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Beziehungen zu Deutschland | Tschechien | bpb.de

Tschechien Zu diesem Heft Annäherung an ein Land im Wandel Entwicklung bis zum Ende der Monarchie Republik unter Druck Mitglied im kommunistischen Lager Politisches System nach 1989 Wirtschaft in der Transformation Gesellschaft im Umbruch Ziele und Ergebnisse tschechischer Außenpolitik Beziehungen zu Deutschland Literaturhinweise und Internetadressen Impressum

Beziehungen zu Deutschland

Jaroslav Kucera / Dieter Segert

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Der ehemalige tschechische Ministerpräsident Mirek Topolánek und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel 2009. (© ddp/AP)

Einleitung

In beinahe der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die tschechisch-deutsche Nachbarschaft durch zwei Teilungen geprägt: durch den Zerfall Europas in zwei feindliche Systeme und Allianzstrukturen sowie den Deutschlands in die Bundesrepublik und die DDR. Die tschechisch-deutsche und die deutsch-deutsche Grenze waren Trennlinien von globaler Bedeutung und gehörten angesichts des auf beiden Seiten ständig wachsenden militärischen Potenzials zu den sensibelsten Frontlinien des "Kalten Krieges". Der Systemgegensatz wirkte sich auf die Beziehungen zwischen den drei Staaten aus. Lange Zeit herrschten Kooperation und Verdichtung des Beziehungsgeflechts zwischen Prag und Ostberlin und andererseits Konfrontation und Abgrenzung zwischen Prag und Bonn.

Kooperation und Konfrontation 1949–1990

Die Weichenstellung für diese gegensätzliche Entwicklung erfolgte zum Zeitpunkt der Gründung der beiden deutschen Staaten im Herbst 1949. Das tschechoslowakische kommunistische Regime befürwortete die Gründung der DDR und erkannte den neuen Staat bereits einige Tage später an. Die ersten Abkommen über langfristigen Handelsaustausch, wissenschaftlich-technische und kulturelle Zusammenarbeit kamen 1950 zu einem Abschluss.

Die schnelle Annäherung wurde unterstützt durch eine gezielte Beseitigung von Hypotheken der Vergangenheit, die für die Tschechoslowakei einen traumatischen Charakter hatten. In der so genannten Prager Deklaration vom Juni 1950, die den Wünschen Prags entsprach, verzichteten beide Staaten auf gegenseitige Gebietsansprüche, deklarierten die Ungültigkeit des Münchener Abkommens von Anbeginn und erklärten die Zwangsaussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg für "endgültig" und "gerecht".

Die Tschechoslowakei ihrerseits unterstützte das Bemühen des ostdeutschen Staates, seine internationale Isolierung zu überwinden, und befürwortete den Bau der Mauer durch Berlin im August 1961. Die Tschechoslowakei war bereit, diese Lösung der Berlin-Frage zu akzeptieren, obwohl sie die Risiken für die internationale Sicherheit kannte. Um auf eine mögliche militärische Auseinandersetzung zwischen Ost und West vorbereitet zu sein, ordnete das tschechoslowakische Politbüro schon Ende Juli 1961 eine teilweise Mobilmachung der Sicherheitskräfte an.

Konsolidierung der Beziehungen – CSSR und DDR

Der Mauerbau begünstigte die Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen DDR und Tschechoslowakei. 1964 wurde die Visapflicht aufgehoben. Seitdem entwickelte sich das jeweilige Nachbarland zu einem beliebten Urlaubsziel, speziell nach 1972, als die Abschaffung administrativer Hemmnisse einen deutlichen Aufschwung des Tourismus nach sich zog, der durch die gegenseitigen Begegnungen erheblich zum Abbau von Ressentiments und Stereotypen in beiden Bevölkerungen beitrug.

Seit Anfang der sechziger Jahre tauchten jedoch in den bis dahin weitgehend problemlosen Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und der DDR auch Unstimmigkeiten auf. Mit ernsten wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert lehnte es die Tschechoslowakei ab, die DDR im ökonomischen Wettbewerb mit der Bundesrepublik zu unterstützen, wie diese es als Pflicht aller sozialistischen Staaten hinstellte.

Die DDR-Führung zeigte sich dagegen von Tendenzen in der tschechoslowakischen Kultur- und später der Wirtschaftspolitik beunruhigt, die sie als "Revisionismus", also als Abweichung von den Grundsätzen des Sozialismus, kritisierte. Jegliche Annäherung zwischen der Tschechoslowakei und der Bundesrepublik war ihr suspekt. Die tschechoslowakischen Reformansätze, die im "Prager Frühling" des Jahres 1968 ihren Höhepunkt fanden, beunruhigten die DDR-Führung zutiefst.

Walter Ulbricht, der bis 1971 an der Spitze der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und des DDR-Staates stand, war ungeachtet eigener wirtschaftlicher Neuerungsansätze einer der schärfsten Kritiker des tschechoslowakischen Reformprozesses, der auf größere Freiheiten und demokratische Mitwirkung der Bevölkerung setzte. Die DDR-Führung befürwortete den Einmarsch der Streitkräfte von fünf Staaten des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei im August 1968, auch wenn sich die DDR aus Rücksicht auf die Weltöffentlichkeit nur mit einigen kleinen Truppenkontingenten an der direkten Besetzung beteiligte.

Nach der Unterdrückung des "Prager Frühlings" kam es zu einer raschen Konsolidierung der Beziehungen zwischen der neu eingesetzten Führung in Prag und der SED-Spitze. Positiv wurde vermerkt, dass sich die DDR-Regierung unter Erich Honecker (Parteichef 1971–1989) anders als unter seinem Vorgänger Ulbricht nicht mehr als Ratgeber der tschechoslowakischen KP aufspielte. Allerdings gab es dazu auch wenig Anlass: Sowohl innen- als auch außenpolitisch vertraten beide Regime linientreue Standpunkte. Sie lehnten übereinstimmend die vom sowjetischen Generalsekretär Michael Gorbatschow (1985–1991 Erster Sekretär der KPdSU bzw. Staatschef der Sowjetunion) betriebene Politik von Perestrojka und Glasnost ab. In der wirtschaftlichen Zusammenarbeit waren sie füreinander nach der UdSSR die wichtigsten Handelspartner.

Schwierige Nachbarschaft zu Westdeutschland

Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland als ersten deutschen Nachkriegsstaat betrachtete die Tschechoslowakei als Verletzung der Vereinbarungen der Anti-Hitler-Koalition und lehnte es ab, sie anzuerkennen. Die angebliche militärische Gefahr von Seiten des Westens war mindestens bis zum Anfang der sechziger Jahre, als sie allmählich für die Bevölkerung unglaubwürdig wurde, eine der wichtigsten Legitimationsgrundlagen des Regimes. Die aus der Vergangenheit herrührenden antideutschen Ressentiments der Menschen in der Tschechoslowakei stützten anfangs diese Politik.

Umgekehrt interessierte sich die Bundesrepublik angesichts ihrer außenpolitischen Westorientierung zunächst wenig für ihren östlichen Nachbarn. Das Wiedervereinigungsgebot und ihr deklarierter Alleinvertretungsanspruch für die Interessen aller Deutschen (Hallstein-Doktrin) machten ihr ohnehin die Anknüpfung diplomatischer Beziehungen zu einem Staat, der die DDR anerkannt hatte, unmöglich. Außerdem vertrat sie die Interessen der sudetendeutschen Heimatvertriebenen, wobei diese und ihre Anliegen auch im Rahmen der Systemauseinandersetzungen mit dem Ostblock streckenweise politisch instrumentalisiert wurden. Den einzigen offiziellen Kontakt zur Tschechoslowakei stellten die jährlichen Verhandlungen über den Handelsaustausch dar, der jedoch für die Bundesrepublik eine immer geringer werdende wirtschaftliche Bedeutung hatte.

Mitte der fünfziger Jahre lockerte die Tschechoslowakei als erste die konsequente Abgrenzungspolitik. Die bundesdeutsche Reaktion erfolgte erst im Zuge der seit Anfang der sechziger Jahre einsetzenden Entspannung in den Beziehungen zwischen den beiden Supermächten UdSSR und USA. Dies ermöglichte der Bundesrepublik zunächst den Ausbau ihrer Handelsbeziehungen zu den Ostblockstaaten. 1963 bis 1964 wurden Handelsvertretungen mit Konsularvollmachten in einigen osteuropäischen Hauptstädten errichtet. Die Verhandlungen mit der Tschechoslowakei zogen sich hin. Das Münchener Abkommen von 1938 bildete trotz der wiederholten Erklärung der Bundesregierung, es sei von Hitler gebrochen worden und habe seitdem keine territoriale Bedeutung mehr, den zentralen Diskussionspunkt. Die CSSR beharrte auf ihrem Standpunkt, das Abkommen sei von Anfang an ungültig gewesen.

Außerdem verhinderte die seit 1964 erhobene Forderung der DDR an alle östlichen Verbündeten, eine "Normalisierung" der deutsch-deutschen Beziehungen, also eine gegenseitige staatliche Anerkennung, zur Vorbedingung der Verbesserung ihrer Beziehungen zur Bundesrepublik zu machen, die Verhandlungen. Aus Sorge, sie könne angesichts der Fortschritte in den Handelsbeziehungen zwischen der Bundesrepublik und anderen Ostblockländern in die Isolierung geraten, setzte sich die Tschechoslowakei schließlich über den Standpunkt der DDR hinweg. Im August 1967 konnte ein langfristiger Handelsvertrag unterzeichnet werden.

Das Münchener Abkommen war auch bei der Vorbereitung des Vertrages über die gegenseitigen Beziehungen zwischen beiden Staaten in den Jahren 1970 bis 1973 der heikelste Punkt. Erst nach komplizierten Verhandlungen konnte ein Kompromiss erzielt werden, demgemäß beide Seiten das Abkommen "im Hinblick auf ihre gegenseitigen Beziehungen nach Maßgabe dieses Vertrags als nichtig" betrachteten. In den Konflikten ging es darum, ob das Abkommen von 1938 von Anfang an (wie es die Tschechoslowakei anstrebte) oder nur in den Folgen als nichtig angesehen werden sollte. Die eigentliche Bedeutung des Vertrages von 1973 lag darin, dass sich nunmehr auch zwischen diesen beiden Staaten entkrampftere Beziehungen entwickeln konnten.

Nach wie vor sorgte jedoch die Frage der ehemaligen tschechoslowakischen Staatsbürger deutscher Nationalität – also der sudetendeutschen Vertriebenen – für Irritationen zwischen Prag und Bonn. Im Unterschied zur DDR erklärte der Deutsche Bundestag 1950 die Vertreibung für rechtswidrig und bekräftigte mehrmals (am deutlichsten 1952) das Recht der Vertriebenen auf Heimat und Selbstbestimmung. Die Bedeutung der Vertriebenenfrage für die bundesdeutsche Innenpolitik ging nach dem Lastenausgleich und im Zuge der Integration der Vertriebenen im Lauf der Jahre allmählich zurück.

Unterschiedliche Auffassungen vertraten beide Staaten im Hinblick auf das 1945 durch die Tschechoslowakei enteignete sudetendeutsche Vermögen. Während die tschechoslowakische Seite davon ausging, dass dieses Vermögen aufgrund der alliierten Vereinbarungen über das Feindvermögen konfisziert worden war, gewährten die jeweiligen Bundesregierungen zwar den vermögensrechtlichen Ansprüchen der Sudetendeutschen nie eine explizite Unterstützung, doch gaben sie auch keine rechtsgültige Verzichtserklärung ab, um nicht selbst entschädigungspflichtig zu werden.

QuellentextGegen Schwarz/Weiß-Malerei im deutsch-tschechischen Verhältnis

Wie einfach wären die deutsch-tschechischen Beziehungen, wenn es nur zwei Seiten gäbe und einen Blick auf die Vergangenheit. [...] Deutsche und Tschechen, das wäre eine lange Nachbarschaft und eine kurze Gemeinsamkeit, die mit dem Münchner Abkommen 1938 begann und mit der Befreiung 1945 endete. Das wäre das Verhältnis von groß und klein, mächtig und schwach, von deutschen Tätern und tschechischen Opfern. All dies trifft zu, aber es trifft nicht ausschließlich zu. Es vermag die Widerstände nicht zu erklären, welche die politischen Beziehungen der neunziger Jahre charakterisieren.

Verständlich werden die Schwierigkeiten, wenn man die vertriebenen Sudetendeutschen als eigenständige Gruppe betrachtet [...]. Ihre Vorfahren teilten mit den Tschechen nicht lediglich eine siebenjährige, sondern eine mehr als siebenhundertjährige Gemeinsamkeit. Sie waren nicht Untertanen von Kaiser Wilhelm wie die meisten Deutschen, sondern von Kaiser Franz Joseph wie alle Tschechen. Sie waren seit 1918 tschechoslowakische Staatsbürger. [...]

Das Verhältnis von Tschechen und Sudetendeutschen ist daher ganz anders zu beschreiben als das von Deutschen und Tschechen. Es ist das Verhältnis zweier konkurrierender Volksgruppen, die auf eskalierende Weise immer wieder beides waren: Täter und Opfer, Opfer und Täter. Die Okkupation durch das nationalsozialistische Deutschland wurde nicht von den Sudetendeutschen geplant, auch wenn die meisten 1938 gejubelt und etliche die Okkupationspolitik mit zu verantworten haben.

Verfolgt wurden während der Okkupation nicht nur Juden und Tschechen, sondern auch sudetendeutsche Sozialdemokraten, Kommunisten und Katholiken. Vertrieben wurden wiederum nicht die Deutschen, sondern die Sudetendeutschen, teilweise auch Nazigegner und Juden, die bereits unter Hitler gelitten hatten. Ihr Verbrechen: Ihre Muttersprache war Deutsch. Solange man nur zwei Seiten sieht, wird man diese Unterschiede kaum verstehen.

Aufschlussreich ist allerdings auch der dritte Aspekt des Dreiecks, das Verhältnis von Deutschen und Sudetendeutschen in der Bundesrepublik. Der Umgang mit den Vertriebenen war stets von Widersprüchen geprägt. Zunächst waren sie alles andere als willkommen, sie wurden als existenzielle Bedrohung empfunden. Als der wirtschaftliche Aufschwung begann, erkannte man, dass sie nicht nur hungrige Mäuler, sondern auch das Fachwissen alter Industrieregionen mitgebracht hatten. Nun waren ihre Kenntnisse und Fertigkeiten gefragt. Die Verarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus und die Auseinandersetzung mit deutschen Tätern brachte die Vertriebenen abermals in Misskredit. Man hielt ihnen vor, mit dem Hinweis auf ihre Opfer die nationalsozialistischen Verbrechen zu relativieren.

Für den Ost-West-Konflikt wiederum konnte man die Vertriebenen mit ihren moralischen und juristischen Argumenten gut gebrauchen. Nach der Wende von 1989/90 dagegen empfand man sie als Störfaktor im europäischen Integrations- und Verständigungsprozess. [...]

Auffallend sind in diesem Zusammenhang die Unterschiede der öffentlichen Erinnerungskultur. Die meisten tschechischen Politiker betrachten die Opfer der vierziger Jahre ausschließlich durch die Brille nationaler Zugehörigkeit. Aus diesem Grund findet man in vielen Straßen von Prag Hinweisschilder auf tschechische Opfer, die während der Kriegsjahre umgebracht wurden, jedoch keine einzige Tafel, welche der Deutschen gedenkt, die nach dem Krieg erschlagen wurden.

Bei den meisten deutschen Politikern ist die Betrachtungsweise genau umgekehrt. Die Last der nationalsozialistischen Verbrechen verbietet die Missachtung des von deutschen Tätern bewirkten Leids. [...] Die Erinnerung an deutsche Opfer bereitet dagegen ausgesprochenes Unbehagen. [...] Leidtragende dieses unterschiedlichen Umgangs sind die Sudetendeutschen, die so weder in Prag noch in Berlin eine größere Bereitschaft finden, der Vertreibungsopfer zu gedenken, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen.

[...] In der deutschen Gesellschaft regen sich Stimmen einer differenzierenden Sicht. Das Mitgefühl für das Leid deutscher Vertriebener wird nicht mehr als unvereinbar mit der Würdigung der Opfer des Nationalsozialismus betrachtet. [...]

Auch in der tschechischen Gesellschaft zeichnen sich Änderungen ab. [...] Viele tschechische Intellektuelle würdigen die Rolle sudetendeutscher Sozialdemokraten und den gemeinsamen Kampf gegen Hitler. Es wächst die Zahl derjenigen, welche die Sudetendeutschen nicht mehr allein vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen sehen. [...]

Die nationale Vereinnahmung zu überwinden und Mitgefühl für das Leid aller Opfer aufzubringen zählt jedoch zu den grundlegenden Schritten wirklicher Verständigung. [...] Schwarzweiß-Bilder, die sich über Jahrzehnte verfestigt haben, müssen korrigiert werden. Eine solche Korrektur kann nicht erzwungen, sie kann nur durch geduldige Information und Diskussion erarbeitet werden. Eine große Aufgabe für den deutsch-tschechischen-sudetendeutschen Dialog.

Peter Becker, "Mehr als zwei Seiten", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. August 2001

Aus tschechoslowakischer Sicht blieben außerdem einige weitere Vermögensfragen ungeregelt. In erster Linie handelte es sich um Reparationsansprüche der Tschechoslowakei (insgesamt 11,5 Milliarden US-Dollar nach dem Wert von 1938 – so ihre Forderung), die gemäß den Potsdamer Vereinbarungen von 1945 aus den Westzonen gedeckt werden sollten. Bis 1953, als das Londoner Schuldenabkommen die endgültige Reparationsregelung bis zur Unterzeichnung eines Friedensvertrages mit Deutschland verschob, erhielt sie lediglich geringe deutsche Reparationsleistungen. Auch die Zahlung individueller Entschädigungen an die Opfer des NS-Regimes bzw. an Zwangsarbeiter wurden mit Verweis auf einen künftigen Friedensvertrag verschoben. Da es vor 1989 am politischen Willen der Bundesrepublik mangelte, auch die Betroffenen jenseits des "Eisernen Vorhangs" zu entschädigen, bildete ihre Zahlung von zehn Millionen DM für die Opfer von pseudomedizinischen Versuchen eine Ausnahme.

Eine der Kardinalfragen der Nachkriegsentwicklung war die Einheit Deutschlands. Die Tschechoslowakei, die sich anfangs die Position der DDR dazu zu eigen gemacht hatte, engagierte sich in diesem Punkt in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre kaum noch. Als das Thema aus der Propaganda verschwand, fand es sich auch im Bewusstsein der Bevölkerung kaum noch wieder. Erst im Diskurs der Opposition um die "Charta 77" Mitte der achtziger Jahre wurde dieses Thema wieder aufgegriffen: Das Recht der Deutschen, frei über die Einheit ihres Landes zu entscheiden, sahen die Chartisten als einen natürlichen Bestandteil der erforderlichen Normalisierung in Europa an. Tatsächlich akzeptierte und begrüßte die politische Öffentlichkeit der demokratischen Tschechoslowakei 1990 den sich anbahnenden deutschen Wiedervereinigungsprozess ohne Vorbehalte.

Alltagsbegegnungen vor 1990

Über Jahrzehnte nach dem Krieg waren auch die Alltagsbeziehungen der drei Staaten noch geprägt durch das Münchener Abkommen, das Protektorat und die Vertreibung. Bei den Tschechen wie bei anderen Europäern galten die Deutschen vielfach als kollektiv schuldig für die Verbrechen des Dritten Reiches. Auf der anderen Seite wirkten die Verletzungen der Nachkriegszeit und das Leid der Vertriebenen nach. In der Bundesrepublik wurde die Vertreibung als ungerechte Bestrafung der Deutschen in der Tschechoslowakei gewertet.

In der DDR blieb diese Seite der Geschichte nur in familiären Gesprächen und im individuellen Gedächtnis lebendig. Für die Ostdeutschen bot die Tschechoslowakei im Laufe der Jahrzehnte immer anziehendere Aspekte: Durch eigene Reiseerfahrungen lernten sie ihre Landschaft, ihre Städte, ihre Kultur und ihr Warenangebot schätzen. Da die Tschechoslowakei die nach der Sowjetunion größte Außenhandelspartnerin der DDR unter den Staaten des RGW (COMECON) war, vor Polen und Ungarn, ergaben sich umfangreichere Kontakte zwischen den Betrieben und reger Warenaustausch. Der Skoda war in der DDR-Bevölkerung ein begehrtes Auto. Auf der anderen Seite wurden Fahrzeuge der Marken "Wartburg" und "Trabant" ins Nachbarland geliefert. Das Projekt, gemeinsam ein "RGW-Auto" zu bauen, scheiterte jedoch.

Von zentraler Bedeutung für den alltäglichen Kontakt war die Vereinbarung über den visa- und passfreien Reiseverkehr zwischen beiden Ländern, die Anfang 1972 in Kraft trat. Während 1970 66000 Tschechen und Slowaken in die DDR und 77000 Ostdeutsche zu privaten Zwecken in den Nachbarstaat gefahren waren, kamen 1973 über 4,2 Millionen Ostdeutsche zu ihren Nachbarn und in die DDR reisten 1,2 Millionen Tschechen und Slowaken.

Diese hohe Zahl ostdeutscher Reisender blieb bis in die achtziger Jahre konstant, während sich die Zahl der tschechoslowakischen Besucher auf über zwei Millionen, 1988 sogar um weitere 500000 erhöhte, obgleich Ungarn noch vor der DDR ihr wichtigstes Reiseziel blieb. Aus Angaben des Tschechoslowakischen Statistischen Amtes geht hervor, dass 1985 über sieben Millionen DDR-Bürger im Nachbarland waren und somit knapp die Hälfte aller ausländischen Besucher des Landes stellten.

Dieses gegenseitige Interesse hatte teilweise wirtschaftliche Ursachen. Die Tschechen wurden durch die gleichbleibend niedrigen Preise in der DDR angezogen, die DDR-Bürger waren durch das relativ reichhaltige Warenangebot der Tschechoslowakei beeindruckt. Der Kontakt in Pensionen und Geschäften führte dazu, dass die sozialen und kulturellen Eigenarten des jeweiligen Nachbarn vertrauter wurden.

Aus der Bundesrepublik wurden im selben Zeitraum erheblich weniger Besucher registriert: jährlich zwischen 400000 und 700000. Die Urlaubs- und Einkaufsreisen der Tschechen und Slowaken in den Westen führten zwar bis auf 1989, als der Tourismus nach Österreich hohe Zuwachsraten verzeichnete, vorrangig in die Bundesrepublik, verharrten aber auf wesentlich niedrigerem Niveau. Für die Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und der Bundesrepublik war der Handel wichtiger als der Tourismus. Die Bundesrepublik war schon vor 1989 der wichtigste tschechoslowakische Handelspartner im Westen, wobei der Handel mit der Bundesrepublik vor 1989 circa zwei Drittel des gesamten tschechoslowakischen EG-Außenhandels ausmachte.

Neben Politik, Handel und Tourismus prägte ein spezielles politisches Ereignis die Alltagsbeziehungen der drei Staaten: die Reformen des Jahres 1968 und ihr Ende. Den Weg in die DDR fand der "Prager Frühling" wegen der restriktiven Informationspolitik der SED-Führung allerdings nur über die private Berichterstattung sowie über Rundfunk und Fernsehen des anderen Deutschland. Studien nach 1989 zeigten, dass sich zunächst nur wenige DDR-Bürger für den "Prager Frühling" und gegen seine militärische Unterdrückung aussprachen, die dann allerdings in den achtziger Jahren und besonders im Herbst 1989 in der Bewegung für eine demokratische DDR eine herausragende Rolle spielten. Für diese aktive Minderheit waren die Hoffnungen des tschechoslowakischen Reformversuchs und seine Beendigung durch die kommunistischen Machthaber eine prägende Erfahrung. Das zweite wichtige politische Einzelereignis vor 1989, die "Charta 77", wurde ebenfalls nur von einer Minderheit der DDR-Bevölkerung, den Dissidenten, intensiv wahrgenommen.

QuellentextGeliebte Tschechen, 1969

Nach Deutschland doch nicht. Also brach ich nach Holland auf. Nur, in Hamburg ging mir das Geld aus. Die Ausreisegenehmigung hatte ich bekommen und 20 Mark. Das Studienbuch kam auch mit. Verbotenerweise. Vater sagte am Telefon: "Bleibe dort". Gesehen habe ich meine Eltern zehn Jahre nicht mehr. Die Gastgeber, Familie Herr, fragten nicht "bis wann?" Der kleine Bauunternehmer konnte sich das leisten.

Im Polizeigebäude waren zwei Türen. Eine mit Treppe, die andere ohne – einige Kunden kamen in der grünen Minna. Zusammen wurden wir abgelichtet, gaben Fingerabdrücke. Das entwürdigte uns nicht – es gab eine Fortsetzung. Hamburger Millionäre kamen oft zusammen, um Flüchtlingen zu helfen. Heinz Wittenburg fand mich heraus – heute kaum denkbar. Die Starthilfe war da – ein Anzug vom Edelsten. Der erste Job – Fensterputz bei Warburgs: Herr Sonka, es ist schon sauber genug, kommen Sie zum Tee. Das alles auf Englisch. Die neue Sprache: Karl May und ein Wörterbuch, Fernsehshows mit Roy Black und Uschi Glas, Pippi Langstrumpf – bei den Gastgebern. Und nach zwei Monaten die Aufnahme in die Uni. Das Studium aus Prag wurde anerkannt.

Andere haben es schwerer gehabt. Flüchtlingslager. Eltern sprachen mit ihren Kindern im holprigen Deutsch, um sie "nicht zu benachteiligen". Kinder verstanden es nicht – Iva Svarcová drehte einen Film dazu. Ich jedoch kam mir immer wie ein "Deutscher ehrenhalber" vor. Zuerst wegen der Sprache etwas zurückgestellt, wurde ich später um die Ausfertigung dienstlicher Briefe gebeten, denn ich lernte diesen "schwülstigen deutschen Stil". Beim Mikroskop hörte ich Bundestagsdebatten: Brandt, Stücklen, Wehner, Maihofer, von und zu Guttenberg. Dann kam eine böhmakelnde Stimme hinzu: Milan Horacek, der neue Grüne. Da waren wir, manche Tschechen, richtig integriert.

Was tun mit dem Schulwissen. Wie kann es sein, dass gleiche Daten in eine völlig verschiedene Geschichte führen? Wie können sie sich für den aggressiven Bismarck begeistern? Wie können wir mit den Sudetendeutschen so merkwürdig umgehen, wenn sie mir im Jetzt helfen.

Mein Kind ("Mischling") und die Zweisprachigkeit sind mir bis heute wichtig. Für die heutigen Emigranten ist es schwieriger: Die Erfahrung von woanders, eine Sprachkompetenz außerhalb der großen Sprachen, spielen in der deutschen Integrationsdiskussion keine Rolle. Die heutigen Flüchtlinge und Ausländer kennen die meiner Erfahrung entsprechende freundliche Behandlung nicht. Leitkultur? Was machen wir mit den Deutschen "von Geburt", die sprachlich und beim Geschichtstest schlechter abschneiden als ich? Ich wurde angenommen und gefördert und heute wird hineingeprügelt.

Jaroslav Sonka, heute zwei Pässe. Journalist, Europäische Akademie Berlin.

Die Sicht der Tschechen und Slowaken wurde beeinflusst durch die Erkenntnis, dass die DDR-Deutschen sich 1968 an der Niederwerfung des Reformversuchs beteiligt hatten, während aus dem anderen deutschen Staat Unterstützung für den "Prager Frühling" und Protest gegen seine Unterdrückung laut wurde. Danach suchten zehntausende politische Emigranten aus der Tschechoslowakei in der Bundesrepublik eine zweite Heimat. Von den geschätzten 150000, die ihr Land nach dem 21. August verlassen haben, sind bis 1969 ungefähr 55000 in die Bundesrepublik gegangen, circa 34000 davon sind geblieben. In den siebziger Jahren kamen jährlich jeweils einige hundert Emigranten, in den achtziger Jahren stieg deren Zahl auf einige Tausend an. Insgesamt waren es noch einmal circa 25000.

Verbesserung trotz Irritationen

Obwohl sich das deutsch-tschechische Verhältnis nach 1989 sehr gut entwickelt hat, war es doch einigen Belastungen ausgesetzt, die nur verständlich sind, wenn die schwierigen Perioden der gemeinsamen Geschichte in Betracht gezogen werden.

Nach der "samtenen Revolution" und der Wende in der DDR entwickelten sich die gegenseitigen Beziehungen zunächst nahezu komplikationslos. Tschechien unterstützte die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ohne Vorbehalte. Die ersten Auslandsreisen Havels als Staatspräsident führten nach Berlin und München, schon zuvor hatte er die Zwangsaussiedlung der Deutschen nach 1945 moralisch verurteilt. In Deutschland würdigten Politiker wie der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker dies als großen Schritt.

Auf Initiative beider Präsidenten wurde eine Deutsch-Tschechoslowakische (später Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische) Historikerkommission eingesetzt, die sich seither der Fachdiskussion über weiße Flecken und wunde Punkte in der gemeinsamen Geschichte widmet.

Die Vertreter der katholischen Kirche in Deutschland und Tschechien gaben 1990 und 1995 Erklärungen ab, mit denen sie die Versöhnung zwischen beiden Völkern unterstützen wollten. Die deutschen Bischöfe erinnerten an die Untaten, die in deutschem Namen und von Deutschen dem tschechischen Volk zugefügt worden waren; die tschechischen Bischöfe verurteilten die Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat, bei der das ungerechte Prinzip der Kollektivstrafe angewandt worden sei. Gemeinsam äußerten sie die Hoffnung, dass der Versöhnungsprozess künftig durch gegenseitiges Kennenlernen, Erfahrungsaustausch und Zusammenarbeit fortschreiten möge.

Die Beziehungen besonders der Grenzstädte im Bayerischen Wald und auf beiden Seiten des Erzgebirges wurden wesentlich intensiver. EU-Gelder im Rahmen des INTERREG-Programms unterstützten die grenzüberschreitende Zusammenarbeit innerhalb der in den neunziger Jahren gebildeten Euroregionen.

QuellentextVom Grenzgebiet zur Euroregion

[...] Heutzutage sollten die schon klassischen Euroregionen [...] die traditionelle Zusammenarbeit zwischen den Grenzgebieten der benachbarten Länder intensivieren und den Boden dafür bereiten, dass die Staatsgrenzen allmählich an Bedeutung verlieren und sich schließlich in einem zusammenwachsenden Europa auflösen. Für uns Tschechen liegt dieses in weiter Ferne, da ja nicht einmal die Aufnahme in die Europäische Union in einigermaßen greifbare Nähe gerückt ist. Dennoch aber entstand entlang unserer Grenzen eine ganze Reihe von Euroregionen: die Euroregion Neiße/Nisa (Tschechien – Deutschland – Polen, mit tschechischem Sitz in Liberec/Reichenberg), die Euroregion Elbe/Labe (Tschechien – Deutschland, mit Sitz in Ústí nad Labem/Aussig an der Elbe), die Euroregion Erzgebirge/Krusnohorí (Tschechien – Deutschland, mit Sitz in Most/Brüx), die Euroregion Egerland/Chebsko (Tschechien – Deutschland, mit Sitz in Karlovy Vary/Karlsbad) und die Euroregion Sumava (Tschechien – Deutschland – Österreich, mit Sitz in Klatovy/Klattau). Sie decken [...] das gesamte deutsch-tschechische Grenzgebiet ab. [...]

Die Euregio Egrensis wurde bereits im Dezember 1990 auf einem internationalen Symposium begründet, das im deutschen Marktredwitz und im tschechischen Cheb tagte. Die Idee, eine Vorbildregion für die Zusammenarbeit zu errichten, die in der Mitte Europas die Grenzen überschreitet, gerade dort, wo früher der Eiserne Vorhang verlief, wurde von allen begeistert begrüßt. Und es stimmt, dass kaum irgendwo in Europa die Entstehung einer Euroregion logischer gewesen wäre. Die bayerischen, sächsischen und böhmischen Teile der Euregio Egrensis bildeten nämlich über viele Jahrhunderte eine territoriale Einheit: das historische Egerland, ein spezifisches und für die mitteleuropäische Geschichte sehr bedeutendes Gebiet, das im Hoch- und Spätmittelalter die Funktion einer Wegekreuzung und Brücke zwischen dem deutschen und dem böhmischen Teil des damaligen Reiches hatte. [...]

Ich selber halte außer den vielen geglückten und zu Ende geführten Projekten vor allem die zwischen den einzelnen Menschen gewachsenen Freundschaften für das Hauptergebnis der zehnjährigen Anstrengungen in der Euregio Egrensis. Diese ersten festen Steinchen des Vertrauens und der Zusammenarbeit bilden die Grundlage, auf der weiter aufgebaut werden kann. [...] Und wenn es entlang unserer gesamten Grenze mit dem nach Einigung strebenden Europa auch nur mehrere Dutzend oder Hundert wären, so hätten die Euroregionen damit für unser aller Zukunft etwas Positives geschaffen.

Frantisek Kubu, "Euregio Egrensis", in: Walter Koschmal u.a. (Hg.), Deutsche und Tschechen, München 2001, S. 611 ff.

Auch der gegenseitige Besucherverkehr, vor allem zwischen den Tschechen und Westdeutschen, profitierte von der Öffnung der Grenze. 1990 besuchten 30 Millionen Deutsche die Tschechoslowakei, Ende des Jahrzehnts waren es bereits über 40 Millionen pro Jahr. In die Bundesrepublik reisten 1995 16 Millionen tschechische Bürger, 1998 waren es zwölf Millionen.

Insofern wurde auf politischer wie privater Ebene nach 1989 ein neuer Anfang gewagt. Die tragischen Ereignisse der Jahrhundertmitte konnten dabei allerdings nicht ausgeklammert werden. Die Opfer des Nationalsozialismus in der Tschechischen Republik meldeten ihre Ansprüche an. Auf deutscher Seite betonte die Sudetendeutsche Landsmannschaft ihre Anliegen. Vereinzelt wurde die Forderung erhoben, zwischen der Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft und der tschechischen Distanzierung von den so genannten Benepi-Dekreten ein Junktim zu konstruieren. In Tschechien dagegen warfen Stimmen, vor allem aus dem Lager der extrem nationalistischen Parteien, Havel eine Mitverantwortung für diese Entwicklung vor.

Unterschiedliche Rechtsauffassungen

Diese Irritationen wurden auch durch den Nachbarschaftsvertrag von 1992 nicht beendet. Erst die Unterzeichnung und Ratifizierung der Deutsch-Tschechischen Erklärung zu Beginn des Jahres 1997 schuf eine gewisse Beruhigung. Der Weg dorthin war zunächst noch durch eine Reihe von Unstimmigkeiten bis hin zu offenen Konflikten gekennzeichnet, wodurch sich die Vorverhandlungen länger als geplant hinzogen. Die wichtigste Festlegung ist in Punkt IV der Erklärung formuliert, mit dem beide Seiten feststellen, "dass das begangene Unrecht der Vergangenheit angehört" und fortfahren, die beiden Staaten "werden daher ihre Beziehungen auf die Zukunft ausrichten [...], wobei jede Seite ihrer Rechtsordnung verpflichtet bleibt und respektiert, dass die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat [ ...]."

QuellentextDeutsch-Tschechische Erklärung von 1997

"Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik [...] erklären gemeinsam:

I. Beide Seiten sind sich ihrer Verpflichtung und Verantwortung bewusst, die deutsch-tschechischen Beziehungen im Geiste guter Nachbarschaft und Partnerschaft weiter zu entwickeln und damit zur Gestaltung des zusammenwachsenden Europa beizutragen. [...]

II. Die deutsche Seite bekennt sich zur Verantwortung Deutschlands für seine Rolle in einer historischen Entwicklung, die zum Münchner Abkommen von 1938, der Flucht und Vertreibung von Menschen aus dem tschechoslowakischen Grenzgebiet sowie zur Zerschlagung und Besetzung der Tschechoslowakischen Republik geführt hat. Sie bedauert das Leid und das Unrecht, das dem tschechischen Volk durch die nationalsozialistischen Verbrechen von Deutschen angetan worden ist. [...] Die deutsche Seite ist sich auch bewusst, dass die nationalsozialistische Gewaltpolitik gegenüber dem tschechischen Volk dazu beigetragen hat, den Boden für Flucht, Vertreibung und zwangsweise Aussiedlung nach Kriegsende zu bereiten.

III. Die tschechische Seite bedauert, dass durch die nach dem Kriegsende erfolgte Vertreibung sowie zwangsweise Aussiedlung der Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei, die Enteignung und Ausbürgerung unschuldigen Menschen viel Leid und Unrecht zugefügt wurde, und dies auch angesichts des kollektiven Charakters der Schuldzuweisung. Sie bedauert insbesondere die Exzesse, die im Widerspruch zu elementaren humanitären Grundsätzen und auch den damals geltenden rechtlichen Normen gestanden haben, und bedauert darüber hinaus, dass es aufgrund des Gesetzes Nr. 115 vom 8. Mai 1946 ermöglicht wurde, diese Exzesse als nicht widerrechtlich anzusehen und dass infolge dessen diese Taten nicht bestraft wurden.

IV. Beide Seiten stimmen darin überein, dass das begangene Unrecht der Vergangenheit angehört und werden daher ihre Beziehungen auf die Zukunft ausrichten. [...], wobei jede Seite ihrer Rechtsordnung verpflichtet bleibt und respektiert, dass die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat. [...]

VII. Beide Seiten werden einen deutsch-tschechischen Zukunftsfonds errichten. [...] Dieser gemeinsame Fonds wird der Finanzierung von Projekten gemeinsamen Interesses dienen (wie Jugendbegegnung, Altenfürsorge, [...] Minderheitenförderung [...]). [...]".

Prag, 21. Januar 1997 Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, Bundesaußenminister Dr. Klaus Kinkel, Ministerpräsident Václav Klaus, Außenminister Josef Zieleniec.

Die Hoffnung auf endgültige Entspannung hat sich allerdings bis heute nicht erfüllt. Den unmittelbaren Anlass für eine erneute atmosphärische Verschlechterung gab eine Äußerung des damaligen Ministerpräsidenten Zeman im Herbst 2001, der die Aussiedlung der sudetendeutschen tschechoslowakischen Staatsbürger erneut als historisch gerechtfertigt darstellte. Der Wahlkampf – zunächst in Tschechien, aber dann auch in Deutschland – förderte eine populistische Instrumentalisierung des Themas.

Gemeinsame Zukunft

Im Unterschied zu den Unstimmigkeiten zwischen den politischen Eliten entwickeln sich die Beziehungen zwischen den Bevölkerungen in den letzten Jahren positiv.

Der auf Grundlage der Erklärung von 1997 gebildete "Zukunftsfonds" fördert die Begegnung und gemeinsame Projekte von Bürgerinnen und Bürgern beider Staaten. Er widmet sich auch der Entschädigung tschechischer NS-Opfer. In den letzten Jahren haben sich auf diese Weise durch die Bürger beider Staaten initiiert sowie durch den gemeinsamen Forschungsfonds gefördert viele interessante Projekte ergeben. Besonders wichtig für die Zukunft der deutsch-tschechischen Beziehungen sind die Kontakte zwischen Jugendlichen, organisiert zum Beispiel durch das Tandem-Koordinierungszentrum deutsch-tschechischer Jugendaustausch mit Büros in Plzen (Pilsen) und Regensburg und die Stiftung Brücke/Most in Freiburg und Dresden. Ein Viertel des Geldes, das der Zukunftsfonds für Projekte zur Verfügung hat, wurde für die Arbeit der Schulen und den Jugendaustausch ausgegeben.

Den dynamischsten Bereich der Zusammenarbeit bilden die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Asymmetrien bleiben bestehen: Während der Anteil Deutschlands am tschechischen Außenhandel mehr als 35 Prozent erreichte, sind es umgekehrt nicht mehr als 1,5 Prozent. Auf den hohen deutschen Anteil an den ausländischen Direktinvestitionen in Tschechien wurde bereits hingewiesen. Dabei hat sich auf Grundlage der bisherigen Erfahrungen, etwa mit der Kooperation von VW und Skoda, die ursprünglich durch Misstrauen geprägte Einstellung von Teilen der Bevölkerung gegenüber deutschen Unternehmen deutlich entkrampft.

Deutschland spielte eine wesentliche Rolle bei der Unterstützung der Integrationsbemühungen Tschechiens in NATO und EU. So wurde die Bundeswehr zum wichtigsten Partner der tschechischen Armee. Seit 1994 finden gemeinsame Manöver der Streitkräfte statt. Die Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit ist ebenfalls intensiv. Mit tatkräftiger (auch finanzieller) deutscher Hilfe wurden die bis 1989 gravierenden Umweltprobleme des Dreiländerecks Tschechien, Polen und Deutschland weitgehend gelöst.

In einigen Fällen wurden deutsche Institutionen zum Vorbild für die tschechische Transformation. Das betraf unter anderem den Ausbau der Zentralbank, die Übernahme einiger Umweltnormen sowie weiterer rechtlicher Regelungen. Chancen zur Vertiefung der beiderseitigen Beziehungen bietet der Ausbau tschechischer Kontakte zu einzelnen Bundesländern - vor allem zu den Nachbarn Bayern und Sachsen, darüber hinaus zu Thüringen, Baden-Württemberg, Brandenburg, Hamburg und Nordrhein-Westfalen.

Stimmungsbilder

Noch 1992 reagierten die Hälfte der Tschechinnen und Tschechen bei einer Umfrage zustimmend auf die Aussage: "Die historische Erfahrung lehrt uns, dass man den Deutschen nicht trauen sollte". Noch stärker war die Zustimmung zu diesem Satz bei denjenigen Tschechen, die vor 1945 geboren wurden. Hiervon stimmten zwei Drittel zu. Ähnlich war die Lage bei Jüngeren mit geringer Schulbildung, während Tschechen mit Hochschulbildung schon 1992 eine solchen These nur zu zehn Prozent völlig, zu 37 Prozent teilweise befürworteten, und einige von ihnen gegen eine solche pauschale Aussage protestierten. Aber immerhin, auch hier waren es knapp die Hälfte, die zumindest ein wenig mit dem vorgegebenen Urteil sympathisierten.

Die Erfahrung einer zehnjährigen intensiveren und konfliktärmeren Beziehung zwischen den beiden Staaten und Gesellschaften hat dazu geführt, dass sich auch in der tschechischen Öffentlichkeit ein positiveres Bild der Deutschen herausbilden konnte. Aus Umfragen vom November 2001 geht hervor, dass die Deutschen bei den Tschechen an Sympathie gewonnen haben: Auf einer Skala von 1 (sehr unsympathisch) bis 7 (sehr sympathisch) sollten die Angehörigen anderer Völker eingeordnet werden. Am sympathischsten waren mit Werten zwischen 5,5 und 5,2 Slowaken, Franzosen, Schweden und Engländer. In einer zweiten Gruppe von 4,8 bis 4,0 kamen hinter Amerikanern, Polen und Ungarn die Deutschen.

Insgesamt sind die Beziehungen zwischen beiden Ländern seit 1990 auf eine neue Grundlage gestellt worden. Die von einigen Tschechen Anfang der neunziger Jahre befürchtete "deutsche Dominanz" ist nicht zustande gekommen. Vielmehr kann von einer zwar asymmetrischen, aber partnerschaftlichen Zusammenarbeit gesprochen werden. Das schließt die noch bestehenden Probleme in der gegenseitigen Wahrnehmung ein. Trotz der beschriebenen vielschichtigen Kooperation sind die Kontakte zwischen Deutschen und Tschechen bisher mehr durch Pragmatismus als durch ein tiefes Interesse und Verstehen geprägt.

QuellentextModellprojekt gegen Vorurteile

Die Gemeinden Luby/Schönbach an der böhmisch-sächsischen Grenze und Bubenreuth bei Erlangen führen seit Jahren exemplarisch vor, wie ein tiefer geschichtlicher Graben überwunden werden kann. Entstanden ist er, als [...] viele deutschsprachige Instrumentenbauer aus Schönbach vertrieben wurden und fast alle in Bubenreuth ihre neue Heimat fanden. [...]

Die beiden Orte brauchten Zeit, um sich näher zu kommen. Der Bubenreuther Bürgermeister Klaus Pilhofer erzählt, dass zwar Privatpersonen gleich nach der Grenzöffnung zu ihren Bekannten gefahren seien und sich die Politik mit angeschlossen habe. [...] Gleichzeitig fragte sich so mancher Bubenreuther, ob man die Beziehungen zu Luby mit dem Weggehen der "Erlebnisgeneration" nicht überhaupt einstellen sollte.

Den Beginn engerer Kontakte datiert Pilhofer auf Mitte der 90er Jahre. Er wollte als neuer Bürgermeister damals [...] darüber nachdenken, [...] wie er über den Tellerrand hinausschauen könnte. [...]

Er fand glücklicherweise Mitstreiter. Pilhofer: "Es hing politisch, dann aber auch schulisch von einzelnen Menschen ab, zum Beispiel von Schulleitern, die bereit waren, im Unterricht auch mal den böhmischen Teil unserer Geschichte durchzunehmen und [...] das Interesse an den Menschen zu wecken, die dort heute leben."

Die erste Reise mit einer Bubenreuther Schulklasse nach Luby 1998 wäre dann doch beinahe ein Flop geworden. Sie fiel, weil nicht richtig recherchiert, gerade in die tschechische Ferienzeit. [...]

Von diesem Zeitpunkt an folgten Besuch und Gegenbesuch aufeinander [...]. Bürgermeister Pilhofer [...] fuhr im vergangenen Jahr als Klassenaufsicht mit nach Luby. "Die Kinder waren in Bezug auf unser Reiseziel zuerst ein bisschen skeptisch", erinnert er sich. "Unter den Eltern und Großeltern sind ja auch Egerländer, die ihre Erzählungen mit hineinmischten. Aber an den zwei Tagen mit Übernachtung lösten sich viele Vorurteile auf, die die Kinder von Zuhause mitgebracht hatten. Die Skepsis war am Ende wie weggepustet." [...]

Wenn der Bann erst einmal gebrochen ist und Menschen wieder ohne Angst und Vorurteil aufeinander zugehen, wird vieles möglich. [...] Fünf Kinder aus Luby/

Schönbach und Plesna/Fleissen werden ab Herbst halbtägig den Kindergarten in der Grenzstadt Schirnding besuchen. Wie wichtig solche Modellprojekte sind, wird klar, sobald man sich vergegenwärtigt, dass die Zweisprachigkeit zum humanen Kapitalstock der Region zwischen Karlsbad, Bayreuth und Plauen zählt.

Pit Fiedler, "Luby und Bubenreuth: Mit Musik über alle geschichtlichen Gräben, in: Das Parlament Nr. 34–35 vom 17./24. August 2001.

Der jungen Generation in beiden Staaten bietet sich die Möglichkeit, die alte Konfliktgemeinschaft von Deutschen und Tschechen nüchtern zu verarbeiten sowie dauerhaft zu verändern und damit die Formulierung der Deklaration von 1997: "Beide Seiten stimmen darin überein, dass das begangene Unrecht der Vergangenheit angehört und werden daher ihre Beziehungen auf die Zukunft ausrichten," mit Leben zu erfüllen.