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Nähe als Voraussetzung und Manko - eine Filmbesprechung | Gangsterläufer | bpb.de

Gangsterläufer Der Film "Gangsterläufer" - Der Film Nähe als Voraussetzung und Manko - eine Filmbesprechung Über das Leben des Yehya E. Videointerview: "Die Geschichte hat sich selbst erzählt" Links Jugendkriminalität: Aktuelle Entwicklung und Ausstieg Zahlen und Fakten "Mehr Konsequenz, nicht mehr Härte" "Wir wollen nicht bespaßen, und wir wollen nicht helfen" Audio: Jugendarbeit im sozialen Brennpunkt Familie im Kontext von Fluchtmigration "Problemviertel" - Image und Benachteiligung Die Perspektive der Opfer Arbeitsblatt und Unterrichtsvorschläge Redaktion

Nähe als Voraussetzung und Manko - eine Filmbesprechung

Oliver Kaever

/ 5 Minuten zu lesen

Die besondere Beziehung zwischen Regisseur und Protagonisten wird in dem Dokumentarfilm "Gangsterläufer" schnell deutlich. Dadurch gelingt ein ungewöhnlich tiefer Einblick in die Lebenswirklichkeit des Intensivstraftäters Yehya E. und seiner Familie. Aber diese Nähe kann auch kritisch gesehen werden.

Er nennt sich "Boss von der Sonnenallee": Yehya E aus Berlin-Neukölln. Mit 17 wird er zu drei Jahren Haft verurteilt. Der Dokumentarfilm "Gangsterläufer" begleitet Yehya während dieser Zeit. (© Gangsterläufer - H&U Film Produktion)

Mit 13 Jahren ist Yehya E. bereits zigmal bei der Polizei auffällig geworden, der Jugendliche aus Berlin-Neukölln ist ein Intensivstraftäter. Regisseur Christian Stahl ist sein Nachbar und lernt ihn als außerordentlich höflich kennen. Auch mit Yehyas Familie versteht sich Stahl gut. Rached, Yehyas Vater, ist Palästinenser und vor 25 Jahren mit seiner Frau aus dem Libanon geflohen, als in den dortigen Flüchtlingslagern Massaker verübt wurden. Doch Stahl erlebt auch, dass sich Yehya als "Boss der Sonnenallee" begreift und seine Mitschüler bedroht.

Zwei Jahre später, 2007, landet der Junge im Gefängnis: Gemeinsam mit drei Komplizen hat er in Hamburg ein Ehepaar überfallen und schwer verletzt. Das Urteil lautet auf drei Jahre Haft. Während dieser Zeit besucht ihn Christian Stahl immer wieder mit der Kamera im Gefängnis und begleitet parallel dazu seine Familie.

Auch das Leben der Familie wird erzählt

Der Regisseur folgt den Ereignissen vom Urteilsspruch bis zu Yehyas Entlassung, dazu kommen einige Szenen, die ihn noch vor seiner Haft zeigen, sowie ein kurzer Prolog und ein Epilog. Die erzählte Zeit beträgt fünf Jahre, es handelt sich also um eine Langzeitbeobachtung. Dramaturgisch bedingt diese lange Zeitspanne, dass Stahl das Geschehen stark verdichtet. Zu Wort kommen Yehya und seine Familienmitglieder sowie kurz die Opfer des Raubüberfalls und ein Bediensteter der Jugendstrafanstalt, in der Yehya einsitzt. Der Filmemacher begleitet den Jungen allerdings nicht in seinem Gefängnisalltag. Dieser wird in Interviews von ihm selbst geschildert, die zwar erstaunlich reflektiert, aber auch stark subjektiv gefärbt sind. Interessant ist die Gegenüberstellung der Gespräche des Filmemachers mit Yehya und Mohamed Akkad, dem Leiter Untersuchungshaft der Jugendstrafanstalt. Dadurch kommt ein objektivierendes Element in die Erzählung, etwa wenn Akkad den Verdacht äußert, Yehya instrumentalisiere die Menschen, die ihm helfen wollen.

Parallel zeigt Christian Stahl den Alltag von Yehyas Familie. Er begleitet sie in die Moschee und zeigt das Fastenbrechen. Diese Struktur der Parallelmontage ist effektiv, weil sie einen Kontext etabliert. Sie öffnet den Blick, so dass Yehyas Geschichte als ein Schicksal in dem seiner Familie kenntlich wird. Im Lauf des Films zeigt sich, dass nicht nur er, sondern auch seine beiden Brüder immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Besondere Bedeutung kommt einer Reise in den Libanon zu, die Vater Rached mit Yehyas Brüdern antritt. Dort stehen die drei inmitten der Trümmer des Hauses, das der Familie gehört. Bei dieser Reise wird klar, dass es keinen Weg mehr zurück gibt. Und sie macht deutlich, welche Traumata Rached und seine Frau bei ihrer Flucht mit nach Deutschland brachten.

Die Kamera als Fliege an der Wand

Stilistisch folgt Christian Stahl keiner eindeutigen Dokumentarfilm-Tradition; er bedient sich einer Mischform der Stile. Über weite Strecken ist er mit der Kamera mitten im Geschehen und zeigt ganz direkt, was passiert. Er folgt dann der Schule des in den 1960er-Jahren in den USA entstandenen Direct Cinema. Die Kamera nimmt gewissermaßen die Position einer Fliege an der Wand ein und beobachtet das Geschehen. Der gefilmte Alltag soll so seine eigene Wahrheit enthüllen. Bei Stahl kommt allerdings stellenweise ein Voice-over, ein gesprochener Kommentar, des Filmemachers dazu, das im Direct Cinema als Tabu gilt, weil es die eigene Interpretationsleistung des Zuschauers vorwegnimmt.

Tatsächlich fällt Stahls eigener Kommentar teilweise stark wertend und interpretativ aus. Er weist auch des Öfteren darauf hin, dass er seinem Erzählgegenstand sehr nahe steht. So sagt Stahl, er sei nicht nur Freund der Familie, sondern von dieser als Mitglied aufgenommen worden. Damit benennt er eine Tatsache, die gleichzeitig Vorteil und Manko für seinen Film ist. Einerseits gelingt Stahl nur so ein tiefer Einblick in die Lebenswirklichkeit der Familie; andererseits drängt sich der Eindruck auf, dass der Filmemacher durch die fehlende Distanz stark Stellung bezieht und dem Zuschauer seine Sichtweise aufdrängen will. Immerhin gibt sich Stahl im Kommentar selbst als Handelnder zu erkennen und macht sein erzählerisches Vorgehen so zumindest teilweise transparent. Aber eben nur teilweise: Stahls Strategie bleibt ambivalent.

Die Frage nach der Wahrheit im Dokumentarfilm

Nicht nur die Frage nach der Einflussnahme begleitet die Gattung Dokumentarfilm seit ihrer Entstehung: Was genau bilden Dokus ab? Die "Realität"? Sind sie "objektiv"? Gemeinhin wird davon ausgegangen, dass Dokumentarfilme ohne fiktionale Elemente arbeiten und die Wirklichkeit wahrer Menschen abbilden. Meist stehen die Inhalte im Vordergrund, während Fragen nach Ästhetik, Filmsprache und Inhaltsvermittlung weniger Beachtung finden als bei Spielfilmen. Dabei sind auch Dokumentarfilme immer etwas "Gemachtes", sie wenden sich unter Zuhilfenahme bestimmter Mittel an einen Zuschauer. Auch Dokumentationen sind immer inszeniert.

Den Blick darauf zu lenken, ist in Zeiten umso wichtiger, in denen sich die Grenzen zwischen den Genres teilweise auflösen. Dokus setzen Animationen ein (wie zum Beispiel der autobiographische Zeichentrickfilm "Persepolis") oder lassen Protagonisten ihr früheres Handeln vor der Kamera reinszenieren (so im Film "The Act of Killing", der sich mit Massakern in Indonesien der 1960er-Jahre beschäftigt). Spielfilme geben sich als Dokumentation aus (wie der Film "Fraktus", der das Comeback einer fiktiven Musikband zeigt) oder setzen Laiendarsteller ein, die ihre eigene Geschichte "spielen" (beispielsweise in "Aus dem Leben eines Schrottsammlers" über eine bosnische Roma-Familie). Auch im Fernsehen ist dieser Trend der gegenseitigen Durchdringung zu beobachten. Reality-TV, Doku-Drama, Doku-Soap oder Scripted Reality – schon die zwitterhaften Genre-Bezeichnungen verdeutlichen die Vermischung.

Wer gefangen wird, wird verprügelt

Von der Inszenierung her ist "Gangsterläufer" über weite Strecken eine klassische Dokumentation. Beim Prolog und Epilog allerdings setzt der Regisseur stark fiktionalisierende Elemente ein. In stilisierten Bildern inszeniert Christian Stahl hier ein Spiel, das dem Film seinen Namen gibt. Eine Gruppe Jugendlicher rennt durch die Straßen, einer ist der Fänger. Wen er fängt, den darf er verprügeln, dann wird er ebenfalls zum Fänger. Wer als letzter übrig bleibt, ist der Gewinner und "Gangsterläufer". Stark setzen verwischte und unscharfe Handkamera-Aufnahmen ein sowie Zeitlupe und Panorama-Einstellungen, hinzu kommen schnelle Schnitte. Die Sequenz soll den Zuschauer in das Geschehen hineinziehen. Sie lädt zur Identifikation ein und wirkt spannungssteigernd. Distanz zum Geschehen, das in einer wilden Prügelei mündet, lässt sie hingegen kaum zu. Vor allem deshalb nicht, weil Yehya, der Gewinner des Spiels, als Held inszeniert wird.

Noch bedenklicher ist der Prolog, der in der Inszenierungsweise der Titelsequenz ähnelt. Hier sehen wir Yehya über die Dächer von Berlin-Neukölln hechten und in Siegerpose verharren. Auch hier fehlt die Distanz des Filmemachers zu seinem Protagonisten. Es hat den Anschein, Yehya bekomme hier die Möglichkeit, sich in seiner Selbstsicht als Gangster und Sieger zu inszenieren. Natürlich ist es reizvoll, diese Binnenperspektive, die sich ja selbst mutmaßlich wiederum aus Gangsterfilmen speist, mit den Mitteln der Dokumentation nachzustellen. Was hier jedoch fehlt, ist das deutlich kenntlich gemachte Moment der Reflexion.

Weiterführende Links

Offizielle Website zum Film "Gangsterläufer" Externer Link: http://www.gangsterlaeufer.de/

Welt Online, Der Boss von der Sonnenallee, Besprechung von Gangsterläufer (26.03.2013) Externer Link: http://www.welt.de/vermischtes/article119398567/Der-Boss-von-der-Sonnenallee.html

Frankfurter Rundschau, Kriminelle Karriere mit Staatsförderung, TV-Kritik von Gangsterläufer (20.06.2013) Externer Link: http://www.fr-online.de/tv-kritik/tv-kritik--gangsterlaeufer---arte--kriminelle-karriere-mit-staatsfoerderung,1473344,23459348.html

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Weiterführende Literatur und Links

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Oliver Kaever lebt und arbeitet als freier Journalist in Hamburg und schreibt unter anderem für Spiegel Online, Zeit Online und fluter.de. Er ist hauptsächlich Filmkritiker, bearbeitet aber auch familien- und stadtpolitische Themen. Er studierte in Düsseldorf und Davis Germanistik und Medienwissenschaft und arbeitete beim Pacific Film Archive in Berkeley.