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Vortrag auf der Vollversammlung Deutsche Sportjugend im Deutschen Olympischen Sportbund e.V. (Bremen, 28. Oktober 2018) | Presse | bpb.de

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Vortrag auf der Vollversammlung Deutsche Sportjugend im Deutschen Olympischen Sportbund e.V. (Bremen, 28. Oktober 2018) „Wie politisch ist der Sport, wie politisch können, sollen, ja müssen Vereine sein?“

/ 13 Minuten zu lesen

Sehr geehrter Herr Holze,
sehr geehrter Herr Giesecke,
sehr geehrter Herr Schönwandt,
sehr geehrte Hetav Tek,
sehr geehrte Damen und Herren,

Sport stärkt Arme, Rumpf und Beine,/
Kürzt die öde Zeit,/
Und er schützt uns durch Vereine,/
Vor der Einsamkeit.

Aus „Ruf zum Sport“, Joachim Ringelnatz (1883-1934), Schriftsteller, Kabarettist und Maler

Wenn es um das Politische im Sport geht, insbesondere dem Vereinssport, ist mit dem Vers von Joachim Ringelnatz etwas Wesentliches bereits gesagt: Er kann Gemeinschaften, Zugehörigkeiten und Identitäten schaffen. Er kann zur lokalen Verortung, ohne die es keine politischen Gemeinschaften geben kann, beitragen. Fakt ist also, dass Sportvereine eine politische Dimension haben ob sie es wollen oder nicht. Die Frage ist, wie sie sie wahrnehmen.

Wenn es um das Verhältnis zwischen gesellschaftlicher und institutioneller Politik und Sport geht, fallen einem ebenfalls unzählige Beispiele ein: Wir könnten über Athleten der US-amerikanischen Football-Liga NFL sprechen, die sich gegen den Rassismus in der US-amerikanischen Öffentlichkeit stark machen und sich gegen den US-Präsidenten auflehnen. Erst vor wenigen Tagen jährte sich zum 50. Mal, dass die US-Sprinter John Carlos und Tommie Smith mit hochgestreckter Faust in schwarzen Handschuhen bei den Olympischen Spielen in Mexico für ihre Bürgerrechte demonstrierten.

Man könnte sich, wie in Großbritannien, auch darüber streiten, ob die WM in Russland, wo Menschenrechte bestenfalls Verhandlungsmasse eines autoritären Regimes sind, nicht hätte boykottiert werden können. Oder wir sprechen über die olympischen Winterspiele dieses Jahres mit Blick auf die Annäherung der beiden koreanischen Staaten. Das alles sind Beispiele, bei denen die Grenzen zwischen Sport und Politik nicht zum ersten Mal mäandern, sich überlagern und mitunter vollständig auflösen. Das Verhältnis von Sport und Politik scheint in modernen Gesellschaften allgegenwärtig.
Der Sport und seine Akteure werden sich dem nicht entziehen können. Sie müssen dieses Verhältnis aushandeln, um das Terrain für sich zu behaupten.

In seiner „Kulturgeschichte des Sports“ beschreibt der Historiker Wolfgang Behringer die sportlichen Wettbewerbe in der frühen Neuzeit als Stände übergreifende, egalitäre Kommunikationsorte: „Der Sport hat seine eigenen Regeln, und diese galten für alle.“ Behringer weist aber auch auf die unterschiedlichen Lesarten von Rollen und Funktionen des Sports innerhalb der Gesellschaft hin: Während Denker wie Adorno und Foucault darin vor allem Unterdrückung und Instrumentalisierung gesehen haben, stellte der italienische Philosoph Antonio Gramsci eher das emanzipatorische Potenzial im Klassenkampf heraus. Man erinnere sich nur an die Arbeitersportvereine.

Sport war also schon immer ein Feld für Deutungskämpfe und mitunter für hegemoniale Selbstversicherungen. Ich möchte mich hier nicht auf eine Deutung festlegen, zumal wir von Fall zu Fall differenzieren müssen, wovon wir eigentlich sprechen, wenn wir Sport meinen. Banaler, gleichzeitig für uns aber umso entscheidender, ist die Feststellung, dass der Sport in vielfältiger Weise mit politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Facetten des Lebens verflochten ist – trotz seiner eigenen Regeln, von denen Behriger spricht. Nicht wenige sportliche Ereignisse sind fest in unserem kollektiven Gedächtnis verankert und haben so eine Bedeutung weit über den Wettbewerb hinaus:

  • der Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1954, der in der kulturellen Rückschau untrennbar mit der Gründungsphase der Bundesrepublik und einem mentalen Wiederaufrichten der Nachkriegsgesellschaft verbunden ist;

  • die gemeinsame Olympiamannschaft von DDR und BRD 1964 in Tokio mitten im Kalten Krieg. Kann der Sport der großen Politik drohen?

  • das „Miracle on Ice“ bei den Olympischen Spielen 1980 in Lake Placid, als eine junge US-Eishockey-Mannschaft gegen die als unschlagbar geltende Sbornaja der Sowjetunion völlig überraschend Gold holte;

  • oder das sogenannte Sommermärchen 2006, als die Klinsmann-Elf zwar im Halbfinale an dem ewigen Fluch Italien scheiterte, die WM aber dennoch zur Chiffre für ein weltoffenes und begeisterungsfähiges Deutschland wurde – trotz der folgenden Debatten darüber, wie dieser vermeintliche Patriotismus einzuschätzen ist.

Nicht immer sind es Siege, die unter die Haut gehen, oft vergießen Sportler wie Fans auch bittere Tränen. Ein Sturz, eine Verletzung kann alle Träume zum Platzen bringen. Doch wie kaum ein anderer gesellschaftlicher Bereich rührt der Sport am Gefühlshaushalt weiter Teile der Bevölkerung.

Für viele Menschen ist der Sport aus dem Alltag nicht wegzudenken, mit ihm und um ihn herum haben sich Infrastrukturen gebildet, die die Mobilisierung der Massen Woche für Woche erst möglich machen. Vor allem innerhalb der großen Event-Sportarten wie Fußball, Eishockey oder Handball haben sich ökonomische Kreisläufe gebildet, in denen die Fans mit ihrer Kaufkraft elementarer Bestand sind. Sie sind aber weit mehr als nur passive Konsumenten oder Statisten auf den Tribünen. Sie sind ein politischer Faktor geworden.

Man muss sich nur die wochenendlichen Schmährufe und Boykottinszenierungen gegen den DFB vor Augen führen. Der Sport bringt wirkmächtige kulturelle und identitätsstiftende Routinen hervor – und das in doppeltem Sinne: Die Kultur des Sports ergibt sich aus einer sich wiederholenden Praktik, die die Gesellschaft als eigengültiges und eigenwertiges System immer wieder aufs Neue reproduziert – ähnlich wie die Kunst oder die Musik. Die Sphäre des Sports schafft zudem ihre eigenen Symbole und Narrative, die dem eigentlichen Wettbewerb aufgestülpt werden und nach und nach zu einer Fan-Kultur heranwachsen. Der Event-Sport ist also längst auch zu einer VergemeinschaftungsMASCHINE geworden.

Das sagt allerdings wenig über die Qualität dieser Gemeinschaften aus, noch weniger über ihren integrativen Wert und wie nachhaltig sie sind. Auf den flüchtigen Charakter symbolischer und materieller Bedeutung von sportlichen Beziehungsräumen weist Tim Beichelt hin: „Die größten Erfolge tragen den Makel der Vergänglichkeit mit sich“, schreibt der Professor für Europa-Studien in seiner fußballsoziologischen Abhandlung „Ersatzspielfelder – Zum Verhältnis zwischen Fußball und Macht.“ Genauso seien der Identifikationskraft des Fußballs Grenzen gesetzt – spätestens dann, wenn sportlichem Misserfolg ökonomische Einbußen folgen und Bedeutungsverlust einen Verein oder ganze Regionen ereilen. Der Logik freier Märkte folgend sind der Erfolg und damit auch das Vergemeinschaftungspotenzial zudem immer mehr durch finanzielle Ressourcen und den damit verbundenen Abhängigkeiten geprägt.

Ebenfalls im Widerspruch zum gemeinschaftlichen Wert des Sports – und hier ist wieder in erster Linie der Profifußball zu nennen – stehen alle Formen der Gewalt, die damit einhergehen. Mehr als 1,6 Millionen Einsatzstunden verbuchte die Polizei bei Spielen der vergangenen Saison in der ersten und zweiten Bundesliga. Das ist ungefähr zehnmal so viel wie alle Berliner Einsatzkräfte jährlich an Bahnhöfen leisten. Die Diskussion über den Einsatz und ihre Finanzierung ist ja gerade hier in Bremen heftig geführt worden.

Und die immer wieder durch Gewalt und rassistische Vorfälle erschütterte dritte Liga sowie die unteren Klassen tauchen in dieser Statistik nicht einmal auf. Auch wenn an dieser Stelle der Spielbetrieb nicht pauschal als Arena des Hasses und der Entgleisung dargestellt und auch keinesfalls die Kräfte etwa gegen Fremdenhass und Homophobie in den Fankurven selbst vergessen werden sollen. Wie politisch die Kurven sind, können Sie in dem interessanten Band "Mittendrin" nachlesen, den es nur bei der bpb gibt. Auch stellt sich die Frage, welche Rollenbilder die regelmäßigen sportlichen Mega-Events transportieren, wenn sich dadurch zum großen Teil männliche Idealbilder tradieren.

Warum nehmen in vielen Sportarten Spitzenathletinnen und weibliche Mannschaften noch immer nicht denselben Rang innerhalb der öffentlichen Wahrnehmung ein wie ihre männlichen Sportgenossen? Warum konzentriert sich der Blick so stark auf den männlichen Fußball, wo wir doch in vielen anderen Disziplinen regelmäßig Weltklasse-Leistungen von Spitzensportlerinnen bewundern können? Innerhalb der modernen Aufmerksamkeitsökonomie sind Prestige und Profit augenscheinlich höchst ungleich verteilt. Wir könnten unter der Überschrift dieses Vortrags nicht zuletzt auch die Kommerzialisierung des Sports als Faktor seiner drohenden Zersetzung diskutieren.

Die Auflistung bekannter Verflechtungen zwischen Sportfunktionären und der Politik wird mit jeder Großveranstaltung länger. Aber wollen wir das alles wissen? Sollen wir das überhaupt zum Thema machen? Ein leider häufig intransparentes System von persönlichen, ökonomischen und geopolitischen Interessen floriert nicht unbeachtet, aber doch weitgehend ungestört als Schattenreich. Ein Schattenreich, das seine Machenschaften im Glamour der Mega-Events reinwäscht, die uns beinahe jedes Jahr gut unterhalten. „In gewisser Weise hat sich die Fußballpolitik ein Paralleluniversum errichtet, in dem einige Ideale der Demokratie keine Gültigkeit mehr besitzen“, so Beichelt in seiner Analyse.

Korruption, zweifelhafte Steuerdeals, Vetternwirtschaft – all das steht in krassem Widerspruch zu unserem demokratischen Selbstverständnis. Und doch ist dieses zum Teil oligarchische System in die verschiedensten ökonomischen, medialen und politischen Wertschöpfungsketten integriert. Aktuell erleben wir in den Stadien Gesten des Widerstands, die sich gegen höhere Ticketpreise, gegen Investoren – kurzum: gegen den viel beklagten Ausverkauf des Sports wenden. Mitunter können wir dabei von Protest im besten demokratischen Sinne sprechen und die Fanszene als selbstbestimmten Akteur innerhalb eines harten Interessenskonflikts ausmachen – solange die Transparente und Schlachtenrufe nicht zu Gewalt oder anderen Straftaten aufrufen.

Die kapitalistische Praxis hat nicht in allen Ländern und Disziplinen gleichermaßen seinen Abdruck hinterlassen. Und nach Beichelts Beobachtung führt die Kapitalisierung nicht zwingend zu einem Verlust der Attraktivität, sondern eher zu einer Verschiebung: Statt in überteuerten Stadien – etwa in der englischen Premier League – erleben die Fans den Sport mit ähnlich großem Enthusiasmus nun in Bars und Kneipen oder von morgens bis abends vor den TV-Schirmen. Oder die Londoner Fans buchen kurzerhand ein Easyjet Ticket nach Berlin, um ein Zweitligaspiel beim 1.FC Union zu besuchen. Budgetseitig immer noch eine deutliche Entlastung und emotional „Fußball wie früher“.

Den Sport nur als durchkommerzialisierte Verwertungsmaschinerie zu sehen, greift jedoch ebenfalls zu kurz. In unregelmäßigen Abständen gerät der sportliche Rahmen buchstäblich zum Spielfeld schwelender Konflikte. Es geht dabei nicht selten um den Anspruch auf Legitimation und die Herausforderung wirkmächtiger Rollenbilder. Reibungen entstehen dort, wo Menschen bestehende Hegemonien infrage stellen, mit gängigen Bildern brechen und Ambivalenzen schaffen; sie sind aber auch Ausdruck von Potenzialen. So werden selbst Fußballmuffel an der Diskussion um den deutschen Nationalspieler Mesut Özil medial nicht drum herum gekommen sein. Seitdem ist die Frage, wer in Deutschland dazugehört und woran sich die Zugehörigkeit festmachen lässt, aus dem öffentlichen Diskurs nicht mehr wegzudenken.

Ebenfalls sehr breitenwirksam wurde debattiert, wie die Qualitäten der Fußball-Kommentatorin Claudia Neumann einzuschätzen seien. Dieses Beispiel würde ich hier nicht nennen, wenn es tatsächlich nur um die journalistische Kompetenz der ZDF-Reporterin gegangen wäre. Stattdessen entluden sich über ihr vor allem in den sozialen Netzwerken sexistische Ressentiments. In der Frage der Geschlechterrollen ist der Sport seit jeher eine Streitzone. Frauen mussten und müssen in vielen sportlichen Disziplinen hart um Anerkennung kämpfen. Dass sich aber zunehmend mehr Frauen als Kommentatorinnen und Schiedsrichterinnen durchsetzen, kann als Zeichen gleichstellungspolitischer Fortschritte gelesen werden.

So weit sind die Skateboard-Fahrerinnen – die stolzen Skate Girls – in Kabul zwar noch nicht. Dennoch bietet ihnen der Sport Wege, ihrem Widerstand gegen überkommene patriarchale Vorstellungen Ausdruck zu verleihen. Oder die Balletttänzerinnen und -tänzer im Iran, die sich - wenn auch in dunklen Kammern - über das Ballett den Körperpolitiken des Regimes zu entziehen versuchen. Räume und Wege zu finden, über den eigenen Körper zu bestimmen, kann Selbstbewusstsein stärken und Resilienz schaffen. Auch dafür bietet der Sport Möglichkeiten.

Aber nicht nur durch den Sport, sondern auch um den Sport herum bilden sich Formen des Widerstands: Die Ultras des Istanbuler Fußballclubs Besiktas sind seit 1993 – als der Bürgerkrieg in Südostanatolien seinen brutalen Höhepunkt hatte – wichtige antimilitaristische und rassismuskritische Stimmen in der Türkei. Zusammen mit anderen Istanbuler Fangemeinden waren sie Teil der Gezi-Proteste 2013. Der Spiegel schrieb damals, vermutlich nicht zu Unrecht: „Die Besiktas-Ultras haben die Revolte (…) nicht initiiert, aber ihre Beteiligung trug entscheidend dazu bei, dass aus den Protesten ein Volksaufstand wurde.“

Meine sehr geehrten Damen und Herren, in Deutschland wird spätestens seit den 1990er Jahren intensiv über den Wert des Sports für die Integration gesprochen. Als damals Hunderttausende Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion und anderen Ostblock-Staaten nach Deutschland kamen, waren Sportvereine vielerorts die ersten Anlaufstellen für die neuen Bürgerinnen und Bürger. Vor allem auch für ihre Kinder, um mit Kultur, Sprache und den Mitmenschen in Berührung zu kommen. Als Spätfolge des Programms „Integration durch Sport“, das die Bundesregierung bereits 1989 gefördert hatte, sollen auch heute noch Aussiedler und Spätaussiedler in rund 80 Prozent der Sportgruppen sowie als Übungsleiter in den geförderten Stützpunktvereinen vertreten sein.

Eine Evaluation des Programms aus den Jahren 2007 bis 2009 kommt zu folgendem Ergebnis: „Der vereinsorganisierte Sport kann zur sozialen Organisation in die Sportgruppe, in den Sportverein, und womöglich sogar in die kommunale und regionale Umwelt des jeweiligen Vereins beitragen; er kann alltagskulturelle ‚Normalitätsmuster‘, Kulturtechniken und kulturelle Kompetenzen vermitteln; er kann Handlungsfeld für alltägliches politisches Handeln in der unmittelbaren Lebenswelt bereitstellen, indem er Gelegenheiten zur Beteiligung in der Vereinspolitik oder zum freiwilligen Engagement eröffnet.“

Die Untersuchung zeigt auch, dass gerade Trainerinnen und Trainer mit Migrationshintergrund mit besonders großem Einsatz dabei sind. Aber, und das wird in der Evaluation ebenfalls deutlich: Die Integration ist kein Selbstläufer und schon gar nicht etwas, das sich ohne Konzept und Anstrengung automatisch einstellt, sobald Menschen unterschiedlicher Herkünfte gemeinsam Sport machen.
Integrationsprozesse müssen durch „intentionale sportpädagogische Angebote“ angestoßen werden. Für die Verantwortlichen an der Basis ist das aber eine große Herausforderung. Eine aktuelle Studie des Stifterverbandes stellt fest: Zwischen 2006 und 2016 haben sich in ländlichen Regionen über 15.500 Vereine aufgelöst. Fast jeder vierte Verein auf dem Land beklagt einen Mitgliederrückgang, in den Städten sind es 14 Prozent. Dabei macht der Sport den größten Teil des Vereinswesens aus und hat in ländlichen Regionen dabei einen noch größeren Anteil als in der Stadt.

Eine Erklärung für diese Entwicklung ist, dass vor allem jüngere Menschen mit ehrenamtlichen Posten nicht wie früher hohes Prestige verbinden, sie wollen sich auch nicht lebenslang an einzelne Organisationen binden. Die Freiwilligensurveys sprechen von projektbezogenen Engagementformen. Die ökonomische und kulturelle Transformation unserer Gesellschaft geht also auch am deutschen Vereinssport nicht spurlos vorbei. Hinzu kommt, dass der Weg zum organisierten Sport noch nicht für alle Bevölkerungsgruppen ein naheliegender ist: Klaus Cachay von der Universität Bielefeld und Carmen Borggrefe von der Universität Stuttgart haben untersucht, warum ausgerechnet Handball so wenig divers ist. Demnach geschehe Marginalisierung subtil – etwa durch Bilder in der öffentlichen Kommunikation, die eine homogene Gesellschafts- und Vereinsstruktur signalisierten.

Wenn sich die reale Vielfalt nicht auch visuell abbilde, analysiert Borggrefe in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk, werde ungewollt ein Signal ausgesendet: das einer geschlossenen Gruppe, die dort partizipiere. Es entladen sich Wertevorstellungen und Identitätsfragen, die Grenzen aufziehen statt inklusiv zu wirken. Die beiden Sportwissenschaftler schlagen spezielle Programme zur Öffnung vor – auch im eigenen Interesse von Sportvereinen, die aufgrund der demografischen Entwicklung an Attraktivität einbüßen.

Die gute Nachricht ist: Gesellschaftliche Entwicklungen können gestaltet werden, und weder der Spitzen- noch der Breitensport befinden sich dabei in einer rein passiven Rolle. Eine Chance besteht darin, sich gegenüber der Transformation zu einer pluralistischen Gesellschaft zu öffnen und das eigene Selbstverständnis entsprechend weiterzudenken. Die Sportvereine nehmen eine zentrale Rolle dabei ein, wenn es darum geht, Pluralismus zum Selbstverständnis unserer Gesellschaft werden zu lassen. Die eben zitierten Zahlen des Stifterverbandes sollen nicht schwarz malen: Laut dem Bundesfreiwilligensurvey sind immerhin 8,6 Millionen Menschen in Deutschland ehrenamtlich oder freiwillig im Bereich des Sports engagiert, insgesamt zählt der Deutsche Olympische Sportbund rund 28 Millionen Mitglieder in Vereinen.

Allein diese Zahlen und der Stellenwert, den der Sport in unserem Gemeinwesen einnimmt, machen deutlich, wie zentral die Stellung der Aktiven für unsere Demokratie ist. Automatisch erhalten Sportvereine ein gewichtiges Mitspracherecht in der Debatte um Werte und Haltungen. Sportvereine und Verbände sind wichtige Bausteine der sozialen DNA. Sie stehen im Austausch mit vielen anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern, werden von diesen beeinflusst und wirken selbst in die Gemeinschaft hinein. Das Selbstverständnis des Netzwerks Sport und Politik trägt genau diesen Gedanken Rechnung.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Frage, wie politisch der Sport sein kann, lässt sich vor dem Hintergrund dieser eben skizzierten gesellschaftlichen Verwobenheiten vielleicht auch umdrehen: Wie unpolitisch darf der Sport sein? Und das gilt auch und gerade für die Deutsche Sportjugend. Der größte der Jugendverbände weiß, worauf es ankommt. Verbandsfragen müssen politisch ausgehandelt werden. Da beißt die Maus keinen Faden ab. Jugendverbände sind Werkstätten der Demokratie und im Unterschied zur regulären Schule findet das alles freiwillig und ehrenamtlich statt.

Und wer die Verbandsarbeit kennt, weiß, dass man an dem ein oder anderen Konflikt nicht vorbeikommt. Interessen sind in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft nicht im Singular und domestiziert zu haben. Man muss dafür einstehen und Haltung zeigen. Das Besondere an Vereinen und Verbänden ist ja, dass man neben den gemeinsamen auch unterschiedliche Interessen aushandeln und verteidigen muss. Als politischer Bildner begrüße ich natürlich besonders, dass es vielerorts auch Aktivitäten politischer Bildung gibt, nicht zuletzt im Rahmen von "Lernort Stadion". Aber:

Wer den Sport wirklich liebt, wird sich aber davor hüten, ihn zu überhöhen und ihn in erster Linie als politisches Instrument zu begreifen. Als Sportlerin oder Sportler wie als Sportfan ist man gut beraten, sensibel zu sein gegenüber politischer Vereinnahmung und Erwartungshaltungen, die funktionale Erwägungen vor die Freude am Spiel und Bewegung stellen. Die Faszination liegt am Ende des Tages im Sport selbst, das ist der eigentliche, kaum zu überschätzende Wert für die Gesellschaft. Dem Skispringer Jens Weißflog, der für die DDR und das wiedervereinte Deutschland jede Menge Medaillen ersprungen hat, wird das Bonmot nachgesagt:“ Man fliegt immer nur so weit, soweit man im Kopf schon ist.“ Oder nochmal zum Fußball zurück:

„Fußball lenkt die Menschen von ihren alltäglichen Problemen ab“, hat der ehemalige Nationalspieler Christoph Metzelder einmal in einem Interview gesagt. Der Fußball gebe aber keine Antworten auf die drängenden Fragen des Lebens oder des Todes. Oder etwas kürzer, wie es der einstige BVB-Kapitän Addi Preißler mal formuliert hat: „Entscheidend is' auf’m Platz“.

- Es gilt das gesprochene Wort -

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