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Ein Zufall nur – ein Leben lang. Die Geschichte des Orazio Giamblanco | Rechtsextremismus | bpb.de

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Ein Zufall nur – ein Leben lang. Die Geschichte des Orazio Giamblanco

Frank Jansen

/ 34 Minuten zu lesen

Der Italiener Orazio Giamblanco wurde im September 1996 in Trebbin in Brandenburg von Neonazis fast totgeschlagen. Frank Jansen vom Berliner "Tagesspiegel" hat das Opfer rechtsextremer Gewalt seit jener Zeit begleitet und jährlich über Orazio, seine Frau Angelica und deren Tochter Efi geschrieben. Der vorliegende Text erzählt von der Tat an Orazios Leidensgeschichte.

Mit einem Baseball-Schläger verletzte der Neonazi Jan W. den Italiener Orazio Giamblanco lebensgefährlich. (© picture-alliance)

Es geschah am 30. September 1996. Der Skinhead Jan W. und ein Freund, auch ein Rechtsextremist, überfallen in der brandenburgischen Kleinstadt Trebbin italienische Bauarbeiter. Jan W. schlägt seinen Baseballschläger dem Sizilianer Orazio Giamblanco mit Wucht gegen den Kopf. Die Ärzte in Luckenwalde können den Italiener retten.

Heute lebt er wieder in Bielefeld; von hier war er 1996 nach Brandenburg aufgebrochen, um als Hilfsbauarbeiter ein wenig Geld zu verdienen. Wie damals kann sich der heute 73-jährige Giamblanco auf seine griechische Lebensgefährtin Angelica Stavropolou und ihre Tochter Efthimia Berdes verlassen. Die beiden Frauen, inzwischen 63 und 40 Jahre alt, pflegen ihn seit fast 19 Jahren, bis zur völligen Erschöpfung. Der Baseballschläger hat auch sie getroffen. Und trifft sie und Orazio Giamblanco täglich weiter.

Wenige Monate nach dem Überfall, am 6. April 1997, habe ich für die Berliner Zeitung "Tagesspiegel" Orazio Giamblanco und seine Lebensgefährtin das erste Mal getroffen. Angesichts vieler rechtsextremer Angriffe, nicht nur in Brandenburg, erschien es notwendig, wenigstens eine Opfer-Geschichte weiterzuerzählen. Über den Tag und das Jahr hinaus, als Langzeitstudie über ein Opfer rechter Gewalt in Deutschland. Die persönliche Nahaufnahme sollte das Übel und die Auswirkungen, die rechte und rassistische Gewalt anrichten, verdeutlichen: Seit der Wiedervereinigung haben rechte Schläger, rechnet man die Statistiken der Polizei hoch, vermutlich mehr als 10.000 Menschen attackiert. Wie es den Opfern geht, welche Qualen sie aushalten müssen, auch lange nach der Tat, ist weitgehend unbekannt. Deutschland weiß wenig über die Opfer rechter Gewalt, obwohl es viele sind.

Aus dem Reporter und Orazio Giamblanco, Angelica Stavropolou – sie trug bis vor wenigen Jahren den Namen Berdes, aus ihrer ersten Ehe – und Efthimia Berdes sind inzwischen längst Freunde geworden. Nach den jährlichen Berichten, die nach wie vor im "Tagesspiegel" erscheinen, gehen jedes Mal Spenden ein, die der Potsdamer Verein Opferperspektive sammelt und nach Bielefeld überweist. Es ist ein Lichtblick für Orazio, Angelica und Efthimia. Sie fühlen sich nicht vergessen. Dennoch ist das Leben für sie oft unerträglich – wie die chronologische Erzählung aus den Jahren 1997 bis 2014 zeigt.

April 1997

Es ist Frühling im Weserbergland südwestlich von Hannover. Im Dorf Coppenbrügge ist eine neurologische Spezialklinik untergebracht. Sie trägt den Namen "Krankenhaus Lindenbrunn".

Vor dem Eingang sitzen zwei ältere Männer in Rollstühlen und genießen stumm die Sonne. Für einen der Patienten in "Lindenbrunn" wäre selbst dies eine Qual. Orazio Giamblanco verträgt nicht mehr als normale Zimmerwärme und erst recht kein Sonnenbad. "Dann muss ich brechen", sagt der 56 Jahre alte Italiener mit kaum hörbarer Stimme. Dass der verkrüppelte Mann im Rollstuhl die Sonne nicht mehr erträgt, ist nur eine und auch schwächere Folge jener Ereignisse, die sich im vergangenen Jahr am Abend des 30. September im brandenburgischen Trebbin abgespielt haben.

Giamblanco hatte gerade von einer Telefonzelle aus mit seinen Angehörigen in Italien gesprochen. Der Sizilianer und zwei seiner Landsleute, Bauarbeiter wie er, wollen zurück in ihre Unterkunft. Plötzlich halten neben ihnen mit quietschenden Reifen zwei Trabants. Skinheads springen heraus, rufen "Seid ihr Italiener?" Bevor die Bauarbeiter etwas sagen können, werden sie mit Baseballschlägern traktiert. Giamblanco wird am Kopf getroffen, er sinkt bewusstlos auf den Bürgersteig. Die Schläger springen in ihre Autos und rasen weg. Giamblancos Begleiter krümmen sich vor Schmerzen und schaffen es doch, ihren leblosen Kollegen ins Krankenhaus zu bringen.

18 Tage liegt Giamblanco auf der Intensivstation der Klinik im nahen Luckenwalde. Mit zwei Operationen gelingt es den Ärzten, seine Hirnblutung zu stoppen. Sie ist lebensgefährlich und beunruhigt die Mediziner noch mehr als die Schädelfraktur, die Giamblanco auch erlitten hat. Als er aus dem Koma erwacht, sind Arme und Beine, vor allem auf der linken Seite, nahezu taub. Der Hieb mit dem Baseballschläger hat Giamblanco an der rechten Kopfseite getroffen. Deshalb sind seine linken Extremitäten am meisten betroffen – jede Gehirnhälfte steuert die gegenüberliegende Körperseite.

Auf dringende Bitten seiner Lebensgefährtin Angelica wird Orazio ins heimische Bielefeld verlegt. Hier hat er 30 Jahre gelebt, bevor er sich auf die Suche nach einem Bauarbeiterjob in den Osten Deutschlands begab. Nach fünf Jahren Arbeitslosigkeit konnte er auf einer Baustelle in Trebbin anfangen. Seine Zementallergie hat er verschwiegen – die Stelle als Hilfsarbeiter war wichtiger. "Gerade drei Tage hat er gearbeitet", sagt Angelica. Dann kamen die Skins.

Mit erhobenem Kopf, aber schlaffen Armen und Beinen sitzt Giamblanco in seinem Rollstuhl. Der Mann in dem grün-schwarzen Trainingsanzug und den schweren orthopädischen Schuhen blickt starr auf den Besucher. Wenn Giamblanco etwas sagen will, hebt er das Kinn – offenbar eine reflexartige Reaktion auf den Luftröhrenschnitt, der zur künstlichen Beatmung auf der Intensivstation erforderlich war. Nur mit Mühe bringt Giamblanco ein paar Worte heraus. "Jaa, habe nicht mehr Gesundheit … geht mir schlecht … ich war gute Gesundheit, aber jetzt weiß nicht, was kommt." Ein längerer Satz ist nicht möglich. Die braunen Augen haben den Besucher fest im Blick. Giamblancos Augen sagen, was seine Stimme kaum noch auszudrücken vermag.

Am 20. November kommt er in die Klinik am Rande von Coppenbrügge. "Er kann jetzt mit Unterarmgehstütze sehr langsam gehen", sagt Stationsarzt Stefan Mohr. "Aber Herr Giamblanco braucht noch eine zusätzliche Hilfe. Dann schafft er 20, 30 Meter auf dem Stationsgang." Den rechten Arm und das rechte Bein kann Giamblanco wieder halbwegs bewegen. Bei den Gliedmaßen der linken Körperhälfte ist die vollständige Lähmung laut Mohr in eine "mittelgradige" übergegangen. Intensive Krankengymnastik soll den Sizilianer in die Lage versetzen, wieder einfache Handgriffe vorzunehmen. Beim "Koordinationstraining" schichtet er Holzringe auf sogenannte Steckbäume. Seine Schuhe kann er bis heute nicht selbst anziehen. Auf die Frage, ob Giamblanco wieder genesen wird, reagieren Mohr und Oberarzt Torsten Helberg mit Schweigen. Dann beugt sich Helberg etwas vor und sagt: "das ist extremst unwahrscheinlich".

September 1997

Orazio befindet sich in einer Reha-Klinik in Bad Oeynhausen. Ein ruhiges, geräumiges Zimmer, zwei Betten stehen sich im Raum gegenüber, eins mit dem Kopfende zur linken Wand, das andere, etwa zweieinhalb Meter entfernt, zur Rechten. Hier liegt Orazio Giamblanco, ein Mann mit schwarzem, lockigen Haar, das an den Schläfen in silbriges Grau übergeht. Nur sein Kopf ist zu sehen, der Körper ruht unter einer hellbraunen Decke. Giamblanco rührt sich nicht.

Zwei Frauen kommen auf ihn zu. "Hallo Orazio, wie geht’s Dir?", sagt die ältere der beiden Frauen. Keine Antwort. Die Jüngere fragt: "Orazio, möchtest Du aufstehen?" Giamblanco brummt irgendwas. Die ältere Frau zieht die Decke zurück, dann greift sie dem Mann unter die Schultern. Die Jüngere nimmt seine Beine und hebt sie an. Giamblanco wird aufgerichtet und in Sitzposition zur Bettkante gedreht. Die beiden Frauen ziehen ihm hohe orthopädische Stiefel an, dann hieven sie ihn in einen Rollstuhl. Orazio Giamblanco ist 57 Jahre alt, geboren in Italien, seit 1961 in Deutschland. Und seit einem Jahr schwer behindert.

Ende Mai 1997 kam Giamblanco aus dem Krankenhaus "Lindenbrunn" in Coppenbrügge heraus. Drei Monate war er zu Hause, in einer kleinen Wohnung in Bielefeld. Die, wie eben möglich, behindertengerecht umgerüstet wurde, mit elektrisch verstellbarem Pflegebett, erhöhtem Toilettensitz, Badewannenlifter. Es ging nicht. Trotz Krankengymnastik, trotz medikamentöser Behandlung, trotz der Hilfe seiner zierlichen, 46 Jahre alten Freundin Angelica und ihrer 23-jährigen Tochter Efthimia. "Wollte nur, dass einer da ist." Pause. "Habe immer Angst gehabt … von morgens bis abends geweint." Giamblanco hebt mühsam die rechte Hand vors Gesicht. Der Besucher soll seine Tränen nicht sehen. In diesem September sah der Hausarzt keinen anderen Ausweg, als Giamblanco in ein Bielefelder Krankenhaus einzuweisen. Von dort ging es zur "Anschlussbehandlung" nach Bad Oeynhausen. Erst mal für drei Wochen. Wahrscheinlich für länger.

Ein Jahr ist vergangen seit dem Angriff. Orazio Giamblanco weiß, dass er nie wieder gesund wird. Ärzte und Therapeuten hoffen auf "kleine Fortschritte". Sie sind nur zu erzielen, wenn Giamblanco das Äußerste an Motivation und verbliebener Kraft aus sich herausholt. In dem Bewusstsein, bis ans Lebensende auf Hilfe beim Gehen, Essen, Waschen angewiesen zu sein. Diesen Widerspruch erträgt Giamblanco nicht. Offenbar unablässig hadert er mit seinem Schicksal. Nachts liegt er lange wach. "Schlafe bis zwölf Uhr … schlafe bis zwei Uhr … dann schwer zu schlafen … überlege immer." Giamblanco kann seinem Trauma nicht entrinnen. Zumal Demütigungen und Sorgen hinzugekommen sind, die den Albdruck verlängern.

Angelica und ihre Tochter, die Mutter nennt sie "Efi", haben Orazio Zeitungsartikel über den Prozess gegen die Täter vorgelesen. Orazio musste hören, was die Freundinnen der beiden Skins vor dem Potsdamer Landgericht über das Opfer behaupteten: "Der hat gesagt, wir sind hier, um eure Frauen zu ficken." Dieser Satz quält Giamblanco fast so wie die Schläge mit der Baseballkeule. "Ich hab’ kein Mensch schlecht gemacht." Sein Mund zittert leicht, die Augen füllen sich mit Tränen. "Guck’ mal, was bin jetzt … bin kein Mensch mehr." Der Hinweis auf das harte Urteil des Gerichts beruhigt Giamblanco nicht. 15 Jahre für den Haupttäter Jan W., acht Jahre für seinen Kumpanen – "die müssen hundert Jahre … bis in den Tod … was der getan … ohne Grund." Für den Mann im Rollstuhl gibt es jetzt kein Verzeihen. Haftstrafen laufen ab. Seine Behinderung währt lebenslang.

Sie macht auch einsam. Außer seiner Freundin und ihrer Tochter besuche ihn niemand, sagt Giamblanco. Selbst die beiden italienischen Kollegen, die den Überfall in Trebbin miterlebten, hätten sich nicht mehr gemeldet. Der Kontakt zu seiner Familie scheint abgerissen zu sein. Angelica berichtet, Orazios Arbeitslosengeld in Höhe von 1015 Mark monatlich behalte das Sozialamt ein. Der Grund: Seine Ex-Frau bekomme Sozialhilfe, die hole sich die Behörde von Giamblanco zurück. Also blieben ihm nur 800 Mark Opferentschädigung pro Monat. Angelica und Efthimia sind kaum besser dran. Sie erhalten 1115 Mark Pflegegeld. Macht zusammen knapp 2000 Mark. Angelica hat ihren Job in einer Schokoladenfabrik aufgegeben, Efthimia brach eine Lehre als Friseurin ab. Ihre Mutter allein wäre mit der Pflege von Giamblanco überfordert.

Oktober 1998

Orazio übt im Flur vor seiner Wohnung in Bielefeld, an einem Rollator zu gehen. Er umklammert die Haltegriffe, er schiebt den rechten Fuß nach vorn. Pause. Die linke Hüfte hebt sich, der linke, nach innen gekrümmte Fuß zieht nach. Pause. Orazio starrt auf den Boden. Er hebt den Kopf und blickt zur Tür. Der rechte Fuß ruckt ein paar Zentimeter vorwärts. Efi ruft, "der Flur ist kalt. Ich zieh’ dir deine Jacke an." Orazio brummt was, er will nicht gestört werden. Er will die acht Meter Hausflur schaffen. Nach zehn Minuten stößt er mit dem Rollator an die Haustür. Innehalten. Langsam wendet Orazio das Rollgestell. Wieder liegen acht Meter vor ihm. Noch mal zehn Minuten kraftraubender Schlurfgang. Aber ohne fremde Hilfe.

"Leben" heißt für Giamblanco, dem eigenen Körper zentimeterweise Fortschritte abzuringen – ohne jemals wieder normale Bewegungsabläufe erreichen zu können. Doch der Anblick des im Hausflur wandernden Orazio ist auch ermutigend. Vor einem Jahr wäre an zwanzigminütige Gehversuche nicht zu denken gewesen. Ebenso wenig an die Benutzung des rechten Arms. Giamblanco kann nach zwei Jahren wieder ein Glas Wasser zum Mund führen. Der linke Arm hängt weiter schlaff herunter. Hinzu kommen Sprachprobleme und Konzentrationsschwächen. "Jeden Tag schwindelig", Giamblanco ist kaum zu verstehen. Immerhin kann er jetzt aufeinander folgende kurze Sätze formulieren. Dann bekommt er keine Luft mehr.

Dass Orazio Fortschritte gemacht hat, ist vor allem den beiden Frauen zu verdanken, die ihm zur Seite stehen. Doch immer wieder muss der Italiener in Kliniken eingeliefert werden. Schmerzen, Schlafstörungen, Schwächeanfälle, Depressionen – die Liste der Symptome ist lang. Und es kommen weitere hinzu. In diesem Jahr riefen die beiden Frauen mehrmals den Notarzt. "Orazios Bauch wurde so dick wie bei einer Schwangeren", sagt Efthimia. Der Hausarzt Giacinto Saccomanno, ebenfalls italienischer Herkunft, erklärt: "Herr Giamblanco leidet als Folge des Schädel-Hirn-Traumas auch an Darmlähmung. Das ist lebensgefährlich."

Angelica ist zermürbt. Sie hebt ihren Lebensgefährten ins Bett, auf die Toilette, in die Badewanne, in den Stuhl vor dem Fernseher. "Ich habe Rückenschmerzen." Die Frau klingt verbittert. Dann sagt sie eine halbe Minute nichts. Plötzlich redet sie drauflos, "ich sehe kaum Fortschritt. Ein Bein von Orazio ist immer steif. Ich hab’ Angst, wie soll ich das alles schaffen? Meine Nerven sind kaputt." Angelica nimmt Beruhigungstabletten und geht zum Psychiater. Auch Efthimia ist voll eingespannt. Einen Freund hat sie nicht, nur am Wochenende geht sie aus. "Ich kann meine Mutter nicht alleine lassen. Letztens ist Orazio mit dem Gehwagen umgekippt. Er hat am Kopf geblutet und musste ins Krankenhaus. Da muss ich doch helfen." Wie die Mutter hadert Efthimia mit dem Schicksal, "wäre Orazio damals in Bielefeld geblieben, wäre nichts passiert." Nein, sie sprächen kaum über die Gewalttat, "Orazio weint dann". Dass er dennoch seine zweite Heimat in Schutz nimmt, versteht Efthimia nicht. "Orazio sagt, Deutschland ist sehr gut. Aber ich sage, wenn Deutschland so gut ist, gäbe es nicht so eine Ausländerfeindlichkeit."

Oktober 1999

Orazios linke Faust drückt sich in Angelicas gefaltete Hände. Langsam kommt das Paar näher. Nur wenige Meter sind von der Toilette über den Flur bis zum Wohnzimmer zu bewältigen. Orazio schiebt den rechten Fuß vor und zieht das linke Bein nach, dann die Krücke. Pause. Wieder hebt sich der rechte orthopädische Stiefel um drei, vier Zentimeter, kommt eine Sohlenlänge voran, nun schlurft der linke Stiefel hinterher. Schließlich ist es geschafft. Gemeinsam drehen sich Orazio und Angelica um 180 Grad, dann lässt er sich in den Stuhl mit den zwei Sitzkissen fallen. Orazio ächzt. Er zieht den linken Mundwinkel ein wenig hoch. Die Andeutung eines Lächelns. Es hat alles geklappt. Der Besucher konnte und sollte es sehen: kein Rollstuhl. Auch kein Rollator. Nur die Krücke und die zur Stützkuhle gefalteten Hände von Angelica. "Bisschen besser", nuschelt Orazio, "manchmal geht, manchmal geht nicht."

Drei Jahre ist es jetzt her, dass der Italiener in Trebbin zusammengeschlagen wurde. Gegen Ende 1998 gelang es Angelica und Efthimia, Orazio zu einem längeren Aufenthalt nach Griechenland zu transportieren, dem Heimatland der beiden Frauen. Die vom Arzt empfohlene Reise wurde mit einem Teil der 32.000 Mark bezahlt, die Leser des Berliner "Tagesspiegel" für Giamblanco gespendet hatten.

Das mediterrane Klima tat dem Italiener gut. Er trainierte im Urlaub das Gehen, Zentimeter für Zentimeter, fast jeden Tag. So gelang dann die Umstellung auf die Krücke und eine Handkuhle von Angelica oder Efthimia. Orazio findet schrittweise zurück ins Leben, , solange eine der Frauen in seiner Nähe ist, um ihn aufzufangen. Seelisch und auch physisch.

Als der dritte Jahrestag des Verbrechens nahte – Giamblanco und die Frauen sprechen immer nur vom "Unfall" – wurde er wieder depressiv. "Habe geweint im September", sagt Orazio. Es hat sich auch niemand aus Trebbin oder Brandenburg gemeldet, um sich nach dem Befinden des Opfers zu erkundigen.

Dezember 2000

In einem langen, hellen Raum mit drei großen Fenstern steht eine hydraulische Liege. Orazio kommt herein, gestützt auf zwei Krücken. Nach etwa zwei Minuten erreicht er die Liege und dreht ihr langsam den Rücken zu. Als er sich setzen will, verlässt ihn die Kraft. Abrupt sackt er auf die dünne Unterlage, die mit einem blauen Stretch-Tuch bezogen ist. Tino Czerlinski, der junge, bärtige Therapeut, grüßt freundlich. An fünf Tagen in der Woche fährt das Rote Kreuz Orazio und Angelica von der Wohnung im Zentrum Bielefelds zur Krankengymnastik im Ortsteil Brake. Dort steht Orazio jedes Mal eine anstrengende, schweißtreibende Stunde bevor. Aber die Qual bedeutet auch Hoffnung: Vier Jahre, nachdem ihm ein Neonazi einen Baseballschläger gegen den Kopf geschlagen hat, konnte sich Giamblanco wieder ein wenig Leben erkämpfen. Tino Czerlinski lobt seinen Patienten – und wundert sich: "Wenn ich mir die Schwere der zentralen Schädigung ansehe, muss ich sagen: Orazio hat eine Entwicklung gemacht, die nicht zu erwarten war."

Dezember 2001

Vor wenigen Wochen hat Orazio Giamblanco die Gymnastik unterbrochen. Orazio sei therapiemüde, sagt Therapeut Czerlinski, das sei normal. Orazio komme bald wieder. Die Pause scheint Giamblanco kaum zu schaden. Er steht jetzt sogar ohne fremde Hilfe vom Tisch auf. Das dauert mehrere Minuten, der Kopf läuft rot an. Dann muss der Rollator her. "Geht besser", nuschelt Orazio. Er verzieht den Mund zu einem Lächeln. Ein Lächeln – das war in den letzten Jahren selten. Nun kommt es, zwei-, dreimal in der Stunde. Es löst die Maske auf, zu der Schmerz und Trauma das Gesicht verhärtet haben.

Orazio verspürt Auftrieb. Ende Oktober ist er mit Angelica in Bielefeld umgezogen. Giamblanco hat nach einem Antrag seines Anwalts aus dem Zehn-Millionen-Fonds, den der Bundestag in diesem Jahr zur Entschädigung von Opfern rechter Gewalt initiiert hat, 300.000 Mark bekommen und eine Neubauwohnung gekauft. Die ist geräumig, hell, ebenerdig, vor der Haustür neigt sich eine Rollstuhlrampe zum Bürgersteig. Angelica ruft, als verkünde sie einen Lottogewinn: 84 Quadratmeter! Das ist ein Drittel mehr als in der alten Behausung, wo Gehgestell und Krücken an jede Ecke stießen. Efthimia zog in die teure Nachbarwohnung ein, um ihrer zierlichen Mutter bei der Pflege des schwerbehinderten Mannes beistehen zu können. Für ihn opfert Efthimia die karge Freizeit, die ihr der Job im Drei-Schichten-System der Schokoladenfabrik, wo einst schon ihre Mutter gearbeitet hat, lässt. Vom Gehalt bleibt nach Abzug von Miete und Alltagskosten nichts übrig. Eine Alternative sieht Efthimia nicht. Letztens, sagt sie, sei Orazio umgefallen. "Meine Mutter hat zwei Stunden gebraucht, um ihn zum Bett zu ziehen, damit er sich aufstützen konnte. Ich war auf Arbeit, aber ich habe meiner Mutter gesagt: Wenn das wieder passiert, rufst du über Handy an und ich komme. Mein Chef versteht das."

Bei ihrem ehemaligen Vorgesetzten war das anders. Efthimia brach nach dem Angriff auf Orazio die Lehre in einem Friseursalon ab, ein halbes Jahr vor der Prüfung. Ihr Chef hatte kein Verständnis. "Der hat immer gesagt, ich darf nicht fehlen", klagt Efthimia, "was kümmerst du dich überhaupt um den Italiener, der ist doch gar nicht dein Vater". Mobbing im Job plus Pflege eines Schwerbehinderten – das war zu viel. Nach dem Abbruch der Lehre hat Efthimia etwa drei Jahre nicht gearbeitet. Bis sie es nicht mehr aushielt, mit Mitte zwanzig keine andere Perspektive zu haben als die häusliche Pflege von Orazio. So nahm sie die Stelle in der Schokoladenfabrik an.

Es gibt einen Punkt, da schlägt bei Efthimia und ihrer Mutter die Geduld um in Wut. Wenn Angelica über das Gezerre mit Pflegeinstitutionen spricht, wird sie laut. "Ich bin zur AOK und habe gesagt: Ich brauche neue Krücken für Orazio. Die alten sind verbogen, vom Hinfallen. Eine Frau hat gebrauchte Krücken geholt. Ich habe geschimpft, Orazio braucht stabile neue Krücken, soll er wieder hinfallen? Dann kam eine nette Frau, die hat gesagt, ich kenne Sie, ich bringe neue Krücken." Der Kampf um ein neues Paar orthopädische Schuhe war ähnlich aufreibend. Außerdem wartet Giamblanco seit drei Monaten auf einen elektrischen Rollstuhl. Mit der AOK Westfalen-Lippe gab es Zuständigkeitsprobleme, es brauchte die Genehmigung vom Versorgungsamt Cottbus. Giamblanco wurde in Brandenburg zusammengeschlagen, also ist dort eine Behörde zuständig. Mit ihr hat Giamblanco zwiespältige Erfahrungen gemacht: Im letzten Jahr weigerten sich das Versorgungsamt Cottbus und die Krankenkasse, eine Spezialtherapie in Hamburg zu bezahlen. Der Italiener und die beiden Frauen Berdes erfuhren davon erst, als sie in der Privatklinik angekommen waren. Diesmal jedoch reagierte das Versorgungsamt Cottbus anders und genehmigt den Elektrorollstuhl.

Dezember 2002

Eine Anwaltskanzlei in Berlin. Jan W. fixiert einen imaginären Punkt auf der Tischplatte. Er war Skinhead. Orazio ist sein Opfer. Jan W. hat den Italiener beinahe totgeschlagen. Kurz nach der Tat stellte er sich, im April 1997 verurteilte ihn das Landgericht Potsdam zu 15 Jahren Haft wegen versuchten Mordes. In der Haft begann Jan W., über sein Leben nachzudenken. Er wandte sich an die Berliner Aussteigerhilfe "Exit" und sagte sich im Sommer 2001 von der rechten Szene los. Er bringt frühere Kumpane vor Gericht. Vor allem aber will er sich bei Orazio Giamblanco entschuldigen.

Dezember 2003

Der Fortschritt wirkt winzig und hat doch eine enorme Wirkung. Orazio Giamblanco kann an seinem linken Fuß die Zehen wieder bewegen. Kurz vor und zurück. Das kostet Kraft, der Italiener würde die Zehengymnastik kaum länger als ein, zwei Minuten durchhalten. Aber nach sieben Jahren mit einem tauben, verbogenen Fuß kann Giamblanco spüren, dass seine linken Zehen ihm etwas besseren Halt geben und dass er mit seinen Krücken stabiler steht und sicherer weiterkommt.

Orazio hat in den sieben Jahren seit der Tat seinem Körper – und der Psyche – viele kleine Fortschritte abgerungen. Er kann inzwischen allein essen, die Toilette aufsuchen und mit seinem Elektrorollstuhl in der näheren Umgebung herumfahren. Orazios größter Erfolg ist allerdings eine Reise in die alte, zuletzt in den achtziger Jahren besuchte Heimat Sizilien. Zusammen mit Angelica und Efthimia hat er sich im Juni 2003 diesen Traum erfüllt.

Schon der erste sizilianische Luftzug beflügelt. Als Giamblanco am Mittag des 22. Juni aus dem Flugzeug tritt und oben von der Gangway die Hügel rings um Catania sieht, ruckt er nach vorne. Anstatt auf einen vom Flughafen bestellten Pfleger zu warten, der ihn die Treppe hinunterbegleitet, wagt sich Giamblanco selbst an die 17 Stufen. Nein, er will keine Hilfe, Angelicas Protest wird ignoriert.

Den Flug, das Hotel und zwei Mietwagen hat ein Berliner organisiert. Ulrich Siegers, Berater für Stahlwerke, las im Dezember 2001 eine Reportage über Giamblanco und damit auch Schlusswort Orazios Wunsch, noch einmal nach Sizilien zu kommen. "Da hab’ ich mir gedacht: Das muss ich machen", sagt Siegers, "ich hab’ die Zeit, ich hab’ das Geld, ich hab’ die Freiflüge." Er hat eine eigene leidvolle Erfahrung, die für Giamblancos Schicksal sensibilisiert. Siegers’ Frau wurde 1978 in London von einem Bus angefahren und ist schwer behindert. Viel mehr möchte der 60-Jährige über sich und seine Familie nicht sagen. Er hebt Orazio Giamblanco aus dem Rollstuhl und in den Wagen, hält Angelica die Tür auf, er setzt sich ans Steuer und braust los.

Siegers hat sich auch nicht entmutigen lassen, als der erste Reiseversuch im letzten Moment scheiterte. Mitte März 2002 stand er schon am Flughafen Hannover, wartete auf den gemeinsamen Abflug, doch Orazio kam nicht. Die gewaltige Freude auf das Wiedersehen mit Sizilien brachte seine fragile Psyche durcheinander. Auf der Taxifahrt von Bielefeld zum Flughafen musste sich Orazio so oft übergeben, dass Angelica entschied: zurück. Danach lag er weinend im Bett, tagelang.

Also kehrt Orazio erst im Juni 2003 nach Agira zurück, seine alte Heimatstadt, in der auch die Eltern begraben sind, wo auf einer sonnenverbrannten steilen Bergkuppe die Häuser eng aneinander kleben, überragt von einer wuchtigen Kirche und einer Burg. Der Friedhof befindet sich auf einem hügeligen Ausläufer, da will Orazio hin. In der Mittagshitze steigt er, gestützt von Angelica, die Stufen zu dem Totenhaus hinauf. Im Halbdunkel sind mehr als 200 Fächer zu erkennen, versiegelt mit Marmorplatten. Auf einer steht "Manetto Filippa", daneben prangt das ovale Schwarzweiß-Foto einer alten Frau mit streng zurückgekämmten Haaren. Giamblanco flüstert "Mamma", führt langsam die rechte Hand an die Lippen und drückt einen Kuss auf die Fingerspitzen. Dann streckt er den Arm aus, die Hand berührt das Foto. Links daneben liegt der Vater Salvatore. Auch sein Foto berührt Orazio mit den angefeuchteten Fingerspitzen. Angelica und Efthimia schauen zu. Und achten darauf, dass Giamblanco, der sich leicht schwankend auf nur eine Krücke stützt, das Gleichgewicht hält.

Dezember 2004

Karsten Tiekötter hat einen trockenen Humor. "Ich bin ein lebendiger Krückstock", sagt Orazios Physiotherapeut und lächelt knapp. Er vergleicht Orazio mit Patienten, die einen schweren Schlaganfall erlitten haben. In diesem Jahr waren die schlechten Tage häufiger als im letzten. Im April starb einer von Orazios Brüdern, Francisco. Die Trauer nach dem Tod eines nahen Angehörigen, die schon für jeden nicht-behinderten Menschen schwer ist, wirkte bei Orazio doppelt. "Er hat Probleme mit dem Schlafen, hat Kopfschmerzen", sagt Angelica. Sie hätten schon den Morgen-Kaffee abgesetzt. Sogar die Physiotherapie musste unterbrochen werden. "Wir haben dann nur Fangopackungen gemacht", erzählt Therapeut Tiekötter. Orazio habe auf dem warmen Schlamm gelegen und sich einfach nur ausgeruht. Nach dem 30. September, dem Jahrestag des Überfalls, war tagelang keine Gymnastik möglich.

Dezember 2005

Wieder im Gymnastikraum des Klinikums Bielefeld. Doch jetzt geht nicht mehr viel. Orazio ist 64, der altersbedingte Verschleiß schwächt zunehmend den Kampf gegen die Behinderung. Schon mit dem Hinsetzen hat Orazio an diesem Tag Probleme. Er stolpert, als er sich an Krücken zur Liegebank bewegt. Therapeut Tiekötter greift sofort zu und verhindert einen Sturz. "Heute nicht gut", murmelt Orazio. Er hadert mit sich selbst, "kann nicht verstehen, warum mit den Beinen so schwer zu laufen." "Es fehlt ihm die Perspektive, dass sich die Situation bessert", meint Tiekötter. Er spürt, dass sein Patient resigniert und sich einkapselt: "Er sagt nicht mehr, wenn ihm was weh tut."

Mittagessen nach der Gymnastik. Während Giamblanco stumm den Nudelauflauf isst, erzählen Angelica und Efthimia, wie es ihnen geht. "Meine Probleme werden immer mehr", sagt Angelica, "vor allem der Bluthochdruck." Lebensinhalt der zierlichen Frau, jetzt 54 Jahre alt, ist die Pflege von Orazio. Angelica nimmt täglich Beruhigungsmittel und geht regelmäßig zum Psychiater, "das hilft mir, ich kann reden." Auch ihre Tochter Efthimia, inzwischen 31 Jahre alt, zahlt einen hohen Preis. Wortwörtlich. Sie lebt in einer teuren Mietwohnung gegenüber ihrer Mutter und Orazio, um ihnen so oft es geht beizustehen. "Meinem letzten Freund hat das nicht gepasst", sagt Efthimia. "Das ist schon die zweite Beziehung in drei Jahren, die deshalb kaputt gegangen ist."

Jan W., der Mann, der vor neun Jahren zugeschlagen, Orazio zum Krüppel und die beiden Frauen zu seinen Pflegerinnen gemacht hat, ist inzwischen auf freiem Fuß. Im Gefängnis hat sich Jan W. von der rechtsextremen Szene gelöst, er bereut seine Tat glaubhaft. So konnte er in den offenen Vollzug wechseln und kam schließlich auf Bewährung frei. Lange schon wollte er Orazio schreiben. Nun sagt er in einem kurzen Telefonat, er habe diesen Brief endlich fertig. Verschickt ist das Schreiben allerdings noch nicht. Warum nicht – das ist von Jan W. nicht zu erfahren.

Dezember 2006

Und dann kommen sie doch. Gleich zwei Briefe hat Jan W. geschrieben. Der Ex-Skinhead entschuldigt sich bei Orazio, Angelica und Efthimia. "Ich habe mich so lange vor diesem Schritt gescheut und immer wieder Ausflüchte und Gründe gesucht, um diese Briefe vor mir weg zu schieben", steht da. "Es lag daran, dass ich vor diesem Schritt sehr große Angst habe. Angst davor, nicht die richtigen Worte zu finden, wo ich mich einfach mal so entschuldige." Es ist Sonntag, der 3. Dezember 2006, der Erste Advent. Auf dem großen Esstisch in Orazios und Angelicas Bielefelder Neubauwohnung liegen 16 eng beschriebene weiße Blätter. Geschrieben hat sie Jan W. Er lebt nach seiner Entlassung aus der Haft wieder in seiner Heimatstadt Trebbin. Hier, wo er vor zehn Jahren zuschlug.

Nur unter einer Bedingung haben sich Orazio, Angelica und Efthimia auf die Briefe von Jan W. eingelassen: Sie wollten das Schreiben keinesfalls vom Täter an ihre Privatadresse geschickt bekommen. Der Reporter des Tagesspiegels wurde gebeten, die Schreiben in Brandenburg abzuholen, nach Bielefeld mitzubringen – und sie vorzulesen. Die Sprache des Täters zu ertragen, erschien nur möglich, wenn sie aus dem Mund einer vertrauten Person zu hören ist. Jan W. akzeptierte und übergab im Februar die Briefe – einer ist nur an Orazio gerichtet, einer an ihn und die Frauen.

"Wissen Sie, es ist sehr herzaufwühlend, wenn ich der Wahrheit jeden Tag aufs Neue ins Auge blicke. Denn mir wird bewusst, was ich damals für einen riesengroßen Fehler begann, indem ich Ihr Leben zerstörte und auch das Ihrer Familie. Aber gleichzeitig zerstörte ich auch das Leben meiner Familie und mein eigenes. Mir wird immer wieder vor Augen geführt, dass ich mit meinem damaligen Verhalten und meiner Verantwortungslosigkeit unserer aller Zukunft verbaut habe." Die Worte von Jan W., jetzt 32 Jahre alt, klingen ehrlich.

"In den Jahren meiner Inhaftierung bin ich nun endlich aufgewacht und musste der Realität ins Auge sehen, da ich feststellte, dass Personen, die ich damals aus der Sache raushielt, sich tatsächlich einen Dreck um mich scheren. Im Gegenteil, sie feierten auf ihren Partys ihren 'Sieg' und lachten mich aus, was ich doch für ein Idiot und wie dumm ich gewesen bin. So habe ich für mich dann einen Entschluss gefasst und stieg aus der rechten Szene aus."

Seitdem bereut er die Tat. Und leidet unter ihr. Das wird er nicht mehr los. Aber er resigniert nicht. Und er bittet um Verzeihung. "Ich weiß, dass ich die Zeit leider nicht zurückdrehen kann. Gerade deshalb ist es mir von großer Bedeutung, mich heute erstmals und persönlich bei Ihnen, Frau Angelica Berdes, Frau Efthimia Berdes und bei Ihnen, Herr Orazio Giamblanco, von ganzem Herzen für die damalige Tat zu entschuldigen. Es tut mir sehr leid, was ich Ihnen allen damit angetan habe."

Schweigen. Angelica weint. Die Briefe des Täters haben sie mehr gerührt, als sie erwartet hat. "Das ist gut, dass er kapiert hat, was er uns für Schmerzen gemacht hat", sagt sie. Sie überlegt. "Man muss einem Menschen verzeihen, er war ja auch jung." Efthimia stimmt zu, "ich habe erkannt, dass die Briefe wirklich von seinem Herzen kommen." Orazio zögert.

Montag, 4. Dezember 2006

Einen Tag später steht Orazio während seiner Physiotherapie alleine an einem Barren. Außer dem Reporter ist niemand in der Nähe. Orazio überlegt, keiner redet auf ihn ein. "Der Junge hat sich gute Gedanken gemacht." Pause. "Er ist jung, er braucht Freunde für seine Zukunft, damit er keine falschen Sachen mehr macht." Orazio blickt auf seine orthopädischen Stiefel. "Was mir passiert ist …" Langsam hebt er den Kopf. "Ich verzeihe ihm jetzt. Er soll sich gute Freunde suchen. Schlechte hatte er genug."

Donnerstag, 7. Dezember 2006

Als Jan W. am Telefon erfährt, dass ihm Orazio und die beiden Frauen verziehen haben, dass sie seine Briefe in Bielefeld behalten, um sie eines Tages selbst zu lesen, holt er tief Luft. "Ich bin sprachlos." Er atmet wie nach einem Sprint. "Ich hab’ gedacht, da hab’ ich niemals eine Chance. Jetzt fällt mir ein Riesenstein vom Herzen." Er ringt um Worte, will sich nicht einfach nur freuen. Dann sagt er: "Eigentlich ist es ein Ansporn zu beweisen, dass man sich wirklich geändert hat. Und nicht irgendwann wieder resigniert."

Dezember 2007

Orazio geht es nicht gut. "Hab’ letztes Jahr mehr Sicherheit gehabt beim Laufen. Jetzt mehr Angst", erzählt er. Orazio traut sich inzwischen auch nicht mehr, in der Wohnung an nur einer Krücke zu gehen. Angelica ahnt, dass die Hilfe für ihn noch schwieriger wird. Weil er mit seinen 66 Jahren körperlich und mental abbaut. Und dann noch Ärger mit der Krankenkasse nach dem Übertritt in das Rentenalter!. Erst als das Versorgungsamt Cottbus – zuständig für Orazios Opferentschädigungsrente – die Krankenkasse über seine Behinderung informierte, wurde er wieder von den Zuzahlungen für Krankengymnastik, Arztbesuche und Medikamente befreit.

Dezember 2008

Orazios Kräfte lassen nach. Es geht langsam, aber stetig abwärts. Auch für Angelica und Efthimia. "Immer Probleme mit dem Blutdruck", sagt Angelica. Ohne ihre Tochter Efthimia hätte sie kaum die Kraft, die Pflege von Orazio durchzuhalten. Und Efthimia hilft, so oft es geht. Einen Freund hat sie auch dieses Jahr nicht gefunden. Und alle drei belastet eine schon lange schwelende Auseinandersetzung mit dem Versorgungsamt Cottbus.

Im Januar 2007 hatte das Amt einen Bescheid geschickt, wonach der "Berufsschadensausgleich" für Giamblanco gesunken ist: "aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung". Er wurde aufgefordert, eine bereits geleistete "Überzahlung" von 2.100 Euro rückzuerstatten. "Wir waren geschockt", sagt Angelica. Der Anwalt der drei legte Widerspruch ein. Das Versorgungsamt bleibt stur. Einen Fehler habe die Behörde nicht gemacht, sagt die zuständige Sachbearbeiterin. Der Rechner habe "nicht alle Zugangsdaten" gehabt, weshalb der Berufsschadensausgleich für Giamblanco nach Erreichen des 65. Lebensjahres "manuell" neu habe errechnet werden müssen. Also doch ein Fehler? "Nein", heißt es vom Amt, und: "Je länger die Rückzahlung dauert, desto größer ist die Gefahr, dass Stundungszinsen anfallen." Erlassen werde nichts.

Dezember 2009

Trebbin hat eine lange Geschichte, mit Raubrittern, Pest, Kriegen, Wirtschaftsblüten, Sozialismus und heute immerhin vier Gewerbeparks. Das steht auf der Homepage der Kleinstadt, die im dünn besiedelten Kreis Teltow-Fläming auf immerhin 9.000 Einwohner kommt. Wer wissen will, was hier am 30. September 1996 geschah, muss allerdings erst nach Hinweisen suchen. "Gegen das Vergessen" steht über einer Meldung, die vor einem Jahr auf der Website erschien und mit den Worten beginnt: "Es ist zwölf Jahre her." Genau so lange hat es gedauert, bis die Stadt sich an die Angriffe rechtsextremer Skinheads auf italienische Bauarbeiter erinnerte. Und dann zur Kenntnis nahm, wie es dem damals lebensgefährlich verletzten Orazio Giamblanco geht. Er sei "seither schwerbehindert und kämpft noch immer gegen die Schmerzen".

Trebbin blickt in ein dunkles Kapitel der eigenen Geschichte. Es war der junge Stadtverordnete Hendrik Bartl, der die Kommunalpolitik aufgerüttelt hatte. Der Jurastudent, damals 19 Jahre alt und im September 2008 als parteiloser Einzelkandidat ins Stadtparlament eingezogen, hatte im Tagesspiegel über Giamblanco gelesen und konfrontierte das Stadtparlament mit dem Fall: "Die waren erschrocken, dass das schon vergessen war", sagte er kurz vor Silvester 2008. Er wollte, dass Trebbin die Verantwortung für Giamblanco erkennt, der hier beinahe sein Leben verlor.

Bartl fand Mitstreiter, die Stadt richtete ein Spendenkonto für Giamblanco ein. Im Januar trat bei einem gut besuchten Benefizkonzert in der "Kulturscheune" im Ortsteil Thyrow der US-Rockmusiker Tony Carey auf. Trebbins Bürgermeister Thomas Berger (CDU) erinnerte das Publikum an die Empörung, die der rechtsextreme Überfall damals ausgelöst hatte, "und auch heute diskutieren wir wieder über die Vorkommnisse". Trebbin müsse zeigen, "dass wir den festen Willen und die Kraft haben, dass so etwas in unserer Stadt nie wieder passieren kann". Nach der Rede sagte Berger, er möchte einmal mitkommen nach Bielefeld, um Giamblanco und die beiden Frauen zu treffen. Er kam dann zwar nicht, doch Bartl, Vize-Bürgermeisterin Ina Schulze und der Vorsitzende des Stadtparlaments, Peter Blohm, setzten sich in den Zug.

Die Besucher aus Trebbin haben Geld mitgebracht. Auf dem Spendenkonto der Stadt waren 3.015 Euro eingegangen. Ina Schulze gibt Orazio die Scheine, "viele Trebbiner haben für Sie gespendet", sie umarmt ihn. Orazio ist glücklich. Dann überlegt er, ob Ostern 2010 wieder eine Reise nach Sizilien möglich wäre. Spenden fließen jedenfalls weiter: Im November brachte der Ehrenpräsident des Berliner Fußball Verbandes, Otto Höhne, mit drei Freunden einen Scheck über 2500 Euro zum Tagesspiegel. Das Geld war beim "Otto-Höhne-Cup", einem Golfturnier, gesammelt worden. Orazio freut sich über die Anteilnahme der vielen Spender. Auch Jan W., der Täter, hat gespendet, er kam mit seiner Mutter im Januar zum Benefizkonzert in Trebbin und zahlte Eintritt, der in die Spende der Stadt einfloss. Die Leute im Publikum, die den Ex-Skinhead und seine Mutter erkannten, reagierten gelassen.

Nach der Rückkehr aus Bielefeld berichten Bartl, Schulze und Blohm der Stadtverordnetenversammlung von Trebbin, wie es bei Orazio war. "Vor allem, dass wir herzlich von Herrn Giamblanco aufgenommen wurden", sagt Schulze später, "ich hatte ja ein bisschen Angst, wir seien da nicht willkommen, nach dem was in Trebbin passiert ist." Das Stadtparlament habe sich dafür ausgesprochen, "das Spendenkonto weiterlaufen zu lassen", sagt Schulze. "Wir wollen das Thema nicht mehr in Vergessenheit geraten lassen, wie es jahrelang leider war."

Dezember 2010

Er ist jetzt wieder da, wo er vor zehn Jahren schon mit seinem Körper gerungen hat, beim Physiotherapeuten Tino Czerlinksi im "All Sports"-Studio für Fitness und Krankengymnastik im Bielefelder Vorort Brake. Orazio macht auch wieder einen kaum erwarteten Fortschritt – obwohl er und die beiden Frauen in diesem Jahr einen schweren Rückschlag verkraften mussten. Es war vor Ostern, Orazio tastete sich in der Wohnung mit einem Rollator voran. Angelica hatte ihn einen Moment lang nicht im Blick. Orazio kippelte und griff nach dem Fernseher, der auf einem Rollschränkchen steht. "Orazio fiel um und das Gerät auf ihn drauf", sagt Angelica, "ich dachte, es sei mit ihm vorbei."

Vier Rippen waren gebrochen, und die nächsten Monate waren die Hölle für Orazio. Der Sturz löste eine Kettenreaktion aus: Sein Magen vertrugt die Schmerzmittel nicht, die Depressionen quälten noch stärker als zuvor, und Orazios Beine wurden dick. "Wir sind ständig wieder rein ins Krankenhaus, wieder raus, wieder rein", sagt Angelica. Vier Monate ging das so.

Angelica verlor den Mut, selbst den für den Spätsommer geplanten Urlaub in Griechenland wollte sie nicht mehr. Aber Efthimia bestand darauf. Sie buchte Zimmer in einem Hotel. Es ist halbwegs behindertengerecht, außerdem gibt es einen Fitnessraum. "Da hat Orazio dann trainiert und es ging ihm wieder besser", sagt Efthimia, "auch weil wir am Mittelmeer waren, das erinnert ihn an seine Heimat Sizilien." Das Hotel sei teuer gewesen, "aber wir hatten zum Glück die Spenden."

Mitte November musste Orazio einen zweiten Schicksalsschlag verkraften, sein ältester Bruder Antonio starb, er hatte auch in Bielefeld gelebt. Wieder nahmen die Depressionen zu, "ging schlecht mit mir", sagt Orazio. Aber jetzt ist das Schlimmste offenbar überstanden.

Dezember 2011

Es ist nun 15 Jahre her, dass der Baseballschläger Orazio traf. Eine Zeit der vielen Qualen und wenigen Lichtblicke. "Unser Leben hat sich nach dem Unfall total verändert", sagt Efthimia, "wir wurden alle getroffen." Das Wort "Unfall", das den rechtsextremen Angriff in den Nebel des Zufälligen taucht, als hätte ein Autofahrer ein anderes Fahrzeug übersehen, ist für Orazio und die Frauen immer wieder der Begriff, mit dem sie den Ursprung ihrer Katastrophe benennen. Als könnte "Unfall" das Trauma lindern.

Giamblanco selbst kann die 15 Jahre nur mühsam in Worten zusammenfassen. "Was mit mir gemacht . . . ich bin kaputt . . . habe geflucht." Auch Lebensgefährtin Angelica fällt der Rückblick schwer. Sie zieht die Augenbrauen hoch und schüttelt den Kopf, "ich bin mit meiner Kraft am Ende". Im September kippte sie dann plötzlich um. "Ich dachte, meine Mutter stirbt", sagt Efthimia und weint. "Ich wusste nicht, wie es weitergeht, ich habe Beruhigungstabletten genommen." Im Krankenhaus wurde die Mutter sofort operiert, Efthimia opferte zwei Wochen ihres Urlaubs und kümmerte sich allein um Orazio, "da habe ich gesehen, wie schwer das ist". Obwohl sie es ja wusste.

Für Angelica und ihre Tochter Efthimia scheint ihr Leben ein einziger Stresstest zu sein. Immerhin hat Efthimia weiter ihren Job in der Schokoladenfabrik. Doch der Wunsch, eine eigene Familie zu gründen, wirkt zunehmend illusionär. "Die Männer, die ich kennengelernt habe, hatten kein Verständnis dafür, dass ich bei der Pflege für Orazio helfen muss", sagt Efthimia, aber: "Ich kann doch meine Mutter nicht im Stich lassen."

Mehr Engagement, als vielleicht zu erwarten war, zeigt auch ein Mann wie der Physiotherapeut Tino Czerlinski. Er hat nie aufgegeben, Giamblanco wieder auf die Beine zu stellen, auch wenn ein Leben ohne Krücken und Rollator und Rollstuhl undenkbar erscheint. Im Kontrast zu so viel Mitgefühl steht die Kälte, die bei Institutionen zu spüren war, die ein Opfer wie Orazio Giamblanco als Nummer verbuchen. Orazio und die Frauen fühlten sich mehrmals einer ungnädigen Bürokratie ausgeliefert.

Und der Täter? Der Skinhead, der sich nach dem Überfall rühmte, er habe "einen Itaker aufgeklatscht"? Jan W. ist längst ein anderer. Jedes Jahr fährt er am 30. September an einen kleinen See in der Nähe von Trebbin, hört den Song "Zombie" der Popband "Cranberries", der ihn immer wieder zum Nachdenken bringt, "what’s in your head, in your head? Zombie, zombie, zombie". Einmal, erst vor kurzem, konnte sich Orazio sogar vorstellen, den Täter zu treffen. Ihn vielleicht nach Bielefeld einzuladen. Angelica und Efthimia widersprachen nicht. Doch in die Geste mischt sich die Sorge, die rechtsextreme Gefahr komme wieder näher. Die im November bekannt gewordenen Morde der Terrorzelle NSU an Migranten türkischer und griechischer Herkunft haben Orazio und die Frauen erschreckt. "Man kriegt Angst", sagt Efthimia, erst recht, da sie und ihre Mutter auch aus Griechenland stammen. Und Orazio fragt: "Kommt es wieder schlimm?"

Dezember 2012

Die dunklen, stählernen Jogging-Hometrainer stehen in einer Linie, als seien die Geräte zur Parade angetreten. Frauen und Männer hasten, es wird gekeucht und gehechelt. Ihnen geht es um individuelle Leistung, um Ausdauer, um gesteigerte Fitness. Um all das geht es Orazio auch. Mit einem Rollator ruckelt der alt gewordene Orazio an der Parade vorbei. Sein linkes Bein steckt in einer Stahlschiene. Das rechte Bein zuckt voran, dann schleift das linke hinterher. Die Hände umklammern die Griffe des Rollators, die hinteren Räder sind mit Bremsen blockiert. Jeder kämpft seinen Kampf in der Halle von "Fitness First" in Bielefeld. Die Jogger und Orazio. Sie verbindet mehr, als der Anblick vermuten lässt.. Vielleicht ist Orazio den Joggern mental überlegen. Denn er kämpft nicht, weil er Lust dazu hat. Er ringt mit sich selbst, um überhaupt laufen zu können.

Es sind nun mehr und mehr die Probleme mit dem Magen und der Verdauung, die Orazio schwächen. Umso häufiger fehlt ihm die Kraft, aus dem Rollstuhl aufzusteigen und mit dem Rollator kleine Schritte zu üben. Aber so wird Orazios Magen noch öfter im Rollstuhl eingedrückt. Ein Teufelskreislauf. Orazio hat in diesem Jahr sichtbar abgenommen. Und doch schafft er es an drei, vier Tagen pro Woche in die Bielefelder Fitness-First-Filiale. Dabei quält er sich durchs Leben. "Jedes Jahr war schlimm", sagt Efthimia, als Orazio vom Fahrdienst des Roten Kreuzes zu seiner Wohnung zurückgebracht worden ist. Aber dieses Jahr, sagt Efthimia, sei das schlimmste.

Kurz nach Ostern waren die drei noch auf Sizilien gewesen. "Sicilia war gut", sagt Giamblanco mit seiner leisen, oft nur schwer zu verstehenden Stimme. Die mediterrane Heimat, die Wärme, die Scherze mit den Taxifahrern, das Essen – das hat ihm gutgetan, den Frauen auch. Aber nach der Rückkehr aus Sizilien verschärften sich Orazios Probleme mit Magen und Verdauung, unter denen er seit dem Überfall sowieso schon litt. Er hat ungefähr zehn Kilo abgenommen, die Gesichtszüge wirken noch starrer.

Orazio und die beiden Frauen kämpfen mit dem Schicksal, dass sich nicht mehr wenden lässt und dem sie immer weniger gewachsen sind. Sie hadern auch mit ihrem Hausarzt, der keinen Fortschritt herbeizaubern kann und nicht jedes Medikament verschreiben will. Sie hadern mit den Leuten vom Roten Kreuz, die sauer sind, wenn ihr Fahrdienst umsonst zu Orazio kommt, der aber die Toilette nicht verlassen kann und die Gymnastik bei Fitness First ausfallen lassen muss. Und die drei haben sich mit ihrem früheren Physiotherapeuten zerstritten, obwohl er Orazio so weit anspornte, dass ein paar wacklige Schritte ohne Krücken möglich waren. In ihrer Verzweiflung streiten sich Orazio und die beiden Frauen auch untereinander mehr als früher, obwohl sie so stark zusammenhalten. Aber die Kräfte lassen nach, auch psychisch. "Langsam sagt man, man kämpft umsonst", Efthimia bricht den Satz ab.

Und dann erzählt ihre Mutter eine Geschichte, die unfassbar erscheint. Vor einem Monat wäre Orazio beinahe wieder Opfer einer Gewalttat geworden. Er fuhr mit seinem Elektrorollstuhl zum Markt, "ich war etwas dahinter", sagt Angelica. Auf einer Bank hätten zwei Männer gesessen und getrunken. Einer habe ausgeholt und eine Weinflasche nach Orazio geworfen. Sie flog knapp vorbei am Kopf, den vor 16 Jahren beinahe ein Baseballschläger zertrümmert hätte. Bei der Polizei haben sie nicht angerufen. "Die Männer von der Bank waren bestimmt schon weg", sagt Angelica. Sie hatte auch keine Kraft dazu. Nun meiden sie den Platz. "Ich geh’ da nicht mehr hin", sagt Orazio.

Es sind kleine Gesten, die vom Elend ablenken. Da ist die 92 Jahre alte, aber vitale Nachbarin, die öfter vorbeischaut und gerne mal einen selbst gebackenen Apfelkuchen mitbringt. Und dann ist da der immerwährende Traum, der einen Namen hat. "Möchte wieder nach Sicilia", sagt Orazio. Er lächelt kurz. Nächstes Jahr will er wieder hin. Die Frauen auch. "Vielleicht geht es da mit seinem Magen wieder besser", sagt Angelica. "Das wäre gut für uns drei."

Dezember 2013

Efthima hat den Stress nicht mehr verkraftet. Ein Fabrikjob mit Nachtschicht, in der Freizeit kaum etwas anderes, als der Mutter bei der Pflege von Orazio zu helfen, und das Jahr für Jahr, seit 1996. "Ich hatte schon seit Monaten Schlafstörungen", sagt Efthimia. Im Mai folgte der Kollaps. Es begann mit Angstzuständen. Sie fühlte sich verfolgt, auch in ihrer Wohnung. Dann kam der Tag, an dem sie sich, verwirrt, selbst lebensbedrohlich verletzte. Efthimia stehen Tränen in den Augen. "Ich habe gedacht, ich bin stark." Vier Wochen Krankenhaus, am Anfang auf der Intensivstation. Dann drei Monate in der Reha-Klinik in Bethel nahe Bielefeld, ihre Mutter Angelica besuchte sie fast jeden Tag. Entweder fuhren Freunde sie hin, oder sie musste ein Taxi nehmen. Einmal die Woche brachte das Rote Kreuz Orazio zu Efthimia. Er wollte öfter, sagt Angelica, doch das habe das Rote Kreuz abgelehnt. "Das hat Orazio und mich geärgert, aber er konnte nichts machen."

Efthimia schien in all den Jahren die stärkste der drei zu sein. Angelica, jetzt 61 Jahre alt, wirkt noch erschöpfter. Sie geht schon lange zum Psychiater, um die seelischen Schäden in Grenzen zu halten. Angelica musste seit 1996 immer Kraft für zwei aufbringen, für Orazio und sich, gab sogar ihre Arbeit auf, um sich der Pflege zu widmen. Jetzt muss die Kraft für drei reichen. Efthimia ist an Depressionen erkrankt. Sie hat sich verausgabt, in einem Leben zwischen dem Drei-Schichten-Dienst in der Fabrik und häuslicher Pflege des schwer behinderten Orazio. Efthimia fühlt sich da verpflichtet, ihre Mutter zu unterstützen. "Familie bleibt für mich Familie", sagt sie. Dabei kam zu kurz, dass Efthimia selbst mal eine Familie gründen wollte. Doch für eine Liebesbeziehung hatte sie zu wenig Zeit, ebenso wenig für sich selbst.

Zweimal die Woche geht sie nun zu Psychiatern, und sie nimmt Antidepressiva. Doch der Leidensdruck bleibt. Efthimia wirft sich vor, finanzielle Probleme verursacht zu haben. Da sie seit Monaten nicht mehr arbeitet, bekommt sie nur noch ein mageres Krankengeld. Davon kann sie die teure Wohnung neben Orazio und ihrer Mutter nicht bezahlen. Als die Depressionen im Mai begannen, mussten die drei eine Reise nach Sizilien in Orazios alte Heimat kurz vor dem Abflug stornieren. Eine Reiserücktrittsversicherung hatten sie nicht.

Dezember 2014

Er ist schmal geworden. Die Wangenknochen treten hervor, der rote Pullover hängt mit Falten an ihm. "Magen ist schlecht", sagt Orazio. Die Stimme ist nur schwer zu verstehen, aber das ist schon seit 18 Jahren so. Es ist fast ein Wunder, dass Giamblanco jetzt, so eingefallen und blass er auch ist, in einem italienischen Restaurant in Bielefeld am Tisch sitzt. Dass er überhaupt noch lebt. Und sagen kann, wie es ihm geht.

Viel erzählen muss er da nicht. Das Bild spricht für sich. Der 73 Jahre alte Mann ist im Elektrorollstuhl in das Restaurant gefahren, bis zum Tisch. Orazios Hände, immer leicht gekrümmt, liegen auf den Lehnen des Gefährts. So sitzt er da, meist stumm, das Sprechen strengt an. Doch dann lächelt er. Angelica und Efthimia zeigen Fotos vom Urlaub auf Sizilien. "War sehr gut", nuschelt er. Auf einem Bild hält er lachend Angelicas Hand, im Garten ihres Hotels in Catania. Es ging Orazio, wenn man das so sagen kann, gut. "Es war mit dem Magen besser, er hat alles gegessen", sagt Efthimia. Jetzt im Restaurant in Bielefeld schneidet sie ihm die Spaghetti klein, damit er sie hinunter bekommt.

Den beiden Frauen, die Orazio seit 18 Jahren pflegen, geht es nicht gut. Efthimias Depressionen werden durch Medikamente unterdrückt. Im Frühjahr dieses Jahres fing sie wieder an zu arbeiten. Voll. Obwohl sie weiß, dass die Depressionen weiter schwelen. Efthimia fühlt sich verpflichtet, alles zu geben. Bei der Arbeit, bei der Unterstützung ihrer Mutter, die rund um die Uhr für Orazio da ist. Der in manchen Nächten alle zwei Stunden aufwacht, mit Magenschmerzen. Und dann ins Bad muss. Angelica hebt ihn aus dem Bett und geht jeden Schritt mit.

Angelica sieht aus wie die Schwächste der drei. Klein, zerbrechlich, trauriger Blick. Doch Angelica ist die Stärkste. Auch wenn sie seit Jahren zum Psychiater geht, der Blutdruck zu hoch ist und der Rücken schmerzt. Ohne Angelicas Hilfe könnte Orazio nicht in der Wohnung leben und nicht nach Sizilien reisen. Und es war Angelica, die im September Efthimia für vier Wochen nach Griechenland schickte, weil die Tochter endlich auf andere Gedanken kommen sollte. "Ich hab' jetzt zwei, auf die ich aufpassen muss", sagt Angelica, "Orazio und Efi".

Mai 2015

Orazio gibt nicht auf. Er ist eines von mutmaßlich 10.000 Opfern rechtsextremer Gewalt geworden. Woche für Woche geht Orazio zur Physiotherapie. Besser geworden ist sein Zustand nicht. Doch die Therapien sind notwendig, um Orazios Restbeweglichkeit zu erhalten. "Ist wie immer", sagt Orazio nur. Das heißt, seine Beschwerden, von der spastischen Lähmung bis zu den Problemen mit Magen und Verdauung, sind seit Dezember nicht schlimmer geworden. Angelica hält in der Pflege durch, Efthimia hilft ihr, wenn sie aus der Schokoladenfabrik nach Hause kommt. "Es hat sich nichts geändert", sagt Angelica. Das klingt fast schon, als sei sie erleichtert. Eine Atempause. Die drei schöpfen Kraft. Und sie haben wieder den Mut zur jährlichen Reise nach Sizilien. Im September wollen sie fliegen. "Gleich als Orazio aus dem Krankenhaus kam", sagt Angelica, "hat er sich das gewünscht".

Frank Jansen, geb. 1959 in Mettmann, Diplom-Politologe. Seit 1990 Tagesspiegel-Redakteur mit Schwerpunkt Ostdeutschland und Rechtsextremismus. Träger zahlreicher Journalistenpreise, darunter dem Theodor-Wolff-Preis 1996, dem Fritz-Sänger-Preis 1998 und dem Otto Brenner-Preis 2006.