als IM Bolek im Verein mit antipolnischen Mächten an allem schuld. Lech Kaczynski hat diese Arbeiterkämpfer aus frühen Solidarnosc-Jahren für sein Projekt der sogenannten IV. Republik rekrutiert. Gerade deshalb empfindet sein Anhang den Absturz von Smolensk als weiteren Beleg für eine antipolnische Verschwörung, deren Drahtzieher laut Radio Maryja "die Juden" und "die Kommunisten" sind. [...] Kein Wunder, dass die heutige Solidarnosc nur ein Zombie ist, der mit den Kämpfen von einst kaum etwas zu tun hat.

Kamil Majchrzak, "Sich selbst verloren", in: der Freitag Nr. 34 vom 26. August 2010

Regierungswechsel 2007

Die Überbetonung eng verstandener "nationaler Interessen" diskreditierte die PiS-Regierung nach außen, vor allem in der EU, was zusammen mit den zunehmend autoritären Tendenzen im Innern die Gegner von PiS mobilisierte. Nachdem Lepper (als Vize-Premierminister) mit provokantem Verhalten Premierminister Kaczynski zur Auflösung der Koalition veranlasste, konnte PiS bei vorzeitigen Neuwahlen im Oktober 2007 zwar an Stimmen hinzugewinnen (32,1 Prozent), jedoch zu Lasten der Koalitionspartner, die weit unter der Fünf-Prozent-Hürde blieben (1,5 und 1,3 Prozent) und politisch keine Rolle mehr spielen. Klarer Wahlsieger wurde die PO (41,5 Prozent), die mit der PSL (8,9 Prozent) eine Koalitionsregierung mit Donald Tusk als Premierminister bildete. Ebenfalls im Sejm vertreten ist die SLD, die mit drei weiteren kleinen Gruppen auf 13,1 Prozent kam.

Nach dem Tod von Präsident Lech Kaczynski, der für seine EU-skeptische Haltung nur beim tschechischen Präsidenten Vacláv Klaus Unterstützung fand, hat die polnische Gesellschaft, in der 2010 eine Mehrheit von 88 Prozent die Mitgliedschaft in der EU befürwortete, mit Bronislaw Komorowski einen für die europäische Integration eintretenden Präsidenten und eine proeuropäische Koalitionsregierung unter Premierminister Tusk, deren Parteien PO und PSL Mitglieder der Europäischen Volkspartei sind. Interne Auseinandersetzungen in der PiS nach der Niederlage von Jaroslaw Kaczynski bei den Präsidentschaftswahlen haben im November 2010 zur Abspaltung einer 15 Sejm- und drei EU-Abgeordneten starken Gruppe geführt, die Kaczynskis Wahlkampf-Slogan "Polen ist das Wichtigste" (PJN) als Namen gewählt hat.

Prof. Klaus Ziemer lehrt an der Universität Trier Politikwissenschaft und Neuere und Osteuropäische Geschichte. Von 1998-2008 war er Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Warschau.