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Warum ist die Europawahl so wichtig?

Karlheinz Dürr

/ 12 Minuten zu lesen

Die Europawahl genießt bei weitem nicht die Aufmerksamkeit einer Bundestagswahl. Dabei hat das Europäische Parlament, besonders durch den Vertrag von Lissabon, beträchtliche Kompetenzen hinzugewonnen, die es zu einem der wichtigsten Entscheidungsträger in Europa machen.

Hoch hinaus: Die Bedeutung des EU-Parlaments wächst – viele EU-Bürgerinnen und Bürger sind sich dessen aber oft nicht bewusst. (© picture-alliance/dpa, Lehtikuva)

Das Europäische Parlament (EP) ist das einzige direkt gewählte supranationale Parlament der Welt, gewissermaßen die Volksvertretung der EU, oder richtiger: die "Kammer der Unionsbürgerinnen und -bürger", die neben den Europäischen Rat als "Staatenkammer" tritt. Durch seine Arbeit betont das EP seine Bürgernähe und versteht sich als "Demokratie in Aktion".

Wachsende Bedeutung des Europäischen Parlaments

Die Mitwirkungsrechte des EP wurden im Laufe der Jahre immer weiter ausgebaut und zuletzt durch den Vertrag von Lissabon stark erweitert; sie erstrecken sich nun über die Mehrzahl der Politikfelder, u. a. in der Landwirtschaftspolitik, Energiepolitik, bei Zuwanderungsfragen und der europäischen Regionalförderung. Dagegen muss es z.B. in der Wettbewerbspolitik lediglich konsultiert werden; auch in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik hat es kaum Mitspracherechte.

Als Teil des "institutionellen Dreiecks" entscheidet das EP gemeinsam mit dem Rat über Gesetzesvorlagen der Kommission. Zwar besitzt es kein Gesetzesinitiativrecht, ist aber im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zu fast allen Politikbereichen gleichberechtigt mit dem Europäischen Rat. Es wählt den Präsidenten und die Mitglieder der Europäischen Kommission und übt gegenüber der Kommission Beratungs-, Anhörungs-, Aufsichts- und Kontrollrechte aus (z.B. kann es einen Misstrauensantrag gegen die Kommission stellen). Ferner ist auch beim Beitritt neuer Mitgliedsländer die Zustimmung des EP erforderlich. Seit dem Vertrag von Lissabon entscheidet das EP gemeinsam mit dem Rat der EU über den Haushalt der EU. Es ist an der Aushandlung internationaler Verträge beteiligt, berät über außen- und sicherheitspolitische Angelegenheiten und achtet auf die Einhaltung der Menschenrechte im EU-Raum und darüber hinaus.

Vom Schutz der Umwelt über die Erleichterungen des Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs bis hin zum Verbraucherschutz besitzt das EP heute Mitbestimmungsrechte, die es auf eine Stufe mit dem Ministerrat stellen. Es ist, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, an vielen deutschen Rechtsvorschriften beteiligt, aber lange nicht in dem Maße, den der "80-Prozent-Mythos" impliziert. Nach einer Untersuchung beeinflusst die EU die deutschen Bundesgesetze je nach Politikbereich in höchst unterschiedlichem Maße, z.B. im Bereich Soziale Sicherung nur zu ca. 7 %, während die Europäisierung der Gesetze in anderen Bereichen (darunter Wirtschaft, Landwirtschaft, Ausländerpolitik und Verkehr) deutlich über 50 % liegt.

Das EP engagiert sich auch stark im Bereich der Jugendpolitik, ein Politikfeld, in dem es über das Mitentscheidungsrecht verfügt. Bei der Verabschiedung des Bildungs- und Mobilitätsförderprogramms Erasmus+ wirkt das EP ebenfalls entscheidend mit. So fordert es z.B. eine Verdreifachung des Programmbudgets für die Periode 2021-2027. Die gewachsene Bedeutung des EP wirkt bis in unseren Alltag hinein. So hat es mit der Roaming-Verordnung das mobile Telefonieren im EU-Ausland deutlich billiger gemacht. In Fragen des Verbraucher- und Lebensmittelschutzes, der Luft- und Wasserqualität, bei Flugticketpreisen oder der Spielzeugsicherheit redet das EP mit. Das Informationsangebot der EU ("Was tut Europa für mich?") enthält eine beeindruckende Palette von Leistungen, die die EU schon heute erbringt.

Kommission, Ministerrat und Zentralbank müssen ihr politisches Handeln nur gegenüber dem Europäischen Parlament vertreten und rechtfertigen. So nimmt das EP Einfluss auf die EU-Politik und betätigt sich als Stimme der EU-Bürgerinnen und -Bürger. Doch dafür muss es sich auch auf deren breite Zustimmung stützen können, wenn es europäische Politik durchsichtiger, attraktiver und bürgernäher machen will.

Angesichts der stark gewachsenen Präsenz des EP in sehr vielen wichtigen Politikbereichen erscheint die Relevanz der Europawahl offensichtlich. Dennoch ist die Wahlbeteiligung seit der ersten Direktwahl (1979) stark rückläufig: In Deutschland sank sie von 65,7 (1979) auf 48,1 % (2014) und bleibt damit weit hinter den Bundestagswahlen (2017: 76,2 %) und den meisten Landtags- und Kommunalwahlen zurück. EU-weit gingen 2014 sogar nur 42,61 % der Wahlberechtigten an die Urnen. Besonders auffällig war das Desinteresse junger Wähler (21-24 Jahre): nur 35,3 % wählten. Die geringe Wahlbeteiligung steht in krassem Gegensatz zur Zustimmung zur EU, die in Deutschland 2018 den Rekordwert von 81% erreichte (EU-weit 61 %); dass 2018 rund 62 % der Deutschen an der EP-Wahl interessiert sind, weckt Hoffnung auf eine höhere Wahlbeteiligung 2019. Noch 2014 hatten sich nach einer anderen Umfrage 77 % der Befragten als wenig oder nicht an der Wahl interessiert gezeigt. Auch sind die EU-Bürgerinnen und -Bürger mehrheitlich der Ansicht, dass die EU-Mitgliedschaft eine gute Sache für ihr Land sei. Und diese positive Einschätzung hat stark zugenommen, von 52 % der Befragten in 2011 auf 68 % 2018, in Deutschland sogar auf 72 %.

Woran liegt die widersprüchliche Haltung zur EU und zur EP-Wahl?

Desinteresse und Unwissen

Möglicherweise ist vielen Bürgerinnen und Bürgern noch immer weitgehend unbekannt, wie wichtig das EP als demokratisches Organ und gesetzgebende Institution der EU durch seine in vielen Politikfeldern erkämpften Mitentscheidungsrechte geworden ist. Das EP ist in der Tat ein Angelpunkt europäischer Politik, dessen Einfluss sich auch auf unsere nationale Gesetzgebung erstreckt.

Doch Desinteresse und Unwissen haben ihre Ursache auch in der Komplexität des Systems der EU. Mit seinen 7 Hauptorganen ist es einzigartig und nicht mit einem nationalen Regierungssystem vergleichbar. Ein gut sichtbarer, mit einer nationalen Regierung vergleichbarer Fixpunkt fehlt; die Aufgaben und das Zusammenwirken selbst der wichtigsten EU-Organe wie Rat, Parlament und Kommission erscheinen kaum durchschaubar. Hinzu kommt, dass weniger als die Hälfte der Befragten in der EU (48 %) glaubt, dass ihre Stimme in der EU zählt; in Deutschland liegt dieser Wert mit 72 % deutlich höher.

Dass die Wahlbeteiligung trotz der positiven Grundstimmung zur EU so gering ist, mag auch damit zu tun haben, dass die EU und ihr Parlament ihre unbestreitbaren Erfolge nicht gut genug verkaufen; vielleicht sind die vielen Errungenschaften des europäischen Einigungsprojekts, etwa der ungehinderte Grenzübertritt im Schengen-Raum, einfach zu selbstverständlich geworden. Viele Wählerinnen und Wähler kennen ihre eigenen EP-Abgeordneten nicht. Immerhin hat sich die Sichtbarkeit des EU-Führungspersonals durch die Aufstellung von Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten verbessert, die erstmals bei der EP-Wahl 2014 erfolgte. Auch in den Medien ist das EP sichtbarer geworden, die in den letzten Jahren deutlich intensiver über Europapolitik und das EP berichteten, nicht selten jedoch Bad News hervorhoben. Nach wie vor erscheint das EP komplex, beispielsweise die Parteienstruktur, da es keine klar definierten Parteien, sondern Zusammenschlüsse nationaler Parteien zu europäischen "Parteifamilien" gibt, die im EP in (derzeit) acht Fraktionen zusammenarbeiten; noch immer gibt es keine EU-weiten Wahllisten. Auch die Vereinheitlichung des Wahlrechts ist noch nicht sehr weit fortgeschritten: Zwar müssen seit 2004 alle Mitgliedsstaaten das Verhältniswahlrecht anwenden (auch wenn bei nationalen Wahlen das Mehrheitswahlrecht gilt), aber nach wie vor gibt es kein einheitliches Wahlalter. Auch die Sperrklauseln sind unterschiedlich und liegen zwischen 0 und 5 %. Für die deutsche EP-Wahl kippte das Bundesverfassungsgericht erst die 5-, dann auch die 3-Prozent-Hürde; somit haben auch Kleinstparteien die Chance auf einen Sitz im EP, was zur Zersplitterung des Parlaments beitragen dürfte.

Demokratiedefizit: Ein berechtigter Vorwurf?

Reicht die alle fünf Jahre stattfindende Direktwahl eines ansonsten eher wenig beachteten Parlaments aus, um das EP zum zentralen Forum demokratischer Mitwirkungsmöglichkeiten der europäischen Bürger zu machen? Die EU präsentiert mit beträchtlichem Aufwand ihr Ziel, ein "Europa der Bürger" schaffen zu wollen, während doch "jedem Bürger ins Auge sticht, dass es keine legislativen Entscheidungen gibt, die so weit von ihm entfernt getroffen werden wie die in Brüssel".

In diesem Kontext ist viel vom "Demokratiedefizit" der EU die Rede. "Bürokratiemonster", "Expertokratie", "Regelungsmanie" sind damit zusammenhängende Kritikpunkte, die sich möglicherweise negativ auf die Wahlbereitschaft auswirken. Manche Vorwürfe scheinen bei näherer Betrachtung fragwürdig: So ist die EU-Verwaltung mit ihren knapp 50.000 Beschäftigten für 28 Länder mit ca. 500 Mio. Menschen zuständig. Hingegen hat die Bundeshauptstadt Berlin (3,6 Mio. Einwohner) ca. 110.000 Beschäftigte. Zwar lassen sich diese Daten nur schwer vergleichen, doch sie schwächen den Vorwurf ab, die EU-Verwaltung sei ein aufgeblähter "Bürokratie-Wasserkopf". Auch der Vorwurf, die EU sei eine "Expertokratie" ohne echte demokratische Kontrolle, erscheint bei genauerem Hinsehen wenig stichhaltig. Richtig ist, dass sich zahlreiche dezentrale und spezifische EU-Agenturen herausgebildet haben (z. B. für Nahrungsmittel, Arzneimittel, Bildung, Flugsicherheit, Energie, Umwelt, Grenzschutz), die sich teilweise bei ihrer Arbeit auf zahlreiche externe Experten stützen. Doch ohne externe Experten ließe sich die ungeheure Zahl von Vorgängen in einer Union von 28 sehr unterschiedlichen Mitgliedsländern wohl kaum bewältigen, zumal die Aufgabenbereiche häufig zeitlich und inhaltlich begrenzt sind. Hierfür Personal fest einzustellen, würde den Verwaltungsapparat der EU stark aufblähen und dementsprechend verteuern.

Mangel an Transparenz und Bürgernähe?

Generell ist man sich heute in den Organen der EU, vor allem auch im Parlament, zweier zentraler Problematiken der bisherigen EU-Politik – des Mangels an Transparenz und Bürgernähe – stärker bewusst als früher. Die EU hat auf die Kritik mit zahlreichen Maßnahmen geantwortet, u.a. durch die Stärkung des Subsidiaritätsprinzips. Nach diesem Prinzip sollen staatliche Aufgaben soweit wie möglich von den unteren Ebenen bzw. kleineren Einheiten wahrgenommen werden. So darf z.B. die EU nur tätig werden, wenn die Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht ausreichen oder ein bestimmtes politisches Ziel auf der Gemeinschaftsebene besser erreicht werden kann.

Darüber hinaus hat sie durch eine Reihe von Maßnahmen auch die direkten Anhörungs- und Beschwerdemöglichkeiten der Bürger gestärkt, etwa durch Bürgerdialoge, das Transparenz-Register, das Petitionsrecht und die Möglichkeit zur Beschwerde bei dem vom EP gewählten EU-Bürgerbeauftragten. Mit der Europäischen Bürgerinitiative (EBI) will die EU ihren Bürgern eine intensivere Teilnahme am politischen Diskurs in der EU ermöglichen; sie ist die weltweit einzige transnationale Initiative der partizipativen Demokratie. Die so genannten Öffentlichen Konsultationen ermöglichen es dem Einzelnen, zu zahlreichen Entscheidungsprozessen und Themen online Stellung zu nehmen und seine Meinung auch außerhalb der Wahlen geltend zu machen. Maßgeblich beteiligt ist das EP ferner an der Schaffung großer Förderprogramme, die Bürgernähe und Zivilgesellschaft stärken sollen (z.B. "Europa der Bürger"). Und europäische Mobilität in der Schul-, Hochschul-, Berufs- und Erwachsenenbildung ist einer der Kernpunkte des Bildungsförderprogramms Erasmus+, das u.a. Auslandspraktika, Auslandstudien und Lehraufenthalte in anderen EU-Ländern ermöglicht. Aber trotz aller Mitsprachemöglichkeiten und Fördermaßnamen muss sich die EU den Vorwurf der "Bürgerferne" gefallen lassen, was auch strukturelle Ursachen hat: So fehlt im EP der klare Gegensatz von Regierungspartei und Opposition, der nationale Parlamente kennzeichnet, was die Debatten des EP für den Bürger wenig transparent erscheinen lässt. Außerdem sind die auf einen supranationalen Kontext bezogenen Entscheidungsprozesse oft höchst komplex und schwer verständlich, was sich negativ auf das Interesse und die Wahrnehmung von Mitspracherechten durch die Bürger auswirkt.

Die häufig geäußerte Kritik, es gebe keine kritische europäische Öffentlichkeit, in der die Entscheidungen diskutiert und hinterfragt werden können, trifft insofern zu, als hierfür ungehinderte grenzüberschreitende Kommunikation erforderlich wäre, wovon man angesichts der Sprachenvielfalt noch nicht ausgehen kann. Doch Themen wie Bankenrettung, Eurokrise, EU-Freihandelsabkommen, Jugendarbeitslosigkeit, Steuerdumping, Flüchtlingskrise, Luftreinhaltung sind Problemfelder, die zeitgleich in den EU-Staaten diskutiert werden und zur Meinungsbildung der Bevölkerungen über die EU beitragen. Mit dem Digitalen Binnenmarkt will die EU einen neuen Wirtschaftsraum für Digitales und Telekommunikation schaffen. Dies wie auch die mehrsprachigen Medienportale und TV-Sender (Eurosport, Euronews, Arte) können zumindest als Keimzellen einer europäischen Öffentlichkeit gesehen werden.

Dennoch wird die Kritik einer mangelnden Bürgernähe auch weiterhin in dem Maße lauter werden, in dem die Mitgliedstaaten mehr Entscheidungsbefugnisse und Vollmachten auf die EU übertragen, die sie bislang in ihren eigenen nationalen, demokratisch legitimierten Entscheidungsprozessen entschieden oder regelten – und solange sie bei unpopulären Entscheidungen vor allem "Brüssel" verantwortlich machen.

Europawahl und Unionsbürgerschaft

Vielen EU-Bürgerinnen und -Bürgern ist noch immer nicht bewusst, dass sie seit dem Vertrag von Maastricht (1992) neben ihrer Staatsbürgerschaft auch eine "Unionsbürgerschaft" besitzen. Sie etabliert ein Rechteverhältnis zwischen der Union und ihren Bürgerinnen und Bürgern, das Freizügigkeit, Aufenthaltsrecht, Diskriminierungsverbot, Wahlrecht (bei Kommunal- und Europawahlen), diplomatischen Schutz, Petitionsrecht und Amtssprachenrecht umfasst. Pflichten (z.B. eine europäische Wehrpflicht) sind bislang nicht vorgesehen. Die Zugehörigkeit zur Union ist auf jedem EU-Reisepass deutlich erkennbar und ist – neben anderen Symbolen wie Sternenkreis, Hymne, Wahlspruch, gemeinsame Währung – ein wichtiges, europäisches Bewusstsein und Identität stiftendes Element.

Warum wählen gehen?

Die EP-Wahlen 2009 und 2014 standen unter dem Eindruck von Haushalts-, Banken- und Wirtschaftskrisen, die auch heute noch nicht völlig bewältigt sind; so ist beispielsweise die Staatsverschuldung in einigen EU-Ländern extrem hoch und die Stabilität des Euro keineswegs gesichert. Und seither sind weitere krisenhafte Entwicklungen entstanden, welche das Überleben der EU selbst gefährden. Um 2015/16 nahmen die Flüchtlingsströme dramatische Formen an und führten zur so genannten Flüchtlingskrise. Die Flucht-/Asylproblematik stellt die Vertragstreue und Solidarität innerhalb der EU auf eine schwere Probe und führt zu einer tiefen Spaltung der EU. Im Gefolge dieser Krise profitieren vor allem rechtspopulistische Parteien vom wachsenden Unmut eines Teils der Bevölkerungen, die nicht zuletzt die EU für die "offenen Grenzen" und den "ungehinderten Zustrom" verantwortlich machen. In einigen Ländern wird auch die EU-interne Migration (Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer) immer mehr in Frage gestellt; die Furcht vor einer "Überfremdung" durch EU-Arbeitsmigranten war für das britische Volk ein wesentlicher Grund, beim Referendum 2016 für den Austritt aus der EU zu stimmen. Es ist zu erwarten, dass sich der Aufstieg der Populisten in einer Reihe von Ländern, darunter Deutschland, Italien, Rumänien usw., auch in der Zusammensetzung des neuen Europaparlaments niederschlagen wird. Zum ersten Mal dürfte damit eine relativ starke Kraft ins Parlament einziehen, die der EU ablehnend bis feindlich gegenübersteht. Obwohl einige dieser Gruppierungen eher ein Zurückdrehen europäischer Errungenschaften oder tiefgreifende Reformen der EU anstreben, propagieren die meisten eine radikale Rückbesinnung auf nationalstaatliche Souveränität. Ihnen stehen die Befürworter einer Vertiefung der europäischen Integration gegenüber – wobei auch unter ihnen keine Einigkeit besteht, wohin die Reise gehen soll: zu einem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, einem Kerneuropa, einem Europäischen Bundestaat?

Dass die EU dringend tiefgreifender Reformen bedarf, steht außer Frage. Wie diese aussehen sollen, ist jedoch umstritten. Mit Blick auf das EP steht eines fest: Auch wenn das Parlament zahlreiche Kompetenzen hinzugewonnen hat, seine demokratische Legitimation hat sich in den Augen der Wählerinnen und Wähler nicht im gleichen Maße verbessert. Solange es nicht gelingt, dies entscheidend zu ändern, wird das Interesse an der EP-Wahl auch weiterhin unzureichend bleiben.

Doch auch auf einer konkreteren Ebene wird der Reformbedarf sichtbar. Der Erhalt der Freizügigkeit als Kernerrungenschaft der EU, Lösungen bei der Verteilungsfrage in der Flüchtlings- und Asylproblematik, die Herausforderung der noch immer hohen Jugendarbeitslosigkeit in den Krisenstaaten, Energiepolitik und Umweltschutz sind nur einige Themen einer langen Liste von Problemen, auf die die EU-Politik und die Staaten der EU Antworten finden müssen.

Hinzu kommen die globalen Problemlagen, die uns Europäer unmittelbar betreffen: Der Handelsstreit mit den USA, die russische Aggression an den Ostgrenzen Europas, die weltweiten Herausforderungen von Klimawandel, Unterentwicklung, Wasser- und Luftreinhaltung usw. erfordern neue europäische Entscheidungsmechanismen und eine grundsätzliche Neuorientierung europäischer Politik.

Die Teilnahme an der Europawahl ist weit mehr als eine Möglichkeit zur Mitwirkung an europapolitischen Entscheidungen. Besonders den jungen Menschen bietet die EU weitaus mehr Lebenschancen, als frühere Generationen jemals besaßen. Und selbst jene, die der EU kritisch gegenüber stehen, werden nicht bestreiten können, dass die EU ein historisch einmaliges Friedensprojekt ist, welches das Gesicht Europas vollständig verändert hat. Es setzt einen Schlussstrich unter Leid, Krieg und Konflikte, die unseren Kontinent jahrhundertelang erschütterten.

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Dr. Karlheinz Dürr ist im Hauptberuf bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg für Europa und Internationales zuständig, im Nebenberuf Übersetzer und Autor von Kinder- und Jugendliteratur. Nach dem Studium der Politik und Anglistik in Konstanz, Forschungsaufenthalt in England und Promotion beteiligte er sich viele Jahre an internationalen Bildungsprogrammen des Europarats und war zuletzt als EU-Berater in Georgien und der Ukraine tätig.