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Der Ausbau des neuen Systems (1949 bis 1961) | Geschichte der DDR | bpb.de

Geschichte der DDR Editorial Auf dem Weg in die Diktatur (1945 bis 1949) Der Ausbau des neuen Systems (1949 bis 1961) Im Zeichen von Reform und Modernisierung (1961 bis 1971) Der Schein der Normalität (1971 bis 1982) Auf dem Weg in den Zusammenbruch (1982 bis 1990) Literaturhinweise und Internetadressen Autor, Impressum und Anforderungen

Der Ausbau des neuen Systems (1949 bis 1961)

Andreas Malycha

/ 31 Minuten zu lesen

Am 7. Oktober 1949 wird die DDR gegründet. Rasch gelingt es der SED, ihre Macht auszubauen und Wirtschaft und Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zu formen. Aufkeimende Widerstände werden im Geist des Stalinismus mit repressiven Mitteln bekämpft.

Ost-Berliner Aufständige und ein sowjetischer Panzer am 17. Juni 1953. (© AP)

Die Gründung der DDR

Nach dem endgültigen Scheitern deutschlandpolitischer Übereinkünfte zwischen der Sowjetunion und den Westmächten bestand im Frühjahr 1949 für die SED-Führung keine Notwendigkeit mehr zu außenpolitischen Rücksichtnahmen, um die Bildung des ost­deutschen Teilstaates zum Abschluss zu bringen. Doch blieb die politische Legitimation der SED in diesem Staat ein erkennbarer Schwachpunkt. Angesichts schwindender Folgebereitschaft in der Bevölkerung und selbst in der eigenen Partei war an einen offenen Parteienwettbewerb im Rahmen regulärer Wahlen nicht zu denken. Um dem gesamten Vorgang der ostdeutschen Staatsgründung eine formale demokratische Legitimation zu verschaffen, schlug die SED Delegiertenwahlen für einen "Deutschen Volkskongreß" auf der Basis von Einheitslisten vor, die auch Gewerkschaften und Massenorganisationen einbezogen. Die anderen Parteien akzeptierten diesen Abstimmungsvorgang unter der Bedingung, dass bei den anstehenden Kommunal- und Landtagswahlen wieder getrennte Wahlvorschläge der einzelnen Parteien zur Anwendung kommen würden.

Am 15. und 16. Mai 1949 fanden in der sowjetischen Zone die Wahlen zu einem "Deutschen Volkskongreß" statt. Bei einer Wahlbeteiligung von 94,1 Prozent befürworteten nach offiziellen Angaben 66,1 Prozent der Abstimmenden die Einheitsliste von SED, CDU, LDP, NDPD, DBD, FDGB und zehn anderen Organisationen sowie Einzelkandidaten. Dieses Resultat war nur durch starke Manipulation erreicht worden, indem etliche ungültige, aber auch Nein-Stimmen in positive verwandelt wurden. Dem Deutschen Volkskongress gehörten auch Abgesandte aus Westdeutschland an, die dort nicht gewählt, sondern größtenteils von der KPD nach Ost-Berlin delegiert worden waren. Am 29. Mai 1949 wählte der Kongress einen Deutschen Volksrat mit 330 Mitgliedern, die ausnahmslos aus der sowjetischen Zone stammten. 120 Mitglieder des Volksrates gehörten den Blockparteien an, 173 hatten einen SED-Hintergrund. Mit dem am 30. Mai 1949 verkündeten "Entwurf einer Verfassung für die Deutsche Demokratische Republik" wurde der verfassungsrechtliche Rahmen der künftigen Teilrepublik abgesteckt.

Mitte September 1949 traf eine SED-Delegation in Moskau ein, um die konkreten Schritte zur Gründung der DDR zu besprechen. Am 7. Oktober 1949 trat der Deutsche Volksrat zusammen. Seine 330 Mitglieder konstituierten sich zur "provisorischen Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik". In ihr stellte die SED mit 96 Abgeordneten die stärkste Fraktion. Die Wahlen zur Volkskammer wurden um ein Jahr, auf den Oktober 1950 verschoben. Diese Frist sollte der SED-Führung ermöglichen, die anderen Parteien zur Zustimmung zu den Einheitslisten zu bewegen. Am 11. Oktober wählte die provisorische Volkskammer Wilhelm Pieck zum Staatspräsidenten. Mit der Regierungsbildung wurde Otto Grotewohl beauftragt.

Am 12. Oktober stellte Ministerpräsident Otto Grotewohl sein Kabinett vor. Otto Nuschke (CDU), Walter Kastner (LDP) und Walter Ulbricht (SED) wurden als stellvertretende Ministerpräsidenten bestätigt. Von den 18 Mitgliedern der ersten DDR-Regierung gehörten acht der SED, vier der CDU, drei der LDP, einer der NDPD, einer der DBD und ein Parteiloser an.

Die Volkskammer erklärte als Akt der Staatsgründung am 7. Oktober 1949 die "Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik" zu geltendem Recht. Statt Gewaltenteilung, wie für ein demokratisches Staatswesen üblich, war Gewaltenkonzentration vorgesehen. Die Verfassung definierte zwar die Volkskammer als höchstes gesetzgebendes Organ. In der politischen Praxis spielte sie jedoch keine Rolle, denn alle zentralen politischen, ökonomischen, kulturellen und sozialpolitischen Entscheidungen trafen zentrale Führungsorgane der SED. Rein formell blieb auch der erklärte Wille, "die Freiheit und die Rechte des Menschen zu verbürgen, das Gemeinschafts- und Wirtschaftsleben in sozialer Gerechtigkeit zu gestalten, dem gesellschaftlichen Fortschritt zu dienen, die Freundschaft mit allen Völkern zu fördern und den Frieden zu sichern". Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit fielen in der gesellschaftlichen Praxis weit auseinander.

Die individuellen Menschen- und Bürgerrechte waren nie einklagbar und wurden von den Regierenden willkürlich ausgelegt. Eine Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit kannte die DDR nicht. Demokratische Grundrechte, die wie die Meinungsfreiheit in der Verfassung garantiert werden sollten, wurden in der gesellschaftlichen Praxis nur dann respektiert, wenn sie nicht am uneingeschränkten Machtanspruch der SED rüttelten. Somit war eine Verfassung entstanden, die sich zwar auf die bürgerlichen Traditionen der Weimarer Republik berief, die aber der marxistisch-leninistischen Staatslehre folgte. Dementsprechend galt die Praxis, den Verfassungstext unter sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen stets machtpolitisch zu interpretieren.

Im Oktober 1949 verabschiedete das zentrale Führungsgremium der SED, das Politbüro, weitreichende Beschlüsse, die die "führende Rolle der SED" im zentralen Staatsapparat fixierten. Die jeweils zuständigen Abteilungen des Zentralkomitees bestimmten sowohl fachlich als auch politisch die Tätigkeit der ihnen zugeordneten Ministerien. Alle politisch und fachlich bedeutsamen Entscheidungen der Volkskammer, der Regierung sowie der einzelnen Ministerien mussten zunächst im Politbüro bzw. im Sekretariat des Zentralkomitees eingereicht werden. Dort wurde über das weitere Vorgehen entschieden.

Die Verfassung bestimmte das traditionelle Schwarz-Rot-Gold als Farben der neuen ostdeutschen Republik, Berlin als ihre Hauptstadt. Als Staatsemblem kamen später ein Hammer und ein Zirkel im Ährenkranz hinzu, die das Bündnis zwischen Arbeitern, Bauern und neuer "Intelligenz" als tragenden Säulen des Staatswesens symbolisierten. Als Hymne wählte die Regierung einen von Hanns Eisler vertonten Text Johannes R. Bechers aus, der neben dem Fortschrittspathos auch einen damals noch gewollten Hinweis auf die Einheit Deutschlands enthielt: "Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, laß uns Dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland." Nach der Machtübernahme Erich Honeckers 1971 konnte die Hymne jedoch nur noch ohne Text gespielt werden. Ein offizieller Bezug zur deutschen Einheit war seitdem nicht mehr erwünscht.

Mit der Gründung der DDR endete auch formell die sowjetische Besatzung in Ostdeutschland. Die SMAD übertrug am 10. Oktober 1949 die Verwaltungsfunktionen, die bislang ihr zugestanden hatten, der DDR-Regierung. Sie selbst wandelte sich in "Sowjetische Kontrollkommission" (SKK) um. An ihrer Spitze stand Armeegeneral Wassili I. Tschuikow, der zuvor auch schon Chef der SMAD gewesen war. Der prägende Einfluss der SKK auf zentrale Bereiche der Politik, Wirtschaft und inneren Verwaltung blieb dennoch sehr stark erhalten.

Im Frühjahr 1950 gelang es der SED-Führung, den Widerstand von CDU und LDP gegen die Einheitsliste für die Volkskammerwahlen im Oktober zu brechen, nachdem kritische Führungsmitglieder in den Landesorganisationen beider Parteien abgelöst worden waren. Am 16. Mai 1950 erklärten sich alle Parteien bereit, eine gemeinsame Kandidatenliste der "Nationalen Front" zu akzeptieren. Die Sitzverteilung in der Volkskammer zwischen SED, CDU, LDP, DBD, NDPD und Massenorganisationen wurde vor der Wahl ausgehandelt, sodass der Wahlgang am 15. Oktober 1950 bei einer Wahlbeteiligung von 98,5 Prozent nur noch ein formeller Akt der Bestätigung war. Die SED stellte formal nur ein Viertel der Abgeordneten, während auf die übrigen vier Parteien zusammen knapp die Hälfte der Sitze entfielen. Da aber unter den Abgeordneten der Massenorganisationen viele auch Mitglied der SED waren, konnten die bürgerlichen Parteien keine Mehrheiten zusammenbringen. Die ersten Volkskammerwahlen demonstrierten, dass die herrschenden Machtverhältnisse durch diesen scheindemokratischen Abstimmungsmodus nicht mehr verändert werden konnten.

QuellentextEinheitsliste für die Volkskammerwahl im Oktober 1950

Der Demokratische Block, die Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien, trat am Donnerstag, 6. Juli, unter dem Vorsitz von Otto Nuschke zu einer Sitzung zusammen, um zu den Wahlvorbereitungen für den Großwahltag am 15. Oktober dieses Jahres Stellung zu nehmen. [...] [D]er Demokratische Block [hat] einmütig die Vorschläge der Parteiführer für die Wahlen am 15. Oktober gebilligt.
Für die Volkskammer wird an der im Artikel 52 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik festgesetzten Abgeordnetenzahl von 400 Mitgliedern festgehalten. Sie verteilen sich in dem vereinbarten gemeinsamen Wahlvorschlag prozentual wie folgt:

SED 25,0 vH
CDU 15,0 vH
LDP 15,0 vH
NDPD 7,5
vH
DBD 7,5 vH FDGB 10,0 vH
FDJ 5,0 vH
DFD 3,7 vH
VVN 3,7 vH
Kulturbund 5,0 vH
VdgB 1,3 vH
Genossenschaften 1,3 vH

[...] In der Sitzung des Demokratischen Blocks bestand restlos Einmütigkeit darüber, daß es gilt, die Wahlen vom 15. Oktober zu einer wirkungsvollen und würdigen Manifestation der deutschen Einheit und zu einem leidenschaftlichen Bekenntnis zum Kampfe für den Frieden zu gestalten. Berlin, den 7. Juli 1950

Leidenschaftliches Bekenntnis für Einheit und Frieden. Einmütiger Beschluss des Demokratischen Blocks zur Oktoberwahl. In: Neues Deutschland vom 8. Juli 1950.

In: Matthias Judt (Hg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, Bonn 2010, S. 63f.

Der "Aufbau des Sozialismus"

Auflösung der Länder

Am 23. Juli 1952 verabschiedete die Volkskammer das "Gesetz über die weitere Demokratisierung des Aufbaus und der Arbeitsweise der staatlichen Organe" der DDR. Das zunächst harmlos klingende Gesetz begründete eine bis 1990 geltende administrativ-territoriale Neugliederung der DDR. Mit der Auflösung der Länder zerschlug die DDR-Führung auch die letzten Reste föderalistischer Traditionen und schränkte die demokratischen Möglichkeiten stark ein. An die Stelle der bisherigen fünf Länder traten nun 14 Bezirke. Ost-Berlin hatte als DDR-Hauptstadt einen herausgehobenen Status, zählte aber de facto als 15. Bezirk. Die Anzahl der Kreise wuchs von 132 auf 217. Der Rat des Bezirkes und der Bezirkstag traten an die Stelle von Landesregierung und Landtag. An der Spitze der neuen Verwaltungseinheit stand der Vorsitzende des Rates des Bezirkes, der sich auf einen starken hauptamtlichen Apparat stützen konnte. Als die eigentliche Machtzentrale in den neuen Bezirken traten die jeweiligen Bezirksleitungen der SED in Erscheinung, deren 1. Sekretär über eine herausgehobene Position verfügte.

Der "Klassenkampf" von oben

Unmittelbar nach der Gründung der DDR ging die SED-Führung dazu über, ihre Herrschaft in Staat und Gesellschaft zu festigen und auszubauen. Die gesellschaftspolitischen Wandlungen, die seit 1945 in Angriff genommen worden waren, wurden zielstrebig weitergeführt. Um die anvisierten gesellschaftspolitischen Ziele zu erreichen, galt es, politische Gegnerschaft auszuschalten. Die theoretische Grundlage dazu lieferte Stalins Fiktion über die angeblich gesetzmäßige Verschärfung des Klassenkampfes zwischen alten und neuen Machthabern in der sogenannten Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus. Sie rechtfertigte die ständige Suche nach Feinden in den eigenen Reihen und die Ausschaltung unliebsamer Konkurrenten im Kampf um die Macht bis in die Führungszirkel der Partei hinein.

Quellentext"Schädlingsarbeit"

Die anglo-amerikanischen Agenten und andere Verbrecher schrecken vor Diversionsakten, Brandstiftungen, Eisenbahnattentaten und Sabotageakten gegen unsere Volkswirtschaft nicht zurück. Die Regierung unserer Republik beantwortete diese feindlichen Anschläge mit der Schaffung des Ministeriums für Staatssicherheit, das berufen ist, die Schädlinge, Saboteure und Attentäter, alle Feinde unserer Republik zu fassen und unschädlich zu machen. (Beifall.) [...]
Unsere Volkspolizei, die Organe der Staatssicherheit und der Justiz sind weiter zu festigen. Es muss erreicht werden, daß sie mit dem Volk fest verbunden sind, auf die Signale der Werktätigen achten, sich in ihrer gesamten Tätigkeit auf das Volk stützen und sich dem Volke verantwortlich fühlen. [...]
Gleichzeitig wurden aus der Partei viele Karrieristen, zersetzte und korrumpierte Elemente, die um ihrer persönlichen Vorteile willen in die Partei gekommen waren, und auch feindliche Agenten ausgeschlossen, die von imperialistischen Spionagediensten in unsere Reihen geschickt worden waren. Es versteht sich von selbst, dass die Vertreibung feindlicher Spione und parteifremder Elemente die Partei gefestigt hat. [...]
Schädlingsarbeit auf dem Gebiet der Ideologie ist in gewissem Sinne gefährlicher als auf dem Gebiete der Wirtschaft. Durch sie wird versucht, die Partei vom richtigen marxistisch-leninistischen Wege abzubringen, ihr fremde Ansichten und Weltanschauungen aufzuzwingen.

Wilhelm Pieck: Die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. In: PROTOKOLL 1951, S. 57. [Rede am 20. Juli 1950 auf dem III. SED-Parteitag]

In: Matthias Judt (Hg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, Bonn 2010, S. 486

Die SED folgte dieser Theorie mit einer geradezu manischen Suche nach Parteifeinden, Saboteuren und "Agenten des Imperialismus", die Generalsekretär Walter Ulbricht nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Partei vermutete. "Parteisäuberungen" wurden ein ständiger Bestandteil des innerparteilichen Lebens. Andererseits litten besonders CDU und LDP sowie die Kirchengemeinden unter massiven Repressionen, die von staatlichen Organen wie der Polizei, dem 1950 gegründeten Ministerium für Staatssicherheit (MfS) sowie der politischen Justiz ausgingen. In enger Zusammenarbeit mit den Staatsanwaltschaften operierte das MfS außerhalb rechtsstaatlich gesicherter Normen, um die innere Lage der DDR mit repressiven Mitteln zu überwachen.

QuellentextJunge Widerständler in Altenburg

Es war schon nach Mitternacht, als es an der Tür schellte. Die Tasche stand bereit. Er wollte fliehen. Doch Jörn-Ulrich Brödel zögerte zu lange. Mehrere Stasi-Mitarbeiter und Volkspolizisten standen vor seiner Wohnung im thüringischen Altenburg. Sie kamen in Zivil, und sie kamen, um ihn abzuholen. Es war der 25. März 1950, ein Samstag. Am Vortag hatten sie Brödels Freund Ulf Uhlig festgenommen. Ihr Angriff auf Stalin lag drei Monate zurück. Zu viert hatten sie einen Radiosender gebaut und damit die Festansprache zu Ehren des sowjetischen Machthabers gestört. Jetzt sollten Brödel und seine Freunde dafür büßen [...]. [...] Wer sie verriet oder wie man ihnen auf die Spur kam, ist bis heute nicht ganz geklärt.
Ein halbes Jahr danach, Anfang September 1950, saß Brödel auf einer Anklagebank des Landgerichts Weimar. An der Wand ein Stalin-Bild, neben und hinter ihm 14 weitere Angeklagte, darunter drei Frauen, allesamt mit kurz geschorenen Haaren. [...] Alle waren dem sowjetischen Militär überstellt worden. Allen wurden antisowjetische Verbrechen vorgeworfen, und die endlosen nächtlichen Verhöre hatten ihren Widerstand gebrochen. Sie gestanden auch Taten, die sie nie begangen hatten.
Der Geheimprozess vor dem sowjetischen Militärtribunal 48 240 dauerte sechs Tage. Verteidiger sah die Willkürjustiz nicht vor. Brödel ist heute überzeugt: Die drei Richter waren nur Zeremonienmeister, die Angeklagten Statisten in einem fertigen Drehbuch. "Wir saßen von Beginn an in exakt der Reihenfolge, in der die Urteile gefällt wurden." Die ersten drei der 15 wurden zum Tode verurteilt. [...] Brödel war der Sechste auf der Bank. Auch er fürchtete den Tod. Doch die Richter [...] verurteilten Brödel zu 25 Jahren Arbeitslager wegen antisowjetischer Propaganda und 20 Jahren Arbeitslager wegen Bildung einer illegalen Gruppe. Am Ende wurde die Haftstrafe auf 25 Jahre festgelegt. [...]
"Die drei zum Tode Verurteilten haben wir nie wieder gesprochen oder gesehen. Sie wurden sofort abgeführt." [...] "Niemand hatte mit der Todesstrafe gerechnet." Was die Schüler nicht wussten: Stalin hatte die Todesstrafe 1947 zwar abgeschafft, aber 1950 wieder eingeführt. [...] Rund 1000 Deutsche wurden zwischen 1950 und 1953 von den Sowjets in der DDR zum Tode verurteilt, in getarnten Eisenbahnwaggons nach Moskau verschleppt und hingerichtet. [...]
Brödel verbrachte dreieinhalb Jahre in der Strafvollzugsanstalt Bautzen. Mehrere Monate nach Stalins Tod wurde er vorzeitig entlassen und floh über das Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde in den Westen. [...] Nicholas Brautlecht, "Eisern gegen Stalin", in: Frankfurter Rundschau vom 15. Juni 2011

Immer öfter wurden die Gefahren beschworen, die angeblich von "kapitalistischen Elementen" für den gesellschaftlichen Fortschritt ausgehen würden. Der staatliche Sektor der Wirtschaft sollte in kürzester Zeit auf Kosten der privaten Betriebe ausgebaut werden. Walter Ulbricht kündigte wiederholt in seinen Reden an, die "kapitalistischen Elemente" zu beschränken, den "Widerstand der gestürzten und enteigneten Großkapitalisten und Großagrarier" zu brechen sowie ihre vermeintlichen "Versuche, die Macht des Kapitals wiederherzustellen", zu liquidieren.

Quellentext... und Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung

Die Hauptursache für das Zurückbleiben in der Kunst hinter den Forderungen der Epoche ergibt sich aus der Herrschaft des Formalismus in der Kunst sowie aus Unklarheiten über Weg und Methoden des Kunstschaffenden in der Deutschen Demokratischen Republik. [...] Das wichtigste Merkmal des Formalismus besteht in dem Bestreben, unter dem Vorwand oder auch der irrigen Absicht, etwas "vollkommen Neues" zu entwickeln, den völligen Bruch mit dem klassischen Kulturerbe zu vollziehen. Das führt zu Entwurzelung der nationalen Kultur, zur Zerstörung des Nationalbewusstseins, fördert den Kosmopolitismus und bedeutet damit eine direkte Unterstützung der Kriegspolitik des amerikanischen Imperialismus. [...]
Um auf dem Gebiet der Kunst weiter vorwärtszukommen, hält das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands folgende Maßnahmen für erforderlich:
a) Das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei hält die Zeit für gekommen, die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten vorzubereiten, deren Hauptaufgabe die Anleitung der Arbeit der Theater, der staatlichen Einrichtungen für Musik, Tanz und Gesang, der Institute der bildenden Kunst und der Kunsthoch- und -fachschulen sein wird. [...]
h) Durch das Studium des Marxismus-Leninismus – der Wissenschaft von den Entwicklungsgesetzen in Natur und Gesellschaft – wird es den Kunstschaffenden am besten möglich, das Leben in seiner Aufwärtsentwicklung richtig darzustellen. Da die aktive Teilnahme der Künstler am politischen Leben und am demokratischen Neuaufbau, z.B. an der Arbeit der Friedenskomitees, der Ausschüsse der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, an den gesellschaftlichen Organisationen, und die enge, unmittelbare Verbindung mit den Aktivisten, Arbeitern und Angehörigen der Intelligenz in den volkseigenen Betrieben, MAS und VEG usw. die Voraussetzung für eine erfolgreiche Gestaltung von Gegenwartsproblemen ist, muß durch die Leitung der Verbände die Teilnahme der Kunstschaffenden an dieser Arbeit planmäßig organisiert werden.

Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur. Entschließung des ZK der SED auf der 5. Tagung vom 15.-17. März 1951. In: LAUTER 1951, S. 148-167.

Beide Texte in: Matthias Judt (Hg.), DDR-Geschichte in Dokumenten, Bonn 2010, S. 317 ff.

Kulturpolitische Offensiven

Der verschärfte "Klassenkampf" betraf auch den Bereich von Kunst und Kultur. Mit staatlichen Sanktionen sollte eine Abkehr vom "westlich-dekadenten Kunstbetrieb" und die Hinwendung zur "parteilichen, volksverbundenen und optimistischen Kunst" erzwungen werden. Literatur, Musik und Kunst hatten sich nunmehr am "sozialistischen Realismus" zu orientieren, indem eine eindeutige Parteinahme für das ostdeutsche Gesellschaftssystem künstlerisch zum Ausdruck gebracht werden sollte.

Das Mitte März 1951 tagende 5. Plenum des ZK der SED verabschiedete die Entschließung "Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kunst", die sich gegen namhafte Künstler, darunter mehrere Mitglieder der 1950 gegründeten Akademie der Künste (AdK), richtete. Der darauf folgenden kulturpolitischen Kampagne fiel selbst eine von der AdK präsentierte Ernst-Barlach-Ausstellung zum Opfer, weil die Werke des Bildhauers nach Meinung der SED-Kunstexperten einen "düsteren, bedrückenden, pessimistischen Charakter" besäßen und die davon ausgehende Wirkung der Bevölkerung nicht zugemutet werden könne. Vergleichbare Attacken gab es auch gegen Schriftsteller, Komponisten, Maler und Theaterregisseure. Betroffen war u.a. der Komponist der DDR-Nationalhymne und Nationalpreisträger Hanns Eisler, dessen Entwürfe zu seiner Oper "Johannes Faustus" einer vernichtenden Kritik unterzogen wurden. Als wirksames Kontollinstrument entstand am 31. August 1951 die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten. Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 sah sich die SED-Führung allerdings dazu gezwungen, die besonders häufig kritisierten Zuspitzungen ihrer Kulturpolitik zurückzunehmen. Die Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten wurde wieder aufgelöst und Anfang 1954 das Ministerium für Kultur eingerichtet. Erster Kulturminister wurde der Schriftsteller Johannes R. Becher.

Quellentext"Irrwege" moderner Kunst ...

[...] Die formalistischen Künstler wollen die Forderung, daß Form und Inhalt einander entsprechen müssen, nicht gelten lassen. Sie stellen die Form, die Farbe, das Licht usw. in den Vordergrund und halten diese für die "Hauptperson" im Bilde des Malers. Dadurch verarmt die Kunst aufs äußerste. Sie wird inhaltlos, leer, ideenlos und vom Standpunkt der Gesellschaft aus unnütz. [...]
Wenn die Malerei aufhört, die Wirklichkeit darzustellen, und der Maler an Stelle von Menschen stereometrische Figuren, Linien, Punkte und anderen Unsinn in Würfelform zeichnet, dann ist das das Ende der Malerei. [...]
Entartung und Zersetzung sind charakteristisch für eine ins Grab steigende Gesellschaft. Für eine aufsteigende Klasse, die vertrauensvoll in die Zukunft blickt, sind Optimismus und das Streben charakteristisch, die inneren Kräfte, den Adel, und die Schönheit einer neu entstehenden Gesellschaftsordnung, die neuen Beziehungen zwischen den Menschen und den neuen Menschen selbst darzustellen. [...]

Nikolai Orlow: Wege und Irrwege moderner Kunst. In: Tägliche Rundschau vom 20./21. Januar 1951.

Marxismus-Leninismus als herrschende Weltanschauung

Mit der kulturpolitischen Offensive sollte auch der Marxismus-Leninismus als herrschende Weltanschauung durchgesetzt werden. Er umfasste die von den sogenannten Klassikern (Karl Marx, Friedrich Engels, W. I. Lenin und anfangs Josef W. Stalin) begründeten weltanschaulichen Lehren und trat mit dem Anspruch auf, die menschliche Entwicklung wissenschaftlich erklären und voraussagen zu können. Die zum Dogma erhobenen Lehren wiesen der Kommunistischen Partei die "historische Mission" zu, "Schöpfer" der kommunistischen Gesellschaftsformation zu sein, in der die Menschheit ohne soziale Gegensätze ("Klassen") und frei von jeglicher Ausbeutung lebt. Als Vorstufe zum Kommunismus wurde der Sozialismus definiert. In ihm sind zwar die Kapitalisten enteignet und die Kommunistische Partei herrscht uneingeschränkt ("Diktatur des Proletariats"), jedoch gibt es noch soziale Unterschiede, die bei der Entwicklung hin zum Kommunismus schrittweise überwunden werden müssten. Als oberstes Ziel galt zwar theoretisch die Verbesserung der Lebensumstände der arbeitenden Menschen, praktisch diente die Ideologie jedoch dazu, den totalitären Herrschaftsanspruch der SED in Staat und Gesellschaft durchzusetzen und jegliche Kritik daran zu unterdrücken.

Beschleunigter Kurs auf das sowjetische Gesellschaftsmodell

Die vom 9. bis 12. Juli 1952 tagende zweite Parteikonferenz der SED erklärte den "Aufbau des Sozialismus zur grundlegenden Aufgabe". Dazu gehörten die ökonomische Entmachtung der noch bestehenden Privatindustrie, die forcierte Kollektivierung der Landwirtschaft und der Kampf gegen alle politisch-kulturellen Bereiche, die nicht mit den Dogmen des Marxismus-Leninismus übereinstimmten. Darunter litten vorrangig die Institutionen der Kirche, insbesondere die "Junge Gemeinde" in der DDR, vereinte Jugendgruppen innerhalb der evangelischen Kirchengemeinden, deren Engagement dem ideologischen Zugriff der SED auf die heranwachsende Jugend im Wege standen.

QuellentextKirchenkampf

Der Druck, der in Glaubens- und Gewissensfragen auf Glieder der Evangelischen Kirche innerhalb der Deutschen Demokratischen Republik ausgeübt wird, droht untragbar zu werden. Uns ist bekanntgeworden, daß gegen die Glieder der Jungen Gemeinde mit besonderer Härte vorgegangen wird und welche Mittel dabei angewendet werden. Wir wissen von vielen Fällen, in denen junge Menschen, die ihre Gliedschaft in der Jungen Gemeinde nicht aufgeben wollten, von der Schule verwiesen und am Abschluß ihrer Ausbildung gehindert wurden. Wir wissen von anderen noch schwereren Fällen, in denen ein unverantwortlicher Druck auf junge Menschen ausgeübt worden ist mit dem Ziel, das Rückgrat ihrer Gesinnung und ihres Glaubens zu brechen.
Wir erklären, daß wir kein Wort von den Angriffen glauben, die in der „Jungen Welt“, dem Organ des Zentralrates der FDJ, gegen die Junge Gemeinde erhoben worden sind.
Wir kennen diese jungen Christen und wissen, daß es nicht wahr ist, daß sie die Junge Gemeinde zu einer „Terrorgruppe zur Sabotage der Wiedervereinigung Deutschlands“ machen wollten. Terror, Verrat und Sabotage gehören nicht zu den Mitteln christlicher Wirksamkeit. Uns ist weiterhin bekanntgeworden, daß Verhaftungen vorgenommen werden, ohne daß den Beschuldigten der Grund ihrer Verhaftung mitgeteilt oder den Angehörigen der Aufenthaltsort der Verhafteten bekanntgegeben wird. Wir wissen von unbegreiflich hohen Strafen in Fällen, die das allgemeine Rechtsempfinden der gesamten zivilisierten Welt völlig anders beurteilen würde.
Wir erklären, daß wir diese Methode der Rechtspraxis wie auch des Vorgehens gegen junge Menschen als unmenschlich empfinden. Wer die Einheit Deutschlands will, darf mit Deutschen nicht so umgehen.
Erklärung der Evangelischen Bischofskonferenz zur Lage der Kirche in der DDR 1953.
In: Hermann Weber (Hg.), Kleine Geschichte der DDR, Köln 1980, S. 66

Mit der zweiten Parteikonferenz wurden staatliche Prozesse beschleunigt, die bereits in Gang gesetzt worden waren. Dazu zählten der Ausbau des Grenzregimes, der Aufbau von bewaffneten Streitkräften, die Ausgestaltung der bereits eingeleiteten staatlichen Verwaltungsreform, die weitere Zentralisierung der staatlich geleiteten Industrie, der fortgesetzte Umbau des Rechtswesens sowie eine stärkere Unterordnung von Kunst und Kultur unter das staatliche Machtkonzept der SED.

Zugleich stiegen die staatlichen Ausgaben für den Ausbau der industriellen Basis, insbesondere in der Stahl- und Eisenindustrie. Am 1. Januar 1951 legte DDR-Industrieminister Fritz Selbmann den Grundstein für den ersten Hochofen im Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) bei Fürstenberg an der Oder, der am 19. September 1951 den Betrieb aufnahm. Der Ausbau der Kasernierten Volkspolizei (KVP) zu einer regulären Armee kostete vom Sommer 1952 bis Mitte 1953 über zwei Milliarden Mark, die im laufenden Wirtschaftsplan nicht vorgesehen waren. Die zusätzlichen Militärausgaben machten 13 Prozent der Ausgaben im Staatshaushalt für das Jahr 1953 aus. Hinzu kamen jährliche Reparationsverpflichtungen in Höhe von 1,1 Milliarden und jährliche Besatzungskosten von 2,1 Milliarden Mark.

Die oberste Planungsbehörde, die Staatliche Plankommission (SPK), versuchte, das Finanzproblem durch das Streichen von Subventionen und durch Preiserhöhungen zu lösen. Das Finanzministerium erhöhte die Steuern und Abgaben für den Mittelstand, für Handwerker, private Unternehmer sowie Großbauern und schloss die Selbstständigen aus der bis dahin allgemeinen Kranken- und Sozialversicherung aus. Ab dem Herbst 1952 ermöglichten verschiedene Verordnungen, Steuerrückstände rigoros einzutreiben, Kredite zu kündigen bzw. neue zu verweigern und letztlich auch private Unternehmen zu konfiszieren. Bei Nichterfüllung der Zahlungsverpflichtungen drohte der gewaltsame Entzug des Eigentums. Die Folgen waren Produktionsrückgänge und Bankrotte im privaten Unternehmerbereich, der im Jahre 1952 immerhin 20 Prozent der industriellen Bruttoproduktion erbrachte. Aufgrund der Verflechtung von privater und staatlicher Industrie mussten die staatlichen Eingriffe die gesamte Wirtschaft treffen. Da die privaten Unternehmer lebenswichtige Gebrauchsgüter produzierten, häuften sich die Engpässe in der Versorgung. In der Folge drastischer Preiserhöhungen stiegen die Lebenshaltungskosten für alle Bevölkerungsgruppen.

Ähnlich gravierend wirkte sich der Kurswechsel in der Landwirtschaftspolitik aus. Im Herbst 1952 setzte massiver staatlicher Druck zur Bildung von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) ein. Als die wirtschaftlichen Erfolge ausblieben, wurde die Schuld den "reaktionären Großbauern" zugewiesen, was laut SED-Propaganda als Beweis für die Verschärfung des "Klassenkampfes" auf dem Lande galt. Zugleich erhöhte sich der ökonomische und administrative Druck auf die bäuerlichen Wirtschaften. Das Ablieferungssoll für die privaten Bauernwirtschaften erreichte im Jahre 1953 eine Höhe, die ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit völlig überforderte. Landwirte, die ihr Ablieferungssoll nicht vollständig erfüllten, wurden zu Geld- oder Haftstrafen verurteilt. Nicht wenige wurden zwangsweise enteignet und ihre Höfe den sich neu bildenden Genossenschaften zur Bewirtschaftung übergeben. Die rigide Landwirtschaftspolitik gegen selbstständige Bauern zielte darauf, das private Eigentum an den Produktionsmitteln und dem Boden abzuschaffen. Sie bewirkte, dass viele betroffene Bauern in die Bundesrepublik abwanderten.

Das rigide Vorgehen von Polizei und Justiz gegen angeblich oder tatsächlich verübte Wirtschaftsverbrechen prägte auch die innenpolitische Atmosphäre. Die Strafverfolgung bei Verstößen gegen das geltende Wirtschaftsrecht erfuhr eine weitere Verschärfung durch das im September 1952 verabschiedete "Gesetz zum Schutz des Volkseigentums" sowie durch eine neue Strafprozessordnung. Bereits für geringe Vergehen wie Diebstahl oder Unterschlagungen von geringfügigem Wert wurden langjährige Zuchthausstrafen verhängt. Bis Ende März 1953 wurden über 10000 Personen auf der Grundlage derartiger Verfehlungen gerichtlich belangt. Die Zahl der sich in Haftanstalten der DDR befindlichen Personen stieg im Zeitraum von Mitte 1952 bis Mitte 1953 von 30000 auf 61 000.

Das SED-Politbüro führte die sich dramatisch mehrenden ökonomischen Schwierigkeiten auf das Wirken von außen eingeschleuster Agenten und den Einfluss innerer Feinde zurück. In das Visier politischer Anklage gerieten vor allem das Ministerium für Handel und Versorgung sowie verschiedene Staatssekretariate (Energieversorgung und Kohle), in denen nach "Saboteuren" als Verursacher der Wirtschafts- und Versorgungskrise gesucht wurde. Im Dezember 1952 wurde der liberaldemokratische Minister für Handel und Versorgung, Karl Hamann, unter dem Vorwurf verhaftet, die Versorgung der Bevölkerung systematisch sabotiert zu haben. Er wurde im Juli 1954 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Mit Schauprozessen heizte die SED-Führung den selbst erklärten "Klassenkampf" an, um auf diese Weise ihre eigene Politik und deren theoretische Untermauerung zu rechtfertigen.

Der "Aufbau des Sozialismus" und der "Klassenkampf von oben" verstärkten die Massenflucht. Im Jahre 1952 verließen rund 232 100 Menschen die DDR in Richtung Bundesrepublik; ihre Zahl stieg im Folgejahr auf insgesamt circa 408 100. In internen Berichten war von 120000 Flüchtlingen in den ersten vier Monaten des Jahres 1953 die Rede. Darunter befanden sich auch 2718 SED-Mitglieder, was für die Parteiführung alarmierend sein musste. (Zahlenangaben nach: Ilko-Sascha Kowalczuk u. a. (Hg.), Der Tag x – 17. Juni 1953, Berlin 1995).

Der 17. Juni 1953 und seine Folgen

Der "Neue Kurs"

Die Reichweite der aufbrechenden Herrschaftskrise in der DDR ließ die Parteispitze trotz vorliegender Informationen zunächst unbeeindruckt. Vor allem schenkte die politische Führung den sozialen Spannungen und Konflikten unter den Arbeitern kaum Beachtung. Der im Februar 1953 verkündete "Feldzug für strengste Sparsamkeit" mutete ihnen eine Kürzung von Lohnzuschlägen sowie Rückstufungen in niedrigere Lohngruppen zu. Eine pauschale Erhöhung der Arbeitsnormen im Mai 1953 sollte faktisch zu niedrigeren Löhnen führen.

Im Juni 1953 leitete die SED-Führung unter dem Stichwort "Neuer Kurs" schließlich zaghafte Korrekturen ihrer Politik ein, die ihr am 2. Juni 1953 von der sowjetischen Führung auferlegt worden waren. Nach dem Tod Stalins am 5. März 1953 sorgten sich dessen Nachfolger um die rapide abnehmende politische Stabilität der DDR, die Unzufriedenheit und die Flucht der Bevölkerung. Zur Besserung der Lage schlugen sie vor, von der "Forcierung des Aufbaus des Sozialismus" Abstand zu nehmen. So war dann im Kommuniquè des SED-Politbüros vom 9. Juni 1953 zu lesen, dass man "in der Vergangenheit eine Reihe von Fehlern" begangen hätte. Erwähnt wurden die vorgenommenen Änderungen der Lebensmittelkartenzuteilung, die Übernahme enteigneter oder verlassener bäuerlicher Betriebe, die rigide Eintreibung des landwirtschaftlichen Abgabesolls, die Methoden der Steuererhebung sowie die Maßregelungen von Mitgliedern der Jungen Gemeinde. Das Politbüro versprach, die in diesen Bereichen begangenen "Fehler" alsbald zu korrigieren. Ebenso wurde in Aussicht gestellt, die "Lebenshaltung" aller sozialen Gruppen zu verbessern.

Ein entscheidendes Problem klammerte der "Neue Kurs" jedoch aus: Die Belastungen der Industriearbeiter fanden keine Erwähnung. Die am 28. Mai 1953 erlassene Verfügung des Ministerrates der DDR, die eine Erhöhung der Arbeitsnorm in allen Betrieben der volkseigenen Industrie um durchschnittlich zehn Prozent zum Inhalt hatte, wurde nicht zurückgenommen. Das bedeutete eine reale Lohnsenkung von 25 bis 30 Prozent. Als Termin für das Inkrafttreten der administrativ verordneten Normerhöhung wurde der 30. Juni, der Tag des 60. Geburtstages von Walter Ulbricht, festgesetzt. Die Arbeiter empfanden diese Terminsetzung als beißenden Hohn. Sie sahen sich durch den "Neuen Kurs" keineswegs entlastet, sondern sollten im Gegenteil die Hauptlasten der wirtschaftlichen Krise tragen. Als am 16. Juni 1953 die Gewerkschaftszeitung "Tribüne" verkündete, dass die Beschlüsse über die Erhöhung der Arbeitsnormen "in vollem Umfang richtig" seien und aufrechterhalten bleiben würden, brachte diese Mitteilung das Fass zum Überlaufen.

Der Aufstand am 17. Juni 1953

An der Berliner Stalinallee legten die Bauarbeiter die Arbeit nieder. Am 16. Juni formierte sich ein Demonstrationszug in Richtung Stadtzentrum, um beim Ministerrat die Herabsetzung der Normen zu fordern. Vor dem "Haus der Ministerien" gab Indus- trieminister Fritz Selbmann bekannt, dass der Normenbeschluss vom 28. Mai zurückgenommen sei, ehe er von den aufgebrachten Demonstranten am Weiterreden gehindert wurde. Andere SED-Spitzenfunktionäre hatten gar nicht erst den Mut aufgebracht, beschwichtigend vor die Menge zu treten. Die Rücknahme der Normerhöhung konnte die Protestbewegung nicht mehr stoppen. Nunmehr wurden Forderungen nach Rücktritt der Regierung sowie freien Wahlen erhoben. Aus dem Protestmarsch erwuchs ein Aufstand, der in den darauffolgenden Tagen nahezu alle Bevölkerungsschichten erfasste.

Am 17. Juni 1953 hatten sich die Demonstrationen weit über Ost-Berlin hinaus ausgeweitet. In mehr als 560 Orten wurde an diesem und den darauffolgenden Tagen gestreikt, demonstriert, oder es wurden die örtlichen Machtzentralen gestürmt. Auf Belegschaftsversammlungen diskutierte man heftig, spontan wurden Betriebsräte, Streikkomitees und Belegschafts-Ausschüsse gewählt. Alles, was sich bisher angestaut hatte und nie offen in Versammlungen ausgesprochen worden war, brach sich jetzt Bahn. Die stärkste Streikbewegung gab es in den Industriezentren Halle, Merseburg und Magdeburg sowie im Industriebezirk Leipzig und in Ost-Berliner Betrieben. Am 17. Juni 1953 geriet das Herrschaftssystem der SED das erste Mal an den Rand des Zusammenbruchs.

Die SED-Führung sah letztlich keinen anderen Ausweg, als das sowjetische Militär zu Hilfe zu rufen. Um die Mittagsstunde des 17. Juni verhängte der sowjetische Militärkommandant von Ost-Berlin den Ausnahmezustand in der Stadt. In fast allen Bezirkshauptstädten herrschte Kriegsrecht, es wurde nacheinander auf 51 Kreisstädte, ganze Bezirke und Landkreise ausgedehnt. Der Aufstand konnte nur mit militärischer Gewalt niedergeschlagen werden. Er verdeutlichte, dass die Präsenz sowjetischer Truppen in der DDR für den Machterhalt der SED unverzichtbar war.

QuellentextArbeitsniederlegung in der Stalin-Allee

Bericht des Zeitzeugen Horst Schlaffke, der als Maschinist in Block C-Süd der Stalin-Allee arbeitete.
Etwa um 9.15 Uhr [am Morgen des 16. Juni – Anm.d.Red.] hörte ich meine Kollegen rufen: "Schaut mal auf die Straße!" Draußen kamen die Bauarbeiter von Block 40 und trugen voran ein Transparent, auf welchem stand: "Wir fordern Herabsetzung der Normen". Überall hieß es auf dem Bau: "Kommt, kommt, laßt alles stehen und liegen." Mindestens 90 % von unserem Bau marschierten mit. Wir gingen zunächst in einer großen kreisförmigen Bewegung an allen Baustellen vorbei. "Berliner, reiht euch ein, wir wollen keine Sklaven sein!" riefen wir nach allen Seiten.
Am Alexanderplatz stoppte der Verkehrspolizist den ganzen Verkehr, damit unser Zug ungehindert passieren konnte. [...]
Die Bauarbeiter von der Staatsoper nahmen wir mit. Vor der Linden-Universität riefen wir: "Studenten reiht euch ein. Unterstützt die Arbeiter." Einige Studenten [...] traten in unseren Zug ein. In der Nähe der Wilhelmstraße fuhr direkt vor unserem Zug ein roter BMW bzw. EMW, wie es in der Sowjetzone jetzt heißt. Zwei Funktionäre stiegen aus und redeten auf uns ein. Sie liefen Gefahr, überrannt zu werden, und nun stiegen sie aufs Dach ihres Autos und gestikulierten wild. "Macht keinen Unsinn!" riefen sie. "Marschiert nicht in die Westsektoren. Vermeidet unnötiges Blutvergießen." "Wollt ihr denn auf uns schießen?" fragten wir. "Wenn ihr rüberkommt, dann schießen die auf euch", sagte einer. Wir brüllten vor Lachen und gaben dem großen Zuge bekannt, was sich vorne abgespielt hatte. Alles lachte. Die Funktionäre wurden von ihrem Wagendach heruntergezogen.

Ilse Spittmann, Karl Wilhelm Fricke (Hg.), 17. Juni 1953, Köln 1982, S. 118

Nach bekanntem Muster sprach die SED-Führung die Schuld für den Aufstand "feindlichen Agenten und Provokateuren" zu. Die offiziellen DDR-Medien behaupteten, es habe ein "faschistischer Putschversuch" mit Hilfe des Westens stattgefunden. In der Zeit nach dem 17. Juni gingen Polizei und Justiz gegen die Anführer der Demonstrationen und Streiks mit aller Härte vor. Zwischen 8000 und 10000 Menschen wurden festgenommen, mindestens 25 hatten ihr Leben verloren.

QuellentextDie Volkserhebung am 17. Juni

Am Morgen des 17. Juni stand Ostberlin, stand die DDR im Zeichen der Volkserhebung.
Es kam zu tumultartigen Szenen in den Straßen Ostberlins. Ich sah, wie Funktionärsautos umgeworfen, Transparente und Losungen, auch Parteiabzeichen abgerissen und verbrannt wurden.[...]
Als ich morgens zu dem mir zugeteilten volkseigenen Großbetrieb Bergmann-Borsig in Berlin-Wilhelmsruh kam, wurde dort keine Hand gerührt. Die Arbeiter diskutierten am Arbeitsplatz und führten in den Hallen kleine Versammlungen durch. Vertrauensleute nahmen von Abteilung zu Abteilung miteinander Verbindung auf, um eine Versammlung der gesamten Belegschaft herbeizuführen. Vor kurzem war hier ein sogenanntes Kulturhaus mit einem riesigen Saal fertiggestellt worden, der allen Belegschaftsangehörigen Platz bot. [...]
In diesem Moment, da die Arbeiter hier in Aktion versammelt waren, so fuhr es mir durch den Kopf, und nur für die Dauer dieser Aktion, gehört dieser Betrieb wahrhaft ihnen. [...]
Das war eine elementare, leidenschaftliche Auseinandersetzung, eine historische Abrechnung mit dem SED-Regime.[...] Namen von Arbeitskollegen aus dem Betrieb wurden genannt, die verhaftet, verurteilt, mißhandelt worden waren, deren Angehörige nichts mehr von ihnen gehört hatten.
Es wurde eine Entschließung angenommen, die den gewählten Arbeitsausschuß bevollmächtigte, die wirtschaftlichen und politischen Interessen der Belegschaft zu vertreten und sich mit ähnlichen Ausschüssen in anderen Betrieben in Verbindung zu setzen. Als politisches Hauptziel wurde die Wiedervereinigung Deutschlands durch freie demokratische Wahlen gefordert.
Am Schluß der Versammlung sprang ein Arbeiter auf das Podium und forderte die Belegschaft auf, sich mittags am Betriebstor zu versammeln, um in das Stadtzentrum zu demonstrieren – überall wären bereits derartige Streikdemonstrationen im Gange.
Der Demonstrationszug kam nicht weit. Um 13 Uhr war der Ausnahmezustand eingetreten. General Dibrowa, der sowjetische Stadtkommandant, hatte ihn verhängt. Unmittelbar darauf kämmten sowjetische Truppen die Straßen durch. Die Bergmann-Borsig-Demonstration wurde aufgelöst, die "Rädelsführer" – darunter der sozialdemokratische Vorsitzende des soeben gewählten Betriebsausschusses – verhaftet. Welch glorreiche Aktion der Sowjet(Räte)macht gegen die Räte.

Heinz Brandt, Ein Traum, der nicht entführbar ist. München 1967, S. 240f.

In: Hermann Weber (Hg.), Kleine Geschichte der DDR, Köln 1980, S. 69

Aber auch gegen Kritiker in den eigenen Reihen griff die SED-Führung kompromisslos durch. Die Spitzenfunktionäre Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur der Parteizeitung "Neues Deutschland" und zugleich Kandidat des Politbüros, sowie der Chef der Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, hatten intern eine partielle Kurskorrektur und moderate Praktiken der Herrschaftsausübung gefordert. Beide wurden aus der Führung und der Partei ausgeschlossen. Auch die Parteibasis blieb nicht verschont: Von Juli 1953 bis März 1954 wurden 23 173 Mitglieder aus der SED ausgeschlossen, die sich in den Augen der Führung während der entscheidenden Stunden als wankelmütig und unzuverlässig erwiesen hatten.

QuellentextDer Aufstand aus Sicht der SED

In West-Berlin wurden [...] systematisch Kriegsverbrecher, Militaristen und kriminelle Elemente in Terrororganisationen vorbereitet und ausgerüstet. [...]
Der Gegner benutzte zur Auslösung seiner Provokation die Mißstimmung einiger Teile der Bevölkerung, die durch Folgen unserer Politik im letzten Jahr entstanden waren. [...]
Er warf [...] seine mit Schwefel-, Phosphor- und Benzinflaschen sowie mit Waffen ausgerüsteten Banditenkolonnen über die Sektorengrenzen mit der Aufgabe, die Arbeitsniederlegung ehrlicher Bauarbeiter durch Hetzlosungen in eine Demonstration gegen die Regierung umzufälschen und dieser Demonstration durch Brandstiftungen, Plünderungen und Schießereien den Charakter eines Aufruhrs zu geben. [...]
So sollte in der Deutschen Demokratischen Republik eine faschistische Macht errichtet und Deutschland der Weg zur Einheit und Frieden verlegt werden.

Beschluß des ZK der SED vom 21. Juni 1953: "Über die Lage und die unmittelbaren Aufgaben der Partei", Dokumente der SED, Bd. IV, S. 436ff.

In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg,), Informationen zur politischen Bildung Nr. 231 "Geschichte der DDR", Bonn 1991, S. 61

Zwischen Krise und Konsolidierung

Ausbau des Machtapparates

Der Schock über die Rebellion der Arbeiter saß tief. Die SED-Führung sah sich als Folge der offenen Konfrontation zwischen Volk und Staatspartei zu Korrekturen ihrer Politik gezwungen, die bis zum Ende der DDR wirkten. Sozialpolitik entwickelte sich fortan zu einem prägenden Strukturelement. Im Rahmen des "Neuen Kurses" gab es Aufbesserungen für untere Lohngruppen sowie bei Renten. Als Ergebnis von Preissenkungen wuchs die Kaufkraft der Bevölkerung um mehr als eine halbe Milliarde Mark. Es lebte sich wieder leichter in der DDR. Subtilere Herrschaftsmethoden sollten die Grundstrukturen des Gesellschaftssystems bewahren.

Als weitere Reaktion auf den 17. Juni veranlassten Partei und Regierung eine Neuordnung der militärischen Machtstrukturen. Seit September 1953 wurden die bewaffneten "Betriebskampfgruppen" personell verstärkt, welche auf Veranlassung der SED bereits Mitte 1952 als paramilitärische Verbände in staatlichen Betrieben und Einrichtungen entstanden waren. Die Einheiten der Kasernierten Volkspolizei (KVP) formierten sich nun als reguläre Streitkräfte in Form der Nationalen Volksarmee (NVA), die offiziell am 1. März 1956 gegründet wurde. Die allgemeine Wehrpflicht für alle Männer zwischen dem 18. und 50. Lebensjahr wurde im Januar 1962 eingeführt. Aber auch in der Bevölkerung hatte der 17. Juni 1953 bleibende Wirkungen ausgelöst. Der Arbeiterschaft blieb wohl die Erinnerung an die durchschlagende Wirkung und die spontane Massensolidarität der Streiks und Demonstrationsmärsche, das Gefühl, es "denen da oben" einmal gezeigt zu haben. Doch vor allem wirkte die Erfahrung, dass der Versuch einer gewaltsamen Veränderung des politischen Systems unter den bestehenden Machtverhältnissen keine Aussicht auf Erfolg hatte. Desillusionierung und Verbitterung führten nicht selten zur Suche nach unpolitischen Nischen. Andere passten sich dauerhaft an, und es gab auch Fälle gesteigerter Loyalität gegenüber Partei und Staat. Nachdem der NATO-Beitritt der Bundesrepublik am 9. Mai 1955 feierlich vollzogen wurde, unterzeichnete auch die DDR am 14. Mai 1955 zusammen mit den anderen osteuropäischen Blockstaaten den Warschauer Vertrag als multilaterales Bündnis zur Koordinierung ihrer Militär- und Außenpolitik. Die neue sowjetische Führung unter Nikita Chruschtschow (im Amt seit dem 7. September 1953) betrachtete die DDR nun nicht mehr als Provisorium im Machtpoker ihrer Deutschlandpolitik. Auf der Genfer Gipfelkonferenz im Juli 1955 bezeichneten die USA, die UdSSR, Großbritannien und Frankreich zwar die Wiedervereinigung Deutschlands auf der Grundlage freier Wahlen als Voraussetzung für eine politische Entspannung in Europa. Auf praktische Schritte konnten sich die vier Regierungschefs jedoch nicht einigen. Seitdem sprach die Sowjetunion von der Existenz zweier deutscher Staaten. Dementsprechend schlossen am 20. September 1955 die DDR und die UdSSR einen Staatsvertrag ab. Damit wurde zwar der DDR die formal-staatliche Souveränität zuerkannt und das seit 1945 geltende Besatzungsrecht aufgehoben. Doch aufgrund der politischen, ökonomischen und militärischen Abhängigkeiten von der Sowjetunion war die Souveränität wesentlich eingeschränkt. Ein am 12. März 1957 zwischen beiden Staaten geschlossenes Abkommen regelte die "zeitweilige Stationierung sowjetischer Streitkräfte auf dem Territorium der DDR".

Kurzes Tauwetter 1956

Drei Jahre nach dem Juni-Aufstand sprach Chruschtschow in einer "geheimen" Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 "über den Personenkult und seine Folgen", über "Irrtümer, Fehler und Verbrechen Stalins", also über dessen exzessiven Machtmissbrauch und terroristische Herrschermentalität. In seiner Rede fehlte zwar jegliche Systemkritik, es war jedoch zu erwarten, dass sie eine Debatte über die Herrschaftspraxis der kommunistischen Staatsparteien Osteuropas auslösen würde, denn mit Stalin war dessen wichtigster Träger demontiert worden. Das politische Tauwetter, das sich danach in der Sowjetunion ausbreitete, bot auch in der DDR einigen überzeugten Sozialisten – wie etwa Wolfgang Harich, Walter Janka, Robert Havemann, Gerhard Zwerenz, Erich Loest – die Möglichkeit zur Kritik an der Herrschaftspraxis der SED. Die durch die sogenannte Abrechnung mit dem Personenkult um Stalin ausgelöste Debatte kreiste rasch um die Erneuerung des Sozialismus überhaupt. Viele Intellektuelle im Umfeld der SED sahen die DDR 1956 am Scheideweg zu einem "menschlichen Sozialismus" stehen. Im Mittelpunkt der Reformdebatten standen die Notwendigkeiten einer Wirtschaftsreform, einer Entbürokratisierung des Staates sowie die Frage nach der Legitimation der SED-Herrschaft. Mit der Jahreswende 1956/57 endete das politische Tauwetter in der DDR. Der Arbeiteraufstand im Juni 1956 in Pozna´n (Polen) sowie der bewaffnete Volksaufstand in Ungarn im Oktober/November 1956 hatten den Herrschenden in der DDR vor Augen geführt, dass ein Reformprozess in der kommunistischen Diktatur schnell zur Infragestellung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung führen konnte. Unter Hinweis auf die "konterrevolutionären" Ereignisse in Polen und Ungarn eröffnete die SED-Führung den Angriff auf jene Intellektuellen, die größere Diskussionsfreiräume und eine Reform des Sozialismus gefordert hatten. Das SED-Politbüro bezeichnete die kritischen Beiträge, die seit dem XX. Parteitag der KPdSU publiziert wurden, als "modernen Revisionismus" und sah in ihren Verfassern "Wegbereiter der Konterrevolution". Die im März und Juli 1957 abgehaltenen Prozesse vor dem Obersten Gericht der DDR bildeten den Auftakt zu einer Serie von Partei- und Gerichtsverfahren gegen jene, die seit dem Sommer 1956 für Veränderungen in Partei und Gesellschaft eingetreten waren. Eine in ihrer Dimension vergleichbare Diskussion über die Herrschaftspraxis der SED in der Gesellschaft hat es bis zum Herbst 1989 nie wieder gegeben.

Die Wirtschaft in den 1950er Jahren

Am 1. Januar 1954 endeten die Reparationslieferungen an die Sowjetunion, die bis dahin überwiegend aus Betrieben des Maschinen- und Schwermaschinenbaus sowie des Schiffbaus kamen. Zugleich wurden die Sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG), die zuvor ausschließlich für Reparationsleistungen produzierten, in staatliches Eigentum der DDR überführt. Eine Ausnahme blieb die SAG Wismut, die in Thüringen und Sachsen Uran abbaute und am 1. Januar 1954 als Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft (SDAG) neu gegründet wurde. Das durch die SDAG Wismut im Erzgebirge sowie in Ostthüringen geförderte Uranerz diente als wichtiges Ausgangsmaterial für Kernkraftwerke zur Energiegewinnung und für den Bau von Kernwaffen. Die DDR war damals weltweit der drittgrößte Uranproduzent; die SDAG Wismut genoss daher eine gewisse Sonderstellung. Bis 1960 kletterte der Anteil des staatlichen Sektors in der Industrie – gemessen am Bruttosozialprodukt – auf 89 Prozent. Mit dem uneingeschränkten Zugriff auf die industriellen Ressourcen begann ein wachsendes Heer von Funktionären im Partei- und Staatsapparat damit, die Wirtschaft und den ordnungspolitischen Strukturwandel strategisch zu planen. Mit dem ersten Fünfjahrplan für die Jahre von 1951 bis 1955 ging die DDR-Ökonomie endgültig den Weg einer Planwirtschaft sowjetischen Typs, bei dem die Produktion und Konsumtion von Gütern sowie Preise und Löhne vollständig von einer zentralen Instanz festgelegt wurden.

QuellentextHauptaufgaben des ersten Fünfjahrplans

"1. Im Interesse des gesamten deutschen Volkes und des Kampfes um die Einheit des demokratischen Deutschlands ist eine schnelle Entwicklung der Produktivkräfte der Republik zu gewährleisten. Bis zum Ende des Jahrfünfts muß die friedliche Industrieproduktion im Verhältnis zum Stand des Jahres 1950 ein Ausmaß von 190 Prozent erreichen. Die vorgesehene Erhöhung der industriellen Produktion bedeutet die Verdoppelung der Produktion im Vergleich zum Jahre 1936. [...]
2. Auf der Grundlage des Wachstums der Produktion und durch die Beseitigung der schweren Kriegsfolgen muß der Vorkriegslebensstandard der Bevölkerung erreicht und zum Ende des Fünfjahrplans bedeutend überschritten werden. Das gilt im besonderen für den Verbrauch von Nahrungsmitteln und wichtigen Industriewaren pro Kopf der Bevölkerung. [...]"
Zur ökonomischen Politik der SED und der Regierung der DDR. Berlin (Ost) 1955, S. 69f. In: Hermann Weber (Hg.), Kleine Geschichte der DDR, Köln 1980, S. 61f.

Die Staatliche Plankommission (SPK) erhielt vom Ministerrat der DDR den Auftrag, die Entwürfe für die Wirtschaftspläne auszuarbeiten und der Regierung zur Beschlussfassung vorzulegen. Sie betrafen auch den gesamten Außenhandel, der sich vollständig in staatlicher Hand befand. Als ersten Chef der SPK berief die Volkskammer Heinrich Rau (1950-1952); es folgten Bruno Leuschner (1952-1961), Erich Apel (1961-1965) und Gerhard Schürer (1965-1989). Die SPK bekam ferner die Aufgabe zugewiesen, langfristige Wirtschaftsprogramme auszuarbeiten, die DDR-Ökonomie auf Schwerpunkte der industriellen Produktion auszurichten, wirtschaftliche Ergebnisse zu begutachten und über die Zuteilung von Ressourcen (Mittelvergabe, Kapazitäten, technische Infrastruktur) zu entscheiden. Auf diese Weise wurden staatliche Vorgaben für bestimmte Zeiträume in ganz konkrete und detaillierte Pläne (Fünfjahres- und Jahrespläne) umgesetzt, die für alle Industriebetriebe, aber auch für die Landwirtschaft und Wissenschaft verbindlich waren. Die zentral gesteuerte ostdeutsche Wirtschaft wuchs zunächst rasch. Das durchschnittliche jährliche Wachstum des Bruttosozialprodukts fiel mit 5,7 Prozent für den Zeitraum der 1950er Jahre nur unwesentlich geringer aus als das in der Bundesrepublik (6,2 Prozent). Die industrielle Bruttoproduktion konnte in den Jahren 1958 und 1959 sogar um 11 bzw. 13 Prozent gesteigert werden und übertraf damit die ursprünglichen Planziffern. Der Umfang des produzierten Nationaleinkommens wuchs von 1950 bis 1960 auf das 2,5fache. Diese Wachstumsdynamik ging allerdings mit einer Umstrukturierung der Wirtschaft zugunsten der Metallurgie und des Schwermaschinenbaus einher. Die knappen Ressourcen flossen vorrangig in den Neubau großer Werke in der bislang unterentwickelten Schwerindustrie. Für den Ausbau der Stahlwerke Brandenburg, Hennigsdorf, Riesa, Gröditz und Freital wurden große Investitionssummen bereitgestellt. Ab 1955 verlagerten sich die Investitionen auf die Energieerzeugung, den Leichtmaschinenbau und die chemische Industrie. Mit dem Bau des Braunkohlekombinats "Schwarze Pumpe" im November 1958 und dem "Chemieprogramm" nahm die politische Führung anspruchsvolle Industrieprojekte in Angriff. Das 1958 verkündete "Chemieprogramm" versprach der Bevölkerung "Brot, Wohlstand und Schönheit". Zugleich trieben Partei und Regierung die möglichst rasche Nutzung der Kernenergie und die Automatisierung in der metallverarbeitenden Industrie voran.

QuellentextInnovation aus eigener Kraft – das Chemieprogramm

Im November 1958 wurde das Chemieprogramm ("Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit") verabschiedet. Ziel waren die Verdoppelung der Chemieproduktion bis 1965, wobei die Produktion von Kunststoffen und synthetischen Fasern noch wesentlich stärker wachsen sollte, und der Übergang zur Petrochemie. Wichtigste Vorhaben waren der Bau der Erdölleitung "Freundschaft" und des Erdölverarbeitungswerks Schwedt an der Oder, die Entwicklung einer eigenen Technologie zur tieferen Spaltung des Erdöls, der Bau eines modernen Produktionskomplexes für die Petrochemie (Leuna II) sowie der Bau des Chemiefaserwerkes Guben.
Hinter den angepeilten Wachstumsraten bei modernen, auf petrochemischer Basis herzustellenden Produkten trat in der öffentlichen Darstellung die Kehrseite des Programms zurück. Es zielte nämlich auch auf eine Ausweitung der Kohlechemie. Diese Zweigleisigkeit widerspiegelte das industriepolitische Dilemma der DDR. Nur ein Teil der veralteten Kohleveredlungsanlagen wurde stillgelegt. Erst ab Mitte der 1960er Jahre, nach der Fertigstellung der Erdölpipeline "Freundschaft", war überhaupt ein nennenswerter Rohölimport möglich. Die enorm aufwendigen Versuche, eigene Erdölvorkommen zu erkunden, scheiterten ebenso wie die Bemühungen der DDR, mit arabischen Staaten Rohölverträge abzuschließen. Einziger großer Lieferant blieb letztlich die Sowjetunion. Die Verfügbarkeit von Öl und Gas setzte demnach dem Strukturwandel in der chemischen Industrie der DDR die entscheidende Grenze.
Das Chemieprogramm von 1958 stellte einen Versuch zum Nachvollzug von Innovationen aus eigener Kraft dar. Das weitere Zurückfallen der DDR-Chemie sollte gestoppt werden. Doch bereits im März 1961 musste die Abteilung Grundstoffindustrie des ZK der SED feststellen: "Das Chemieprogramm existiert nach dem gegenwärtigen Stand der Planung nicht mehr. [...] Wir werden mit absoluter Sicherheit zu einem zweitrangigen Chemieland absinken, wenn die gegenwärtig geplante Entwicklung beibehalten wird. [...] Selbst wenn wir das im Chemieprogramm der DDR ursprünglich vorgesehene Tempo der Entwicklung beibehalten, würden wir 1965 weiter hinter Westdeutschland zurückliegen als zu Beginn des Chemieprogramms." [...]
In Osteuropa fand die DDR-Chemie kaum gleichwertige Partner, und in Richtung Westen waren ihre Kooperationsmöglichkeiten aus politischen Gründen begrenzt. Ein kleines Land wie die DDR konnte jedoch unmöglich alle wichtigen chemischen Verfahren und Technologien aus eigener Kraft entwickeln. [...]

Rainer Karlsch, "Weltniveau", in: Thomas Großbölting (Hg.), Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand, Berlin 2009, S. 34 f.

Die Bevölkerung der DDR profitierte vom Wirtschaftsaufschwung. Im Laufe der 1950er Jahre gelang es, ihren Lebensstandard spürbar zu verbessern. Der Pro-Kopf-Verbrauch an wichtigen Nahrungsmitteln, der 1950 nur ein knappes Drittel dessen betragen hatte, was 1935/38 verfügbar war (zwei Fünftel bei Fleisch, etwas mehr als die Hälfte bei Nahrungstitel3en und Zucker), erreichte bzw. übertraf ab Mitte der 1950er Jahre das Niveau von 1936. Die Abschaffung der Lebensmittelkarten 1958 führte zu einem sprunghaften Anstieg des Butterverbrauchs um ein Viertel und übertraf den Vorkriegsverbrauch damit um das Anderthalbfache. Auch die Nettogeldeinnahmen eines durchschnittlichen Arbeiterhaushaltes verdoppelten sich von 1949 bis 1960. Doch gleichzeitig herrschte empfindlicher Mangel an technischen Konsumgütern (Rundfunkempfänger, Haushaltskühlschränke und Waschmaschinen) sowie an modischer Kleidung und Schuhen, die aufgrund noch offener Grenzen im westdeutschen Nachbarland beschafft werden konnten. Die von 1950 bis 1961 neu gebauten bzw. instandgesetzten 500000 Wohnungen reichten nicht aus, um den dringenden, nachkriegsbedingten Bedarf zu befriedigen. Der direkte Vergleich mit dem westdeutschen "Wirtschaftswunder" machte die grundlegenden Mängel des planwirtschaftlichen Systems sichtbar: Durch die deutliche Fixierung auf die quantitative Erfüllung der Wirtschaftspläne ("Tonnenideologie") geriet die Qualität der Produkte aus dem Blickfeld. Hatte beispielsweise das VEB Werkzeugmaschinenwerk "Fritz Heckert" in Karl-Marx-Stadt die Auflage bekommen, Dreh- und Schleifmaschinen in einem mit Tonnen angegebenen Umfang zu produzieren, so konnte dieser Betrieb diese Auflage durch die Produktion weniger, aber sehr schwerer Drehbänke erfüllen. Dagegen hätte eine Auflage in Stückzahlen dazu führen können, dass dieser Betrieb viele und möglichst leichte Drehbänke produzierte. Damit ließ sich zwar erfolgreich ein expansives Wirtschaftswachstum stimulieren. Doch für ein ökonomisch rationales Verhalten unter Beachtung von Qualität, Produktivität und Rentabilität sowie für ein intensives, ressourcensparendes Wachstum fehlten die finanziellen Anreize. Da die eigene Konsumgüterindustrie bis zuletzt nicht ausreichend in der Lage war, qualitativ hochwertige, langlebige Gebrauchsgüter bereitzustellen, übte das deutlich sichtbare Anwachsen des Wohlstandes in Westdeutschland und West-Berlin im Verlauf der 1950er Jahre eine enorme Sogwirkung auf die ostdeutsche Bevölkerung aus. Das Wohlstandsniveau Westdeutschlands wurde zum Gradmesser für die Bewertung der ostdeutschen Versorgungssituation. In den Jahren von 1950 bis 1961 verließen circa 1,3 Millionen Personen im Alter zwischen 20 und 50 Jahren den SED-Staat in Richtung Bundesrepublik. Damit verlor Ostdeutschland wichtige Arbeitskräfte. Bis 1957 galt die Übersiedlung in die Bundesrepublik nicht als illegal. Ab Dezember 1957 wurde die "Republikflucht" strafbar. Auch die Kriminalisierung sowie die verstärkte Überwachung, Beobachtung und Kontrolle durch Polizei und Staatssicherheit konnten die Fluchtbewegung in Richtung Westdeutschland und West-Berlin in den folgenden Jahren nicht nennenswert aufhalten.

Der Wettstreit der Systeme

Seit dem XX. Parteitag der KPdSU vom Februar 1956 ging die sowjetische Führung von der Möglichkeit aus, durch einen Modernisierungsschub die marktwirtschaftlich hoch entwickelten Gesellschaften der westlichen Industriestaaten ökonomisch, kulturell und politisch überflügeln und die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus beweisen zu können. Die bisherigen Wirtschaftserfolge nährten die Illusion, dass sich die Überlegenheit der zentral gelenkten Planwirtschaft mit Hilfe des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) – eine 1949 gegründete Wirtschaftsgemeinschaft osteuropäischer Staaten unter Führung der Sowjetunion – in kurzer Zeit zeigen werde. Auch die SED-Führung stellte den Systemwettbewerb in den Mittelpunkt ihrer Politik. Der "Sozialismus siegt" hieß die zentrale Losung des V. Parteitages der SED vom Juli 1958. Parteichef Ulbricht gab dort unter der Formel "Einholen und Überholen"das ökonomische Ziel aus, den Pro-Kopf-Verbrauch der Bundesrepublik bei allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern bis 1961 auch in der DDR zu erreichen und sogar zu übertreffen. Dahinter stand die Einsicht, dass nur eine höhere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit das System nach innen und außen hinreichend attraktiv gestalten, bei der Bevölkerung entsprechende Loyalität gewinnen und die politische und soziale Stabilität in der DDR festigen könnte. Die Abhängigkeit der politischen Legitimation vom wirtschaftlichen Erfolg setzte allerdings das Herrschaftssystem unter einen Erfolgszwang, der das Risiko vollständigen Scheiterns barg.

Kollektivierung in der Landwirtschaft

Die Landwirtschaft war stets das Sorgenkind von Partei und Regierung. Die bäuerliche Welt und ihre Eigenheiten blieben der SED-Führung fremd. Erfolgreiche bäuerliche Betriebe hatten kaum Interesse daran, sich in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) zusammenzuschließen. Bis 1960 hatten sich nur 3,2 Prozent der Einzelbauern entschlossen, einer Genossenschaft beizutreten. Nachdem jedoch im September 1959 Parteichef Ulbricht das Ziel proklamierte, den Sozialismus zum Siege zu führen, kämpfte die SED-Führung um "sozialistische Produktionsverhältnisse" auf dem Lande. Im Januar 1960 startete die Parteiführung eine massive Kampagne für die Kollektivierung auf dem Lande. Viele Bauern sahen sich vor die Wahl gestellt, "freiwillig" den Genossenschaften beizutreten oder in den Westen zu flüchten. Massive Werbung, militante Agitation, Repression und Verhaftungen führten zu dem gewünschten Ergebnis: Bis zum April 1960 trat die Mehrzahl der bisherigen Einzelbauern den LPGs bei. Die Genossenschaften bewirtschafteten knapp 85 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Hinzu kamen weitere sechs Prozent, die von Volkseigenen Gütern (VEG) betrieben wurden. Damit hatten in der Landwirtschaft die "sozialistischen Produktionsverhältnisse" – entsprechend der marxistisch-leninistischen Doktrin – gesiegt. Die gewaltsame Kollektivierung trug mit dazu bei, dass der Flüchtlingsstrom nach Westen erneut anschwoll und sich wiederum die Produktions- und Versorgungsstörungen häuften. Eine verheerende Missernte im Jahre 1961 verschärfte die ohnehin schon eingetretene Versorgungskrise. Erst ab 1963/64 konnte die landwirtschaftliche Produktion durch neue Anbaumethoden sowie durch erhöhten Einsatz von Chemie und moderner Agrartechnik wieder gesteigert werden. Dennoch blieb das staatlich gelenkte Agrarsystem in seiner Produktionsleistung – auch in den übrigen Ostblockstaaten – immer hinter der Produktivität der Landwirtschaften westlicher Industriestaaten zurück. Im Unterschied zur Landwirtschaft wurde die Bildung von Genossenschaften im Handwerk und im Handel nicht mit der gleichen Radikalität vorangetrieben. Zwar förderte die Regierung den Zusammenschluss von Handwerksbetrieben in Produktionsgenossenschaften des Handwerks (PGH), so dass der Umsatzanteil des privaten Einzelhandels auf unter zehn Prozent fiel. Doch kamen auf das private Handwerk 1961 immerhin noch 65 Prozent der Leistungen in diesem Bereich.

Bildung und Kultur

Nachdem der Besuch der achtklassigen Grundschule 1946 gesetzlich verfügt worden war, folgten in den 1950er Jahren weitere Schulreformen. Die wichtigste Neuerung im Schulsystem bestand in der 1959 eingeführten "Zehnklassigen polytechnischen allgemeinbildenden Oberschule" (POS), an die eine mindestens zweijährige, zum Fachschulbesuch berechtigende Berufsausbildung anschloss. Der gesamte Unterricht an der Einheitsschule zielte darauf, einen engen Praxis- und Lebensbezug von Bildung, Unterricht und Erziehung herzustellen. In den Klassenstufen 9 bis 12 konnte an einer "Erweiterten Oberschule" (EOS) das Abitur absolviert werden. Über den Zugang zur EOS (Gymnasium) entschieden jedoch nicht allein Leistung und Befähigung, sondern in gleicher Weise politische Einstellung. Kinder mit christlich sozialisiertem Hintergrund hatten es grundsätzlich schwer, eine Zulassung zur EOS zu erhalten. Darüber hinaus gab es Betriebs- oder Kommunale Berufsschulen sowie Sonderschulen (Hilfs- und Behinderten-Schulen). Am Ende der 1950er Jahre besuchten im Durchschnitt 94 Prozent der Schüler die POS, drei Prozent die Sonderschulen, drei Prozent erwarben an der EOS das Abitur. Das Bildungskonzept der SED setzte allerdings nicht nur einen Schwerpunkt auf die Vermittlung von naturwissenschaftlicher Allgemeinbildung auf hohem Niveau, sondern ebenso auf die Erziehung nach den politisch-ideologischen Vorgaben des Marxismus-Leninismus. Darin hatte die Herausbildung eines neuen, "sozialistischen Bewusstseins" einen festen Platz. Mit dem "Bitterfelder Weg" (benannt nach einer Kulturkonferenz in Bitterfeld) startete die SED-Führung 1959 noch einmal eine große kulturpolitische Offensive, um Kunst und Literatur an politisch-ideologische und ökonomische Vorgaben zu binden. Unter Losungen wie "Greif zur Feder, Kumpel" wurden Arbeiter animiert, sich literarisch zu betätigen, um auf diese Weise an einer "sozialistischen Nationalkultur" mitzuwirken. Schriftsteller wurden aufgefordert, sich der sozialistischen Realität zu widmen und sich dabei Anregungen in den Industriebetrieben und Kohlebergwerken zu holen. "Kunst hilft Kohle" lautete ein damit verbundener Slogan. Kulturpolitisch wirkungsvoller als die literarischen Schilderungen über "Großbaustellen des Sozialismus" war hingegen die staatliche Subventionierung kultureller und künstlerischer Einrichtungen. Dies steigerte breitenwirksam den Besuch von Theatern, Konzertsälen, Museen und Kinos. Auf dem Land entwickelten sich neu erbaute Kulturhäuser zum kulturellen Anziehungspunkt. Auch Kulturhäuser der Betriebe wurden als zentrale Orte von Feiern und Tanzveranstaltungen zunehmend beliebter. Zu den wichtigsten kulturellen Höhepunkten gehörten die periodischen Kunstausstellungen, die seit 1946 alle vier Jahre in Dresden stattfanden. Schriftsteller wie Anna Seghers, Stefan Heym, Stephan Hermlin oder auch die Intendanten des Berliner Ensembles Helene Weigel und Bertolt Brecht standen für künstlerisch anspruchsvolle Versuche, sich den Problemen der damaligen Zeit zu stellen. Hinzu kam, dass mit Filmen solcher Regisseure wie Kurt Maetzig (Schlösser und Katen, 1956) und Slatan Dudow (Stärker als die Nacht, 1954) Produktionen der Deutschen Film AG (DEFA) auch international zur Kenntnis genommen wurden. Alle Schriftsteller, Künstler oder Regisseure hatten jedoch immer wieder mit politischen Reglementierungen und Disziplinierungen zu kämpfen, die mal stärker, mal schwächer ausfallen konnten.

QuellentextBitterfelder Lesefrucht

"Nehmen wir das Gedicht (‚Neues Deutschland‘, Beilage Kunst und Literatur vom 5. September 1959) des Wismutkumpels Reinhard Bernitzke, der schon lange literarisch schafft und Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren Karl-Marx-Stadt ist.

Schlafe, Söhnchen, schlafe ein,
Kumpelkind, das darf nicht schrein –
Vater schürft im Berge –
Trifft er dort die sieben Zwerge,
schenken sie dir Glitzerstein.
Schlafe, Söhnchen, schlafe ein!

Schlafe, Söhnchen, kleiner Wicht!
Vater in der Wechselschicht,
schießt die neuen Strecken.
Fürcht dich nicht in deinen Decken,
wenn es bumst, erschrick mir nicht!
Schlafe, Söhnchen, kleiner Wicht!

Schlafe, Sohnatsch, Kumpelsohn! Nach der Schicht wird dir de
in Lohn,
Vater kommt nach Hause. Und die Wanne und die Brause
Warten auf uns beide schon.
Schlafe, Sohnatsch, Kumpelsohn!

In diesem Gedicht, das sehr schön in kindgemäßer Sprache gehalten ist und in dem zugleich Dialektausdrücke verwendet werden, kommt die ganze Atmosphäre einer Bergarbeiterfamilie zum Ausdruck. Man sieht förmlich den Kumpel, der zu seinem im Bette liegenden Sohn spricht. Die Natürlichkeit wird noch durch das Zitieren von Märchenfiguren verstärkt, wodurch es eine besondere Note von Volksdichtung erhält. Zugleich werden aber weltpolitische Probleme sichtbar: ‚[...] schenken sie dir Glitzerstein‘, das klingt spielerisch, ist zugleich aber Ausdruck für das, was der Wismutkumpel schürft, nämlich Uran – Uran in des Volkes Hand, das dem Frieden dient. Darum kann das Gedicht diesen ein wenig idyllischen, freundlichen Ton haben, ohne zu verniedlichen. Es ist ein sozialistisches und realistisches Gedicht."

Einheit, H. 2/1960 (Schubbe, S. 612 f.) (der Autor, Willi Lewin, war Mitarbeiter des ZK der SED)

In: Manfred Jäger (Hg.), Kultur und Politik in der DDR, Köln 1982, S. 96

Personelle Zäsuren an der Spitze von Partei und Staat

Walter Ulbricht konnte im Lauf der 1950er Jahre seine uneingeschränkte Machtposition an der Spitze der SED schrittweise festigen. Die 15. ZK-Tagung wählte ihn im Juli 1953 zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees; bis dahin hatte er als Generalsekretär fungiert. Die neue Bezeichnung sollte lediglich die dominante Stellung des Parteichefs in der internen Hierarchie der SED verdecken; seine weitreichenden Machtbefugnisse blieben unangetastet. Die Ämter der Parteivorsitzenden, die seit 1946 Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl formell innehatten, wurden mit dem neuen Parteistatut von 1954 abgeschafft. Am Ende der 1950er Jahre gab es zu Ulbricht keine echte personelle Konkurrenz mehr. Präsident und Politbüromitglied Wilhelm Pieck starb am 7. September 1960, nachdem er bereits in den Jahren zuvor kaum noch zu politischen Entscheidungen in der SED und der DDR herangezogen worden war. Nach seinem Tod wurde das Amt abgeschafft. An die Stelle des Präsidenten trat ein Staatsrat, der von der Volkskammer gewählt wurde. Der Staatsrat konnte Gesetze verabschieden und übernahm in der Folgezeit zunehmend Regierungsaufgaben. Den Vorsitz im Staatsrat übernahm SED-Chef Walter Ulbricht, der damit in seiner Person eine große Machtfülle vereinigte.

Der Bau der Mauer

Im Laufe des Jahres 1960 häuften sich erneut die Zeichen einer inneren Krise in der DDR. Die ökonomischen Zielsetzungen des V. Parteitages von 1958 erwiesen sich als zu hoch gesteckt. Das selbst erklärte Ziel, die Bundesrepublik im Lebensstandard und beim Konsum zu übertreffen, konnte nicht mehr aufrecht erhalten werden. Nachdem ein bescheidener Aufschwung in vielen Volkswirtschaftsbereichen erzielt werden konnte, kam es 1960 flächendeckend zu erheblichen Einbrüchen bei der Produktion in Industrie und Landwirtschaft.

Flüchtlinge aus der DDR bis ins Jahr des Mauerbaus.

Angesichts der gravierenden Versorgungskrise stieg erneut die Zahl derjenigen, die die DDR in Richtung Bundesrepublik verließen. Im Jahre 1960 waren es rund 200000 Menschen, bis zum ersten Halbjahr des Jahres 1961 103 159. Die DDR verlor immer mehr junge und hoch qualifizierte Arbeitskräfte. Der Mauerbau im August 1961 war der verzweifelte Versuch der SED-Führung, den drohenden Kollaps der DDR und die damit verbundene eigene Machteinbuße zu verhindern. Mit ökonomischen Argumenten versuchte Ulbricht, die sowjetische Führung von der Notwendigkeit zu überzeugen, die Fluchtbewegung gewaltsam zu stoppen. Öffentlich bemühte sich der SED-Chef, derartige Absichten zu dementieren, indem er auf einer Pressekonferenz am 15. Juni 1961 auf die Frage einer westdeutschen Journalistin erklärte: "Niemand hat die Absicht eine Mauer zu bauen." In seiner politischen Propaganda verband Ulbricht die Abriegelung West-Berlins mit der angeheizten Berlin-Krise, die durch ein Ultimatum des sowjetischen Parteichefs Nikita Chruschtschow ausgelöst worden war. In einem Schreiben an die Westmächte vom 27. November 1958 hatte Chruschtschow verlangt, den Viermächtestatus von Berlin aufzuheben, die alliierten Truppen aus West-Berlin abzuziehen und West-Berlin den Status einer selbstständigen politischen Einheit – freien Stadt zu geben. Er räumte dafür eine Zeit von einem halben Jahr ein, was von den Westmächten als ein Ultimatum interpretiert wurde. Die durch dieses Berlin-Ultimatum erzwungenen Verhandlungen der Außenminister der vier Großmächte Mitte 1959 in Genf führten zu keiner Einigung. Gleichzeitig koppelte die sowjetische Führung die Berlin-Frage an ihre Interessen in der Deutschlandpolitik, indem sie am 10. Januar 1959 einen Entwurf für einen deutschen Friedensvertrag vorlegte, in dem die Fixierung des Status quo und nicht mehr die Einheit Deutschlands im Mittelpunkt stand. Eine Verständigung zwischen den USA und der Sowjetunion über die Deutschland- und Berlinproblematik schien in weite Ferne und ein Alleingang der UdSSR in den Bereich des Möglichen zu rücken.

Der Aufbau der DDR-Grenzsperranlagen.

In einer Rundfunk- und Fernsehansprache vom 25. Juli 1961 hatte der amerikanische Präsident John F. Kennedy zu verstehen gegeben, dass die USA lediglich bereit seien, ihre Schutzmachtfunktion in West-Berlin auszuüben, gegen Aktionen auf dem Territorium Ost-Berlins und der DDR jedoch nichts unternehmen würden. Das bewog den sowjetischen Parteichef Chruschtschow am 1. August 1961 in Moskau dem Drängen Ulbrichts nachzugeben, die Fluchtwelle durch die Abriegelung der Grenze zu West-Berlin und Westdeutschland zu stoppen. Ulbricht erhielt auch die Vollmacht, den Zeitplan zum Mauerbau zu bestimmen. Kurz darauf stimmten auch die Mitglieder des Warschauer Paktes dem Mauerbau zu und legten dessen Planung und Ausführung in die Hände der SED-Führung. Die "offene Grenze", die aus SED-Sicht die entscheidende Ursache für die inneren Stabilitätsprobleme der DDR darstellte, wurde nun gewaltsam geschlossen.

Die Abriegelung der Grenze zu West-Berlin und Westdeutschland wurde bereits in den 1950er Jahren zunehmend militanter organisiert. Seit 1954 existierte auf dem Gebiet der DDR offiziell ein "Sperrgebiet", das aus einem Kontrollstreifen (10 Meter) unmittelbar entlang der innerdeutschen Grenze, einem 500 Meter breiten "Schutzstreifen" sowie einer "Sperrzone" (5 Kilometer) bestand. Bewohner dieser "Sperrzone" unterlagen einer besonderen Kontrolle; sie waren durch einen Vermerk im Personalausweis zum Betreten des "Sperrgebiets" berechtigt. Besucher benötigten einen Passierschein. Der 500 Meter breite "Schutzstreifen" wurde nach 1961 teilweise vermint und/oder mit Signalzäunen ausgestattet. Den eigentlichen Grenzzaun baute man nach 1961 zu einem schwer überwindbaren doppelten Stacheldrahtzaun aus; an vielen Stellen wurde aber auch eine circa drei Meter hohe Mauer errichtet, wie sie an der Grenze zu West-Berlin typisch gewesen war.

Die innerdeutsche Grenze begann im Süden am Dreiländereck Bayern, Sachsen, Böhmen und endete an der Ostsee in der Lübecker Bucht. Die Absperranlangen an der Grenze zu West-Berlin und Westdeutschland wurden flächendeckend von Grenztruppen überwacht sowie von Hundelaufanlagen und Selbstschussgeräten perfektioniert. Jeglicher Fluchtversuch war mit dem Risiko verbunden, von Grenzsoldaten erschossen zu werden. Fast 700 Menschen kamen bis 1989 an der innerdeutschen Grenze zu Tode. Die Grenztruppen gehörten von 1961 bis 1973 als "Kommando Grenze" zur Nationalen Volksarmee (NVA). Im Ergebnis der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki und des damit verbundenen Abrüstungsprozesses wurden sie ab 1973 formell als selbstständige Organisation ausgegliedert, um nicht zur Truppenstärke des Landes gezählt zu werden. Trotzdem blieben die Grenztruppen der DDR, der in den 1980er Jahren circa 40000 Wehpflichtige sowie Berufssoldaten angehörten, als eigenständige Waffengattung direkt dem Ministerium für Nationale Verteidigung unterstellt.

Der Mauerbau bedeutete für große Teile der Bevölkerung einen erheblichen Einschnitt in ihre Lebensumstände. Die Trennung der Familien stand dabei unbestritten an erster Stelle. Das Ende der offenen Grenze bedeutete aber auch das Ende von Freiheiten und Annehmlichkeiten, die insbesondere in Ost-Berlin das tägliche Leben erträglicher gemacht hatten. Ost-Berliner konnten jetzt nicht mehr im Westteil der Stadt mit DDR-Geld Westzeitungen und -zeitschriften kaufen sowie die Theater und Kinos besuchen. Die westdeutsche Konsumwelt ließ sich jetzt nur noch im Werbefernsehen bewundern. Zum Verbleib in der DDR gezwungen, mussten sich die Menschen mehr denn je mit dem System arrangieren.

Die politische Führung verband mit dem Mauerbau am 13. August 1961 die Hoffnung, sich gegenüber der Bevölkerung neue Handlungsspielräume verschaffen zu können, da ihre politischen Entscheidungen nicht mehr Abwanderungen zur Folge haben würden. Im Selbstverständnis der SED-Führung konnte sich jetzt der Sozialismus "auf seinen eigenen Grundlagen" entwickeln – bei geschlossener Grenze, aber nach wie vor in Konkurrenz zur Bundesrepublik. Die DDR wurde zum Laborversuch für ein gigantisches Sozialexperiment, für das Versprechen auf eine lichte Zukunft im Kommunismus.

QuellentextBis heute spürbar: die Berliner Mauer

"Ich möchte am liebsten wegsein und bleibe am liebsten hier." Wolf Biermann
[...] Dies ist die Geschichte von oben, passiert am Sonntag, dem 13. August 1961: Um 1.11 Uhr unterbricht der (Ost-)Berliner Rundfunk seine "Melodien zur Nacht" für eine Sondermeldung: "Die Regierungen der Warschauer Vertragsstaaten wenden sich an die Volkskammer und an die Regierung der DDR mit dem Vorschlag, an der Westberliner Grenze eine solche Ordnung einzuführen, durch die der Wühltätigkeit gegen die Länder des sozialistischen Lagers zuverlässig der Weg verlegt und rings um das ganze Gebiet Westberlins eine verläßliche Bewachung gewährleistet wird." Um 1.05 Uhr verriegeln DDR-Grenzverbände und Kampftruppen das Brandenburger Tor. Um 1.54 Uhr wird der erste Ost-West-S-Bahn-Zug gestoppt. An den Sektorengrenzen reißt Volkspolizei das Straßenpflaster auf und installiert Stacheldraht. Als die Berliner erwachen, ist ihre Stadt geteilt, und endgültig auch Deutschland. [...]
Das ist nicht die Geschichte von unten. Das sagt wenig über die Tragödien der Teilung, das zersäbelte Berlin, die zerrissenen Familien, die hunderten Mauertoten, von Günter Litfin (erschossen am 24. August 1961) bis Chris Gueffroy (5. Februar 1989). Kein Sterben an der Mauer erschütterte die Welt wie das des achtzehnjährigen Peter Fechter, der am 17. August 1962 mit seinem Freund nahe dem Checkpoint Charlie die Grenze überstieg. Der Freund kam durch. Fechter, in Brust und Rücken geschossen, bleib auf der Ostseite, wo er eine Stunde lang um Hilfe rief. Man ließ ihn verbluten. [...]
Die Ostdeutschen flohen in Kofferräumen, Kabelrollen, Lautsprecherboxen. Ein Mini-U-Boot zog 1968 Bernd Böttger durch die Ostsee. Per Heißluftballon schwebten 1979 die Familien Strelzyk und Wetzel von Thüringen nach Franken, Habe und Heimat verlassend auf dem Feuervogel Freiheit, statt weiterzutrotten im Joch der Diktatur. Die Mauer bot dem Westen eine hochpathetische Werbewand. Sie offenbarte das Wesen der Sowjetwelt. Ein Staat, der seine Bürger einschließen mußte, war moralisch tot. Und der Westen glänzte in der Sonne seiner Selbstgerechtigkeit.
Leicht wird vergessen, daß es auch Ostdeutsche gab, die die Mauer begrüßten – Künstler, linke Intellektuelle, die keinesfalls in der oberflächlich entnazifizierten Bundesrepublik zu leben wünschten. Die geistige Enge der DDR, den Dogmatismus, die Zensur hatte man ihnen mit der offenen Flanke zum Klassenfeind begründet. Diese Bedrängten atmeten am 13. August 1961 auf: Jetzt sind wir unter uns, jetzt bricht die sozialistische Geistesfreiheit an! Sie merkten bald, welcher Illusion sie aufgesessen waren. Kurz nach dem Mauerbau, erinnert sich Stefan Heym, traf ich Otto Gotsche, Ulbrichts Sekretär. Und der sagte, mit einem Haß: Jetzt haben wir sie! Der meinte nicht den Klassenfeind. Der meinte die Unseren, Künstler des eigenen Landes. [...]
Die Mauer stand ja nach Osten. Die SED mißtraute dem eigenen Volk.

Christoph Dieckmann, Rükwärts immer. Deutsches Erinnern, Bonn 2005, S. 141 ff.

studierte von 1978 bis 1983 Geschichte an der Universität Leipzig. Er ist er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt "Die SED zwischen Mauerbau und Mauerfall. Strukturen, Eliten und Konflikte (1961-1989/90)" am Institut für Zeitgeschichte, München-Berlin tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des politischen Systems in der DDR, speziell die Geschichte der SED, und die Wissenschaftsgeschichte der DDR.

Kontakt: »malycha@ifz-muenchen.de«