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Politische Strafjustiz in Deutschland | Kriminalität und Strafrecht | bpb.de

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Politische Strafjustiz in Deutschland

Heribert Ostendorf

/ 16 Minuten zu lesen

Politische Justiz entscheidet in Abhängigkeit von politischen Einflüssen. Sie bestraft Menschen nicht wegen konkreter Straftaten, sondern wegen ihrer Gesinnung. Politische Opposition wird mit Strafrecht bekämpft, Straftaten der eigenen Gesinnungsleute werden kaschiert.

Politische Justiz in der Weimarer Republik

In der Weimarer Republik gab es eine politische Justiz, die "auf dem rechten Auge blind" war, um mit dem linken umso schärfer hinzusehen. Bezeichnend für die Nachsicht gegen rechts ist der Prozess gegen Adolf Hitler und weitere Angeklagte wegen des Putschversuchs am 8./9. November 1923 in München, als Hitler und General Erich Ludendorff versuchten, in Bayern die Macht an sich zu reißen und mit einem Marsch auf Berlin die Regierung Stresemann zu stürzen. Die Anklage lautete auf Hochverrat: "Die Beschuldigten haben, gestützt auf die bewaffneten Machtmittel des Kampfbundes und die bewaffnete Macht der Infanterieschulen, es unternommen, die bayerische Regierung und die Reichsregierung gewaltsam zu beseitigen, die Reichsverfassung und die des Freistaates Bayern gewaltsam zu ändern und verfassungswidrige Regierungsgewalten aufzurichten."

Die Angeklagten – neben Hitler und General Ludendorff der ehemalige Münchener Polizeipräsident Ernst Pöhner, der spätere Reichsinnenminister Wilhelm Frick und sechs Führer des "Deutschen Kampfbundes", darunter Ernst Röhm – konnten die Verhandlung als Forum für ihre Hetze gegen die Republik und ihre Repräsentanten ohne ernsthafte Zurückweisungen durch das Gericht nutzen. Das Urteil fiel außerordentlich milde aus. Hitler wurde zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, gleichzeitig wurde ihm schon im Gerichtssaal die Bewährung nach Verbüßung von sechs Monaten in Aussicht gestellt. Die Bestimmung des Republikschutzgesetzes, wonach Nichtdeutsche, die wegen Hochverrats verurteilt wurden, auszuweisen waren, wurde auf Hitler, der zu diesem Zeitpunkt noch österreichischer Staatsbürger war, nicht angewandt. Die Begründung lautete: "Auf einen Mann, der so deutsch denkt und fühlt wie Hitler [...] kann nach Auffassung des Gerichts die Vorschrift [...] des Republikschutzgesetzes [...] keine Anwendung finden." Am 14. Dezember 1924 wurde Hitler aus der Festungshaft entlassen und konnte seinen Kampf um die Macht fortsetzen.
Ungleich härter urteilte die Justiz im Prozess gegen den späteren (1936) Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky im Jahr 1931. Ossietzky hatte als Herausgeber und Schriftleiter der "Weltbühne" einen Aufsatz drucken lassen, in dem auf eine militärische Aufrüstung in der deutschen Luftfahrt und die Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Sowjetunion entgegen den Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages hingewiesen wurde. Daraufhin wurde er gemeinsam mit dem Autor des Artikels wegen Verrats militärischer Geheimnisse zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, obwohl sie lediglich Verstöße gegen den Versailler Vertrag aufgedeckt hatten.

In der Weimarer Republik misst eine politische Justiz mit zweierlei Maß: Während Adolf Hitler für seinen Putschversuch von 1923 vergleichsweise milde bestraft wird, wird der Journalist Carl von Ossietzky (Bild rechts, flankiert von seinen Rechtsanwälten) 1931 wegen Verrats militärischer Geheimnisse verurteilt, obwohl er lediglich Verstöße gegen den Versailler Vertrag aufgedeckt hatte. (© Interfoto / Institut für Zeitgeschichte)



Am 28. Februar 1933, am Morgen nach dem Reichstagsbrand, als die Nationalsozialisten die Gelegenheit nutzten, zielgerichtet Regimegegner auszuschalten, wurde der engagierte Pazifist und Demokrat Carl von Ossietzky erneut verhaftet und später ins Konzentrationslager (KZ) gebracht.

Pressezeichnung (vom 4. März 1924) vom Prozess gegen Adolf Hitler für seinen Putschversuch im Jahr 1923 - eines der wenigen erhaltenen Originaldokumente des Prozesses (© SZ Photo / Süddeutsche Zeitung Photo)

NS-Diktatur: Perversion des Rechts

Jede Diktatur sucht den Schein der Legalität. Zwangsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung der Macht werden deshalb von diktatorischen Regimen in Gesetzesform gekleidet. Auch die NS-Diktatur ging diesen Weg, wobei letztlich selbst der "Führerbefehl" mit der Legitimität eines Gesetzes verklärt wurde. Dieses Instrument erlaubte es Hitler, Anordnungen zu erlassen, die "über dem Gesetz" standen und unmittelbar gültig waren.

Schon in seinem Rechenschaftsbericht über die Niederschlagung des angeblichen Röhm-Putsches, die mit der Ermordung von etwa 100 SA-Führern und politischen Gegnern verbunden war, hatte er vor dem Reichstag gerufen: "In dieser Stunde war ich verantwortlich für das Schicksal der deutschen Nation und damit des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr." Der Führer der 300.000 Mann starken SA, Ernst Röhm, wurde von Hitler als Rivale um die Macht im Staate empfunden. Deshalb benutzte Hitler einen angeblich bevorstehenden Putsch Röhms Ende Juni 1934, um die SA zu zerschlagen und ihre Führung wie auch andere missliebige Persönlichkeiten – ohne jedes Verfahren – ermorden zu lassen. Mit dem "Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr" vom 3. Juli 1934 – einen Tag nach Abschluss der Mordaktionen verabschiedet – wurden diese Straftaten für "rechtens" erklärt, um, wie Hitler vor dem Kabinett behauptete, "eine Aktion zu legalisieren, durch die das ganze Volk vor unermeßlichem Schaden bewahrt worden" sei. Durch Reichstagsbeschluss vom 26. April 1942 ließ Hitler sich schließlich zum obersten Gerichtsherrn ernennen.

Die Nationalsozialisten schienen dennoch zunächst bestrebt, die Fassade des Rechtsstaates aufrechtzuerhalten. Sie schränkten Gesetz und Recht nur dort ein – beziehungsweise umgingen sie durch Sondergerichte –, wo sie einer Verfolgung ihrer Gegner im Wege standen. So wurde der vermeintliche Brandstifter des Reichstages, Marinus van der Lubbe, auf der Basis eines Gesetzes zum Tode verurteilt, das erst nach der Tat erlassen wurde. Damit wurde der rechtsstaatliche Grundsatz "nulla poena sine lege" (lat.: keine Strafe ohne ein Gesetz) aufgegeben.

Bereits im März 1933 wurde das "Gesetz zur Abwehr heimtückischer Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniform" (verschärft im Dezember 1934) erlassen, nach dem jeder, der "öffentlich gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen" über die NSDAP, den Staat oder Hitler machte, mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft werden konnte.

Das Gestapo-Gesetz vom 10. Februar 1936 beseitigte schließlich formal jede gerichtliche Kontrolle staatspolizeilicher Aktionen und stellte es der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) frei, ihren Zuständigkeitsbereich selbst festzulegen. Zum Beispiel konnten nun unliebsame Personen auch nach Entlassung aus der Justizhaft durch die Gestapo in ein KZ eingewiesen werden. Damit war der Rechtsschutz des Individuums aufgehoben. Führende deutsche Juristen wie Carl Schmitt (1888–1985) gaben sich dazu her, diese schon frühzeitige Pervertierung des Rechts staatsrechtlich zu legitimieren.

Deutlicher wurden die Nationalsozialisten bei der Diskriminierung der Juden und deren totaler Entrechtlichung, auch wenn sie sich bemühten, geheim zu halten, dass sie die jüdische Bevölkerung in Konzentrationslager verschleppen und dort systematisch ermorden ließen. Ähnliches galt für die Verfolgung anderer Gruppen wie beispielsweise Behinderte, Homosexuelle sowie Sinti und Roma. Das Recht war eingebunden in die NS-Ideologie als Mittel zum Zweck. Recht war, was angeblich dem Volke nutzte; den Nutzen bestimmte der Diktator bzw. das Regime.

Gustav Radbruch (Reichsjustizminister 1921/22 und 1923) brandmarkte derartige Gesetze im Jahre 1946 als "gesetzliches Unrecht". Demgegenüber hat er das "übergesetzliche Recht" gefordert und damit anerkannten Menschenrechten Vorrang eingeräumt. Auf ähnlicher Grundlage ergingen auch in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen die Urteile wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Vom internationalen Militärtribunal in Nürnberg wurden 1946 führende Nationalsozialisten, aber auch verbrecherische Organisationen wie SS, Gestapo und NSDAP verurteilt. Zwischen 1946 und 1949 fanden in Nürnberg vor amerikanischen Militärgerichten weitere zwölf Prozesse gegen politische, gesellschaftliche und militärische Führungsgruppen des NS-Regimes statt.

Todesurteile
Die NS-Unrechtsgesetze wurden von der Strafjustiz willfährig und extensiv angewendet – und das nicht nur gegen "gewöhnliche" Straftäter. Insbesondere das politische Straf-"Recht" diente als Mittel zur Unterdrückung jeglicher Opposition. Sowohl der Volksgerichtshof, 1934 eingerichtet, wie auch die Sondergerichte und die Kriegsgerichte wurden so zu Instrumenten des Terrors. Die Sondergerichte wurden bereits im März 1933 eingesetzt. Sie waren zunächst gegen politische Gegner gerichtet; später (1938/39) wurde ihr Aufgabenbereich auf die schwere und mittlere Kriminalität ausgeweitet. Über die Anzahl der von der NS-Justiz gefällten Todesurteile hat es einen jahrelangen politischen Streit gegeben. Gezählt wurden zunächst nur die Todesurteile in der Ziviljustiz.

QuellentextTodesurteil des Volksgerichtshof

In der Strafsache gegen die Kranführersfrau Emma Hölterhoff,
geb. Maass, aus Erkheim über Memmingen, geboren am 28. Mai 1904 in Homberg (Niederrhein), zur Zeit in dieser Sache in gerichtlicher Untersuchungshaft, wegen Wehrkraftzersetzung, hat der Volksgerichtshof, Bes. Senat, auf Grund der Hauptverhandlung vom 8. November 1944, an welcher teilgenommen haben

als Richter:
Präsident des Volksgerichtshofs Dr. Freisler, Vorsitzender, Volksgerichtsrat Dr. Greulich, Generalmajor der Landespolizei a. D. Meißner, SA-Gruppenführer Aumüller, Reichshauptamtsleiter Giese, als Vertreter des Oberreichsanwalts: Oberstaatsanwalt Dr. Weisbrod,

für Recht erkannt:
Frau Emma Hölterhoff sagte im vierten Kriegsjahr zu Soldaten, sie sollten an der Front das Gewehr wegschmeißen und sich tot stellen. Sie hat also unsere Wehrmacht zu zersetzen gewagt, ist damit für immer ehrlose Magd unserer Feinde geworden und wird dafür mit dem Tode bestraft.

Gründe:
Frau Emma Hölterhoff ist eine etwa 40-jährige Frau, Mutter von vier Kindern, die ihren Mann, wie sie sagt, auch schon seit vier Jahren draußen hat.
Bei einem Bombenangriff auf Homberg am Niederrhein, ihren Wohnort, konnte sie zwar all ihr Hab und Gut, nämlich die Einrichtung, Wäsche und anderes retten, mußte aber doch in die Gegend von Memmingen evakuiert werden, weil das Haus, in dem sie wohnte, beschädigt und nicht mehr bewohnbar war.
Im Januar des vierten Kriegsjahres saß sie in der Wohnküche der Familie Goll, bei der sie als Evakuierte wohnte, mit Frau Goll beim Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel. Im Zimmer war der Sohn der Frau Goll, der gerade vom Reichsarbeitsdienst entlassen war, und außerdem außer zwei anderen jungen Burschen auch der Grenadier Vg. ("Volksgenosse") Arnold Häring, der gerade auf seinem ersten Urlaub zu Hause war.
Das Gespräch kam auf den Krieg, und Frau Emma Hölterhoff sagte nun, wie die Vgn. Arnold Häring und Hans Goll übereinstimmend bekunden, dem Sinne nach: Ihr seid dumm; wenn ich hinauskäme, ich würde das Gewehr wegwerfen und mich totstellen. Beide Zeugen haben im Vorverfahren weiter bekundet, daß sie außerdem unseren Führer schwer beschimpfte und daß sie ihrer Aufforderung an die jungen Burschen, darunter den Soldaten, den Satz hinzugefügt habe: "Wenn mein Mann hinauskommen würde, würde er es genau so machen."
Diese Beschimpfung des Führers und diesen letzten Satz bestreitet Frau Hölterhoff. Es ist zwar bestimmt anzunehmen, daß sie das auch gesagt hat, denn sonst würden es beide Volksgenossen nicht bekunden. Aber es war nicht notwendig, um dieser Feststellung willen, die beiden Volksgenossen die weite Reise hierher machen zu lassen und die Bahn damit zu belasten, weil ja Frau Hölterhoff den Kern ihrer Äußerungen selbst eingesteht. Und dieser Kern enthält auch bereits eine Aufforderung an den Soldaten und an den, der bald Soldat werden mußte, so zu handeln. [...]
Die Frau Verteidigerin legte Wert darauf, hervorzuheben, die Angeklagte sei doch primitiv. Die Frage, ob man so etwas tun darf, ist aber nicht eine Frage der Einfachheit oder Geschultheit des Wissens, sondern ist die Frage nach der Anständigkeit der Gesinnung und der Treue. Und die hat mit Wissen oder Primitivität nichts zu tun.
Wer so wie die Angeklagte redet, selbst wenn sie es nur ein einziges Mal getan haben sollte, der hat sich damit würdelos und für immer ehrlos zur Magd unserer Kriegsfeinde degradiert [...].
Wer aber derart zersetzend Agent unserer Kriegsfeinde wird, den müssen wir aus unserer Mitte entfernen. Denn sein Verhalten ist eine ungeheure Gefahr für unser kämpfendes Volk und damit für unseren Sieg, also für unser Leben und unsere Freiheit. In solchem Falle gilt es, nachdem die Tat einwandfrei feststeht, bei der Bemessung der erforderlichen Strafe ganz auf das Schutzbedürfnis Deutschlands zu sehen. Und dieses fordert, um eine Entwicklung wie im Ersten Weltkrieg nicht wieder aufkommen zu lassen, die Todesstrafe.
Weil Frau Emma Hölterhoff verurteilt ist, muß sie auch die Kosten tragen.

gez.: Dr. Freisler, Dr. Greulich

Zitiert nach Helmut Ortner, Der Hinrichter. Roland Freisler – Mörder im Dienste Hitlers, Wien 1993, S. 214 ff.

Urteile des Volksgerichtshofs (© bpb)

Doch mittlerweile werden auch die Todesurteile, die gerade in den letzten Kriegsmonaten zunehmend ausgesprochen und vollstreckt wurden, als Unrecht der NS-Justiz angesehen. Diese ist somit verantwortlich für die Hinrichtungen von tausenden Soldaten, die von Militär- und Standgerichten der Wehrmacht angeordnet wurden. Historiker gehen von mehr als 16.000 Todesurteilen der zivilen Strafgerichte und von weit über 30.000 Todesurteilen der militärischen Strafgerichte aus. Aus den Gefängnissen und Zuchthäusern wurden zusätzlich 15.000 bis 20.000 Justizhäftlinge "zur Vernichtung durch Arbeit" in die Konzentrationslager überstellt. Die Todesstrafe wurde keineswegs nur gegen Schwerkriminelle, sondern im Gegenteil ganz überwiegend wegen regimefeindlicher Taten und sogar allein wegen regimefeindlicher Äußerungen verhängt.

Nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges versuchten die Alliierten auch mit juristischen Mitteln, das NS-Unrecht aufzuarbeiten und Verantwortliche vor Gericht zu stellen. Nach dem Hauptkriegsverbrecherprozess wurden in Nürnberg Nachfolgeprozesse gegen Berufsgruppen geführt, die sich in besonderer Weise an der NS-Diktatur beteiligt hatten. Das Fazit des amerikanischen Militärgerichtshofs im sogenannten Juristenprozess, der vom 4. Januar bis 4. Dezember 1947 dauerte und sich mit den Juristen des Dritten Reiches beschäftigte, lautet: "Die Angeklagten sind solch unermesslicher Verbrechen beschuldigt, dass bloße Einzelfälle von Verbrechenstatbeständen im Vergleich dazu unbedeutend erscheinen. Die Beschuldigung, kurz gesagt, ist die der bewussten Teilnahme an einem über das ganze Land verbreiteten und von der Regierung organisierten System der Grausamkeit und Ungerechtigkeit unter Verletzung der Kriegsgesetze und der Gesetze der Menschlichkeit, begangen im Namen des Rechts und unter der Autorität des Justizministeriums mit Hilfe der Gerichte. Der Dolch des Mörders war unter der Robe des Juristen verborgen."

Ausschaltung der Justiz
Von dem deutsch-amerikanischen Juristen und Politologen Ernst Fraenkel (1898–1975) stammt die Klassifizierung des NS-Staates in "Maßnahmenstaat" und "Normenstaat". Im "Normenstaat" wurde, laut Fraenkel, eine rechtsstaatliche Fassade aufrechterhalten, in der die Justiz unter Hinweis auf vom Staat erlassene Gesetze (Normen) urteilte und damit nach 1945 auch ihre "Unrechtsurteile" rechtfertigte.

Mit dem Begriff "Maßnahmenstaat" bezeichnete Fraenkel die Beseitigung dieser rechtsstaatlichen Fassade im NS-Staat. Jedes Handeln außerhalb der weiterhin bestehenden Normen gegen von den Nationalsozialisten als Regimefeinde klassifizierte Menschen war erlaubt. So wurden bestimmte staatliche Unrechtsmaßnahmen der justiziellen Kontrolle entzogen. Dies galt insbesondere für die Verhängung der "Schutzhaft", also die Einweisung in die Konzentrationslager, und für die Verfolgungspraxis, die in den Lagern herrschte. Der Holocaust fand außerhalb des Rechtssystems statt. Mit der "Euthanasie-Konferenz" vom 23./24. April 1941 wurden die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte auf die Nichtverfolgung der Mordaktionen an Behinderten und Kranken eingeschworen. Eine strafgesetzliche Kontrolle wurde ausgeschlossen.

Im Zusammenhang mit den Weisungen zum Russland-Feldzug wurde ebenfalls jede Art von Rechtsschutz untersagt. So heißt es im Kriegsgerichtsbarkeitserlass im Rahmen des "Unternehmens Barbarossa", dem Decknamen des deutschen Feldzugsplans gegen die Sowjetunion, vom 13. Mai 1941: "Straftaten feindlicher Zivilpersonen sind der Zuständigkeit der Kriegsgerichte und der Standgerichte bis auf weiteres entzogen. Freischärler sind durch die Truppe im Kampf oder auf der Flucht schonungslos zu erledigen. Auch alle anderen Angriffe feindlicher Zivilpersonen gegen die Wehrmacht, ihre Angehörigen und das Gefolge sind von der Truppe auf der Stelle mit den äußersten Mitteln bis zur Vernichtung des Angreifers niederzukämpfen [...]. Es wird ausdrücklich verboten, verdächtige Täter zu verwahren, um sie bei Wiedereinführung der Gerichtsbarkeit über Landeseinwohner an die Gerichte abzugeben."

Im sogenannten Kommissarbefehl vom 6. Juni 1941 wird ausdrücklich auf den völkerrechtswidrigen Ausschluss jedes rechtlichen Schutzes hingewiesen: "Die Truppe muß sich bewußt sein: [...] in diesem Kampf ist Schonung und völkerrechtliche Rücksichtnahme diesen Elementen gegenüber" – gemeint sind die politischen Kommissare der Roten Armee – "falsch. [...] Die Urheber barbarisch-asiatischer Kampfmethoden sind die politischen Kommissare. [...] Sie sind daher, wenn im Kampf oder Widerstand ergriffen, grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen. [...] Sie sind aus den Kriegsgefangenen sofort, das heißt noch auf dem Gefechtsfelde, abzusondern. [...] Diese Kommissare werden nicht als Soldaten anerkannt; der für die Kriegsgefangenen völkerrechtlich geltende Schutz findet auf sie keine Anwendung. Sie sind nach durchgeführter Absonderung zu erledigen."

Das Pendant für die besetzten westlichen Länder Belgien, Niederlande, Frankreich und Norwegen (sowie auch für Böhmen, Mähren und die Ukraine) war das sogenannte Nacht- und Nebelverfahren. Nach dem Geheimerlass Wilhelm Keitels als Chef des Oberkommandos der Wehrmacht vom 12. Dezember 1941 und den entsprechenden Richtlinien wurden auf Anordnung Hitlers alle Angriffe gegen das Reich und die deutschen Truppen in diesen besetzten Gebieten grundsätzlich, das heißt bei augenscheinlicher Überführung, mit der sofortigen Hinrichtung beantwortet. Ansonsten wurde der Verdächtige in das "Altreich" verschleppt, wobei zur Abschreckung die Angehörigen bewusst über dessen Schicksal im Ungewissen gehalten wurden. Über das anschließende Verfahren vor den Militärgerichten beziehungsweise den zivilen Sondergerichten urteilte der amerikanische Militärgerichtshof im Nürnberger Juristenprozess wie folgt: "Die Verhandlungen gegen die Angeklagten hielten nicht einmal den Schein einer fairen Verhandlung oder Rechtsanwendung aufrecht."

Schließlich wurde durch den sogenannten Terror- und Sabotageerlass vom 30. Juli 1944 angeordnet, dass "Terroristen" und Saboteure in den besetzten Gebieten nicht vor ein Kriegsgericht zu stellen, sondern an Ort und Stelle zu erschießen beziehungsweise bei späterer Ergreifung an die Sicherheitspolizei zu übergeben seien.

Eingriffe in die Justiz
Das NS-Regime griff unmittelbar und mittelbar in die Justiz ein. Mittelbar geschah dies mit einer "linientreuen" Personalpolitik, mit öffentlicher Justizschelte und sogenannten Richterbriefen, in denen noch nicht NS-treue Richter "auf Vordermann gebracht" werden sollten. Unmittelbar korrigierte Hitler Strafurteile, die ihm allzu milde erschienen. So ließ er am 25. Oktober 1941 an den vorübergehend als Justizminister amtierenden Staatssekretär Franz Schlegelberger seinen "Wunsch" übermitteln, dass die Verurteilung des 74-jährigen Krakauer Juden Markus Luftglass zu zweieinhalb Jahren Gefängnis in die Todesstrafe umgewandelt werde. Grundlage der Verurteilung wegen Wirtschaftsvergehens war das "Hamstern" von Eiern. Die Kenntnisse Hitlers beruhten auf einer Pressenotiz. Auf Anweisung Schlegelbergers wurde Luftglass durch die Gestapo exekutiert.

Überhaupt hatte die Strafverfolgung einen doppelten Boden. Die Gestapo griff immer zu, wenn Freisprüche oder Entlassungen aus der Untersuchungs- beziehungsweise Strafhaft den Machthabern nicht gefielen. Juden wurden regelmäßig nach der Entlassung aus der Haft der Gestapo übergeben, was als Vermerk in den Gerichtsakten festgehalten wurde. So konnte es sogar geschehen, dass Strafverteidiger – scheinbar paradox – auf hohe Freiheitsstrafen durch die Justiz drängten, um so den Mandanten vor der Gestapo, das heißt dem Konzentrationslager oder der sofortigen Hinrichtung, zu bewahren.

Behandlung der NS-Justiz in der Bundesrepublik

Das Verhalten der Justiz während der Zeit der NS-Diktatur wurde von der bundesrepublikanischen Justiz strafrechtlich nicht geahndet. Die einzige juristische Be- und Verurteilung der NS-Justiz erfolgte durch das "Nürnberger Juristenurteil" des amerikanischen Militärgerichtshofes aus dem Jahre 1947. In der Bundesrepublik Deutschland wurde kein NS-Richter, kein NS-Staatsanwalt aus der "ordentlichen" Gerichtsbarkeit rechtskräftig abgeurteilt. Nur zwei Verurteilungen von Juristen, die als Standrichter in den letzten Kriegsmonaten tätig waren, sind bekannt. Daneben wurden einige Offiziere in der Funktion als Standrichter strafrechtlich belangt.

Kritisiert wird insbesondere, dass kein Richter und Staatsanwalt am Volksgerichtshof zur Verantwortung gezogen wurde. Zwar verurteilte das Landgericht Berlin 1967 in erster Instanz den Richter Hans-Joachim Rehse, Beisitzer beim Volksgerichtshof unter Freisler und beteiligt an wenigstens 231 Todesurteilen, wegen Beihilfe zum Mord und zum Mordversuch zu fünf Jahren Zuchthaus. Dieses Urteil hatte jedoch keinen Bestand. Es wurde vom Bundesgerichtshof in der Revisionsinstanz aufgehoben und zur erneuten Verhandlung an das Landgericht Berlin zurückgewiesen. Hier wurde Rehse im Jahr 1968 freigesprochen. Bevor es auf die Revision der Staatsanwaltschaft zur erneuten Überprüfung beim Bundesgerichtshof kam, verstarb der Angeklagte.

Schon vorher hatte der stellvertretende Ankläger im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, Robert Kempner, vergeblich versucht, Rehse wegen eines Todesurteils gegen Pater Gebhard Heyder anzuklagen, das jedoch nicht mehr vollstreckt wurde. Selbst ein Klageerzwingungsverfahren – das heißt der Versuch, durch Richterbeschluss eine Anklage zu erzwingen – hatte keinen Erfolg. Pater Heyder war verurteilt worden, weil er "[...] von der Kanzel herab die feindlichen Terrorangriffe als eine gerechte Strafe Gottes bezeichnet hatte [...]". Dieser Fehlschlag, einen der schwer belasteten Richter strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, war Grund für die Staatsanwaltschaften, Ermittlungen, soweit sie überhaupt aufgenommen worden waren, einzustellen. Sie fühlten sich an die höchstrichterliche Rechtsprechung gebunden.

Der erste Grund für die Nichtverfolgung war die Rechtsauffassung, dass eine Verurteilung wegen Freiheitsberaubung und Mordes, begangen durch Gerichtsurteil, immer voraussetzte, dass der Richter auch mit unbedingtem Vorsatz das Recht gebeugt habe, das Unrecht auch erkannte und wollte und nicht nur, wie beim bedingten Vorsatz, billigend in Kauf nahm. Das Erfordernis des unbedingten Vorsatzes wurde aus dem Straftatbestand der Rechtsbeugung (§ 339 Strafgesetzbuch) abgeleitet. Danach wird ein Richter mit Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bestraft, der sich bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zugunsten oder zum Nachteil einer Partei einer Beugung des Rechts schuldig macht. Diese Ansicht war in der Rechtsprechung und der Rechtslehre zunächst umstritten. Der Bundesgerichtshof hat sie aber im Verfahren gegen Rehse für verbindlich erklärt. Unbedingt vorsätzliche Rechtsbeugung wurde verneint, weil man sich an das NS-"Recht" im Sinne eines Gesetzespositivismus gebunden gefühlt habe. So begründete auch der ehemalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Hans Filbinger, seine Urteile als Marinerichter im Zweiten Weltkrieg, und in diesem Sinne ist auch die ihm zugeschriebene, von ihm aber bestrittene Äußerung zu werten: "Was damals Rechtens war, kann heute nicht unrecht sein."

Gegen diese vorherrschende Rechtsauffassung hat sich der damalige hessische Generalstaatsanwalt Interner Link: Fritz Bauer gestellt: "Die Kriminalisierung der Rechtsbeugung dient dem Schutz aller Prozessparteien in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ihrer gleichen Behandlung, nicht der Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit. Der Ausschluss des bedingten Vorsatzes, den die Rechtsprechung vorgenommen hat, ist willkürlich und erweckt den Anschein der Schaffung eines Standesprivilegs. Es ist auch nicht einzusehen, warum eine mit bedingtem Vorsatz begangene, also immerhin gebilligte Rechtsbeugung, unanstößig wäre."

QuellentextFritz Bauer – Mut zur Wahrheit und Zivilcourage

[...] Wenn er sein Büro verlasse, hat Fritz Bauer, der treibende Ankläger im Frankfurter Auschwitz-Prozess, einmal gesagt, dann betrete er Feindesland.

Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, gegen welchen Widerstand, ja bisweilen Hass der hessische Generalstaatsanwalt ankämpfen musste, um durchzusetzen, worum es ihm im Innersten ging: eine Aufklärung der NS-Verbrechen vor Gericht, die zugleich eine Aufklärung dieses tief verstrickten Landes über sich selbst sein sollte.

Das Ansinnen allein, der Leitung des Vernichtungslagers den Prozess zu machen, war in den frühen sechziger Jahren eine Ungeheuerlichkeit – eine Provokation der Öffentlichkeit, die von der Vergangenheit nichts wissen wollte, auch eine Herausforderung der Justiz, in der sich die alten Parteigenossen längst wieder massenhaft etabliert hatten und nun Bauers Prozesse zu hintertreiben suchten, wo sie nur konnten.

Rückhalt fand der leidenschaftliche Ankläger und Aufklärer, dieser Moralist in Robe, allein bei der hessischen Landesregierung – und bei einem Kreis junger Staatsanwälte, die ihm begeistert zuarbeiteten.

Diese Isolation, die Rolle des Außenseiters, kannte Bauer von klein auf, seit seine Mitschüler ihn, den begabten Sohn jüdischer Eltern, als Christusmörder verhöhnten. Er ist die Rolle nie losgeworden, nicht als junger sozialdemokratischer Richter in einer streng konservativen Justiz nach dem Ersten Weltkrieg, erst recht nicht als KZ-Häftling und Emigrant in Dänemark und Schweden, auch nicht als Aufbauhelfer einer demokratischen Rechtspflege in der jungen Bundesrepublik.

Aber Bauer hat sich davon lange nicht entmutigen lassen, im Gegenteil, mit ungeheurer Energie hat sich der Jurist der herrschenden Meinung entgegengestemmt und das Unpopuläre durchgefochten. Manches davon ist heute überholt, vieles ist erreicht, die große Strafrechtsreform etwa, und das Wichtigste, die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, ist mittlerweile tatsächlich Grundkonsens des politischen Gemeinwesens – auch dank des großen Frankfurter Auschwitz-Prozesses von 1963 bis 1965, den es ohne Bauer, ohne seine Beharrlichkeit, seine moralische Entschiedenheit, nicht gegeben hätte.

Das ist, was von Fritz Bauer bleibt. Und das ist, was heute so sehr gebraucht wird wie zu jeder Zeit: Zivilcourage – auch, vielleicht gerade von Staatsanwälten.

Heinrich Wefing, "Fritz Bauer", in: Die Zeit Nr. 47 vom 12. November 2009, Sonderbeilage Geschichte

Der zweite Grund für die Nichtverfolgung wurde in dem fehlenden Nachweis des einzelnen richterlichen Tatbeitrages gesehen. Jeder an der richterlichen Abstimmung beteiligte Richter könne nur dann wegen Mordes verurteilt werden, wenn ihm nachzuweisen sei, dass er durch seine Stimmabgabe zum Zustandekommen des ungerechten Urteils beigetragen habe. Ein solcher Nachweis dürfte, so wurde behauptet, wegen des Grundsatzes "in dubio pro reo" (lat.: im Zweifel für den Angeklagten) in der Praxis ohne Geständnis des Angeklagten nicht zu führen sein. Übersehen wird bei dieser Argumentation, dass auch der überstimmte Richter seine Unterschrift unter das Urteil setzt. Es ist das Urteil des gesamten Gerichts, nicht der Mehrheit der Richter. Wer sich so an einem Terrorurteil beteiligt, wird auch kausal (=ursächlich) und damit verantwortlich für das Unrecht.

Im Ergebnis haben sich so die Versuche, die NS-Justiz strafjustiziell "aufzuarbeiten", im "rechtsdogmatischen Gestrüpp" verfangen. Die NS-Justiz wurde aber nicht nur nicht zur Rechenschaft gezogen, ihre Mitglieder wurden nach 1945 – von wenigen Ausnahmen abgesehen – wiederum in den Justizdienst der Bundesrepublik übernommen. Diese personelle Kontinuität dürfte neben Standesrücksichten und fehlendem Unrechtsbewusstsein mit einer der Gründe für die Nichtverfolgung der NS-Justiz gewesen sein.

In der DDR fand demgegenüber eine "Abrechnung" statt, ohne jedoch rechtsstaatlichen Anforderungen zu genügen. Die "Erfolgsquote" – bis 1984 wurden 149 Richter und Staatsanwälte wegen ihrer Mitwirkung in der NS-Justiz verurteilt – ist deshalb (mehr als) fragwürdig.

SED-Justiz

In der DDR wurden Recht und Justiz der Politik untergeordnet und untermauerten so den Herrschaftsanspruch der SED. In den Grundsätzen des sozialistischen Strafrechts, die im Strafgesetzbuch der DDR von 1968 niedergelegt waren, wurde in Artikel 1 der "Kampf gegen alle Erscheinungen der Kriminalität, besonders gegen die verbrecherischen Anschläge auf den Frieden, auf die Souveränität der Deutschen Demokratischen Republik und auf den Arbeiter-und-Bauern-Staat" als "gemeinsame Sache der sozialistischen Gesellschaft, ihres Staates und aller Bürger" bezeichnet.

Die Repräsentanten der Justiz bekannten sich hierzu im Sinne einer sozialistischen Gesetzlichkeit. So sollte sich in der richterlichen Entscheidung die "Bereitschaft widerspiegeln, die von der Partei der Arbeiterklasse und von der Regierung gefassten Beschlüsse durchzusetzen". Im Gegensatz zu den Westzonen bzw. der Bundesrepublik waren in der Sowjetischen Besatzungszone/DDR nahezu alle Juristen und Justizangestellten entlassen worden, die in der NS-Zeit im Justizsystem beschäftigt gewesen waren. In Schnellkursen wurden neue Richter und Staatsanwälte ausgebildet. Ziel der SED war es dabei, sich die politische Kontrolle und Herrschaft über die Justiz zu sichern. Der Richter in der DDR war ein verlässlicher politischer Funktionär.

Die politische Strafjustiz diente dazu, vermeintliche und tatsächliche politische Gegner des Regimes zu unterdrücken. Zum Schutze der "antifaschistisch-demokratischen Ordnung" wurde 1950 eine für die Justiz verbindliche Strafrechtsprechung entwickelt. Gemäß Artikel 6 Abs. 2 der ersten DDR-Verfassung von 1949 verfolgte die politische Strafjustiz im SED-Staat "Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten".

Ausgangspunkt der politischen Strafjustiz in der DDR waren die Strafverfahren wegen NS-Verbrechen, die die sowjetische Besatzungsmacht Anfang der 1950er-Jahre an die ostdeutschen Polizei- und Justizbehörden übergeben hatte. Ein Beispiel dafür sind die "Waldheimer Prozesse" – benannt nach der sächsischen Kleinstadt Waldheim bei Chemnitz. Dort wurden im Jahre 1950 rund 3400 Männer und Frauen in Verfahren, die allenfalls den Schein von Rechtsstaatlichkeit hatten, ohne Klärung der persönlichen Schuld zu hohen Strafen, 33 von ihnen zum Tode, verurteilt. 24 der zum Tode Verurteilten wurden hingerichtet, die letzte Entscheidung über den Vollzug der Todesstrafe traf Walter Ulbricht als damaliger Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED. Bei den Verurteilten handelte es sich überwiegend um Menschen, die in der Nachkriegszeit allein wegen ihrer Mitgliedschaft bzw. Funktion in der NSDAP oder in einer der ihr angeschlossenen Organisationen verhaftet worden waren, wenige von ihnen hatten sich während des "Dritten Reiches" an Verbrechen beteiligt. Die Strafen waren politisch vorbestimmt, die Richter und Staatsanwälte entsprechend ausgesucht.

Das Strafrechtsergänzungsgesetz vom 11. Dezember 1957 (in Kraft am 1. Februar 1958), hob den rechtsstaatswidrigen Missbrauch von Artikel 6 zwar auf, führte aber neu definierte Delikte wie Staatsverrat, Staatsgefährdende Gewaltakte, Staatsgefährdende Propaganda und Hetze, Staatsverleumdung und Verleitung zum Verlassen der DDR ein. Mit dem "sozialistischen" Strafgesetzbuch, das am 1. Juli 1968 wirksam und in den 1970er- und 1980er-Jahren mehrmals – meist strafverschärfend – geändert und ergänzt wurde, erfolgte eine erhebliche Erweiterung der schon bestehenden Tatbestände, einige neue kamen hinzu. Insgesamt wurden in der DDR – nach heutigem Kenntnisstand – mindestens 170 Todesurteile vollstreckt. (Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED. Katalog, hg. vom Bundesministerium der Justiz, Leipzig 1994, S. 217). Die Zahl der durch die Strafjustiz politisch Verfolgten wird auf 150.000 bis 200.000 Personen geschätzt.

Rechtsstaatlich umstritten sind insbesondere die Verurteilungen wegen "Republikflucht". Die Rechtsverbindlichkeit steht im Hinblick auf den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) vom 19. Dezember 1966, den die DDR – im Zuge ihres UN-Beitritts – als 21. Staat am 8. November 1973 ratifizierte, in Frage. Artikel 12 Abs. 2 IPbürgR lautet: "Jedermann steht es frei, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen."

Nach Artikel 12 Abs. 3 darf dieses Recht nur durch Gesetz und nur zu bestimmten Zwecken, darunter zum Schutz der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung, eingeschränkt werden. Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 3. November 1992 eine Verletzung des "Menschenrechts auf Ausreisefreiheit" erkannt, weil dieses Recht den Menschen in der DDR nicht ausnahmsweise "zum Schutz der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung", sondern vielmehr in aller Regel vorenthalten wurde: "Insbesondere kann die durch die restriktiven Paß- und Ausreisevorschriften begründete Lage unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte nicht ohne Beachtung der tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze gewürdigt werden, die durch Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl gekennzeichnet waren und damit gegen Artikel 6 IPbürgR verstießen. Nach dieser Vorschrift hat jeder Mensch ein angeborenes Recht auf Leben; niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 und 3)."

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verurteilungen wegen der "Todesschüsse an der Mauer" gebilligt.
Abgesehen von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Richter und Staatsanwälte bleibt festzuhalten, dass sich aus der Sicht der Opfer die Verurteilungen wegen "Republikflucht" als Akte einer politischen Strafjustiz darstellen. Umgekehrt haben die Betroffenen das strafjustizielle Vorgehen gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland während der Zeit des "Kalten Krieges" als Ausdruck politischer Justiz empfunden, wie Alexander von Brünneck in seinem Buch: "Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1968" belegt.

Justiz zwischen Politik und Recht

Da Gesetze nicht aus einem "Gerechtigkeitshimmel" fallen, sondern von Menschen erlassen werden, ist Justiz faktisch immer auch ein verlängerter Arm von Politik. Darüber hinaus gibt es teilweise eine politische Einflussnahme gesellschaftlicher Gruppen durch die Auswahl von Richtern und Staatsanwälten bei deren Einstellung sowie Beförderung. Sich in der Entscheidungspraxis hiervon wiederum freizumachen, ist die Aufgabe rechtsstaatlich verantwortungsbewusster Richterinnen und Richter. Positiv ausgedrückt heißt Politikabhängigkeit aber auch Gesetzesgebundenheit.

Gemäß Artikel 20 Abs. 3 Grundgesetz ist die Rechtsprechung aber nicht nur an das Gesetz gebunden, sondern auch an das Recht: Der Richter darf nicht als bloßer "Gesetzesautomat" tätig werden; er muss die Gesetze vor dem Hintergrund der Verfassung anwenden und im Fall des Widerspruchs der Verfassung Vorrang geben. Über dem einfachen Gesetz stehen Verfassungs- und Menschenrechtsgrundsätze ("verfassungskonformer Positivismus"). Die Justiz, insbesondere die Strafjustiz, darf weder "Statthalter der Obrigkeit" noch "Staat im Staate" sein. Sie muss eine Justiz sein, die sich der demokratischen Verantwortung und rechtsstaatlicher Prinzipien bewusst ist und sich von regierungsamtlichen oder vom Zeitgeist formulierten Interessen nicht beeinflussen lässt.

QuellentextDer Doppelcharakter des Strafrechts

"Das Strafrecht ist die unübersteigbare Schranke der Kriminalpolitik" – dieser berühmte Satz Franz v. Liszts bezeichnet ein Spannungsverhältnis, das in unserer Wissenschaft noch heute lebendig ist. Er stellt die auf empirischen Grundlagen ruhenden Prinzipien zweckmäßiger Behandlung des sozial abweichenden Verhaltens gegen die im engeren Sinne juristischen Methoden systematisch-begrifflicher Ausarbeitung und Ordnung der Verbrechensvoraussetzungen. Oder, auf die kürzeste Formel gebracht: Der Satz kennzeichnet das Strafrecht einerseits als Sozialwissenschaft, andererseits als Rechtswissenschaft.

In diesem Doppelcharakter der von ihm recht eigentlich begründeten "gesamten Strafrechtswissenschaft" verkörperten sich für Liszt gegenläufige Tendenzen. Der Kriminalpolitik ordnete er die im gesamtgesellschaftlichen Sinne zweckmäßigen Methoden der Verbrechensbekämpfung, also die nach seinem Sprachgebrauch soziale Aufgabe des Strafrechts, zu, während dem Strafrecht im juristischen Sinn des Wortes die rechtsstaatlich-liberale Funktion zufallen sollte, die Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung und die individuelle Freiheit vor dem Zugriff des "Leviathans" Staat zu sichern.

Um es noch einmal mit zwei anderen Lisztschen Wendungen zu sagen, die heute zu den klassischen Zitaten des Strafrechtlers gehören: Der "Zweckgedanke im Strafrecht", unter den Liszt sein epochemachendes Marburger Programm gestellt hatte, ist der Leitstern der Kriminalpolitik, während das Strafgesetzbuch als "magna charta des Verbrechers" nach Liszts ausdrücklichem Bekenntnis "nicht die Gesamtheit, sondern den gegen diese sich auflehnenden einzelnen" schützt und ihm das Recht verbrieft, "nur unter den gesetzlichen Voraussetzungen und nur innerhalb der gesetzlichen Grenzen bestraft zu werden".

Liszt wollte also nicht, wie es in der Konsequenz seines Zweckgedankens gelegen hätte, daß "ohne all den FormelKrimskrams der "klassischen Kriminalisten" [...] im Einzelfalle die Entscheidung gefällt werden" könne, "die der Gesamtheit frommt", sondern er meinte: "Solange wir bestrebt sind, die Freiheit des einzelnen Staatsbürgers vor der schrankenlosen Willkür der Staatsgewalt zu schützen, solange wir an dem Satz nullum crimen, nulla poena sine lege [lat.: kein Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz] festhalten, ebenso lange wird auch die strenge Kunst einer nach wissenschaftlichen Grundsätzen operierenden Gesetzesauslegung ihre hochpolitische Bedeutung behalten."

Claus Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, Walter de Gruyter GmbH, Berlin 1973, S. 1

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Prof. Dr. Heribert Ostendorf, geb. 1945, war nach dem Studium viereinhalb Jahre als Richter, vornehmlich als Jugendrichter, tätig. Anschließend lehrte er acht Jahre als Professor für Strafrecht an der Universität Hamburg. Von 1989 bis 1997 war er Generalstaatsanwalt in Schleswig-Holstein. Von Oktober 1997 bis Februar 2013 leitete er die Forschungsstelle für Jugendstrafrecht und Kriminalprävention an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Professor Ostendorf hat neben Lehrbüchern und Gesetzeskommentaren zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen publiziert, vor allem zum Jugendstrafrecht. Sein Lehrbuch "Jugendstrafrecht" sowie sein Kommentar "Jugendgerichtsgesetz" sind in der 9. bzw. 10. Auflage erschienen und gelten als Standardwerke.