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"Reich" - Rede zur Auftaktveranstaltung des Theaterfestivals "Politik im Freien Theater" (München, 1. November 2018) | Presse | bpb.de

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"Reich" - Rede zur Auftaktveranstaltung des Theaterfestivals "Politik im Freien Theater" (München, 1. November 2018)

/ 8 Minuten zu lesen

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Reiter,
lieber Matthias,
Liebe Freundinnen und Freunde des Freien Theaters,

haben Sie schon mal eine Million Euro in Hunderterscheinen in einem Koffer getragen? Nein? – Ich auch nicht. Aber theoretisch könnten Sie so einen Koffer tragen, eine Million Euro wiegen nämlich rund 11 Kilo. Das kann man schaffen. Nun können Sie sich ausrechnen, was eine Milliarde Euro in Hunderterscheinen wiegen: 11 Tonnen. Die kriegen Sie definitiv nicht mehr in einen Koffer. Diese Last bewegen Sie auch nicht mit einem der vielen SUVs, die es hier in München gibt. Da brauchen Sie schon einen Lastwagen. Oder Sie leihen sich sechs oberbayrische Brauereipferde.

Warum dieses Bild? Weil Geld ein enormes Gewicht hat. Und weil es wichtig ist, dieses Gewicht – in Zeiten, in denen riesige Summen innerhalb von Sekundenbruchteilen körperlos verschickt werden – irgendwie zu fühlen. Eine Milliarde ist eben viel mehr als eine Million. Man muss sich vor Augen führen, was es bedeutet, wenn Staaten durch sogenannte Steueroptimierungen Milliardensummen verloren gehen. Man sollte deshalb auch begreifen, welche Wucht heute eine Konzernmacht hat. Wenn milliardenschwere Unternehmen Lobbyarbeit betreiben – und ihnen ehrenamtliche Bürgerinitiativen gegenüberstehen, die nur einige zehntausend, wenn es gut geht, hunderttausend Euro aufbringen können.

Zum Festivalmotto Reich: Dieses Wort hat ja im Deutschen eine Doppelbedeutung. Zum einen bedeutet es großen Wohlstand, zum anderen bezeichnet „das Reich“, einen Machtbereich. Und natürlich gibt es da eine semantische Verknüpfung. Wer reich ist, verfügt nicht nur im Überfluss über materielle und immaterielle Güter. Er oder sie hat Zugriff auf bestimmte soziale Territorien: Auf gewisse Wohnviertel, Bildungsräume und Berufswelten, auf spezielle Urlaubsdestinationen und Einkaufsmeilen – und trifft dort auf bestimmte, meist gleichbetuchte Menschen und erhält Informationen, die in diesen Räumen zirkulieren. Holt sich Wertvorstellungen, Benehmen, Stallgeruch. Er verfügt dann über das, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu als das „kulturelle Kapital“ bzw. das „symbolische Kapital“ bezeichnete.

Meine Damen und Herren, im politischen Theater kann man nicht über Reichtum sprechen ohne die Armut zum Thema zu machen. Berthold Brecht brachte das präzise auf den Punkt. "Reicher Mann und armer Mann standen da und sah'n sich an. Da sagt der Arme bleich: Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ Von was reden wir wirklich, wenn wir von Reich und Arm sprechen? Wir reden von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Diese zwei aufeinander bezogenen Größen sozialer Ungleichheitzielen mitten ins thematische Herz dieses Festivals.

Nun – ausgerechnet in München die Fragen von Reichtum und Armut zu verhandeln – das hat schon was Provokatives, fast schon Ketzerisches an sich. München! Der Jobmotor, die Wirtschaftslokomotive Bayerns erstickt ja fast an seinem eigenen Erfolg. Der hat aber auch ein anderes Gesicht. In der „Boomtown“ steigen die Mieten ins Fantastische. Da wird nicht nur die oft genannte Krankenschwester abgehängt und aus der Stadt gedrängt, sondern auch der Gleisarbeiter, der das überlastete U-Bahn-System des MVV überhaupt noch mit am Laufen hält. Lehrer, Journalisten und Angestellte mittelständischer Unternehmen müssen weichen, all diejenigen, die zum Kitt der Gesellschaft gehören. Und, man traut es sich ja kaum laut zu sagen, selbst Schauspieler und Mitarbeitende der Münchener Kammerspiele finden kaum bezahlbaren Wohnraum.

Der Mietmarkt in München ist nur ein deutlicher Ausdruck einer wachsenden sozialen Spaltung. In der einst – einigermaßen – ausbalancierten Bundesrepublik hat sich das Wohlstandsgefälle so verstärkt, dass nur 10 Prozent der Bevölkerung die Hand auf mehr als 65 Prozent des gesamten Nettovermögens halten. Noch extremer zeigt sich das Auseinanderdriften der Einkommensverhältnisse auf globaler Ebene, wo nur 1 Prozent der Bevölkerung über mehr als die Hälfte des globalen Vermögens verfügt. Dies, meine Damen und Herren, ist auch die Folge der Ideologie der freien Märkte, die seit Mitte der 1980er Jahre rund um den Globus zum Dogma erhoben wurde. Schneller und effizienter als Regierungen würde die deregulierte Wirtschaft für Jobs sorgen und weltweit die Armut beseitigen. Das Versprechen, das als Virus selbst in die DNA der ältesten deutschen Volkspartei eingezogen ist, hat sich nur punktuell erfüllt. Geld ist darüber zum Zweck geworden anstatt Mittel zu bleiben. Geld sollte Freiräume schaffen – die Freiheit zu etwas, zum Beispiel zu einem Theaterbesuch. Aber auch die Befreiung von etwas, zB. von Armut. Das Theater ist seit jeher ein Raum, der zwar nicht rechtsfrei aber etwas regelfreier ist, in dem herrschende Verhältnisse schonungslos angeprangert werden können. Die Geschichte hat gezeigt, dass Stücke von derart politischer Sprengkraft sein können, dass ein Funken von der Bühne aufs Publikum überspringt.

Sie kennen sicher den Augenzeugenbericht, der von der Uraufführung der „Räuber“ 1782 in Mannheim berichtet, in der Schiller radikal das Feudalsystem angriff? Ich lese vor: „Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum! Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Thüre. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung hervorbricht!“ Oder wussten Sie, dass die Staatsgründung Belgiens auf die Oper „Die Stumme von Portici“ zurückgeht? Die nach der Opernaufführung ausgelösten Unruhen gegen die verhasste niederländische Herrschaft führten zur Revolution und zur Unabhängigkeit Belgiens. Nun – ich kann Sie beruhigen! Eine Bundesbehörde im Geschäftsbereich eines bayrischen Bundesinnenministers wird sicher keine Umstürze und Revolutionen auslösen. Aber Wahrheiten benennen, Gewissheiten aufbrechen – das muss schon sein, oder?

Die Kluft, die klassischerweise den Zuschauerraum von der Bühne trennt, ist bei vielen der hier gezeigten Produktionen aufgehoben. Man kann hier schlecht im roten Samtsessel im schützenden Dunkel verbleiben, während Performer und Darsteller vor unserer Nase Gesellschaftskritik üben. Ich sprach ja zu Beginn von Räumen, die bestimmten sozialen Gruppen gehören. Seien wir doch ehrlich: Auch das Theater ist so ein Raum, in dem ein gewisses „Entre-soi“ herrscht, ein Unter-sich-Bleiben. Sehen Sie sich um – die 30 Prozent Ausländeranteil in München, sehen Sie die hier auch nur halbwegs repräsentiert? Theater darf sich nicht selbst das warme Stübchen sein. Deswegen teilen ja viele Theaterleute auch das Verständnis, dass sie ihre Kritik an Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht immer nur auf der Bühne stattfinden lassen können, sondern mitunter als Protest auf die Straße tragen. Erinnern Sie sich an den 4. November 1989, als die Theaterleute vom Deutschen Theater und vom Maxim Gorki Theater zur Demo auf dem Ostberliner Alexanderplatz aufriefen und 500.000 Leute kamen?

Im Juli bei Regenwetter fand in München die #Ausgehetzt statt, die große Anti-Rechtsruck-Demonstration, an der zigtausende Münchnerinnen und Münchner und Bürgerinnen und Bürger aus den umliegenden Landkreisen protestierten. Sie stellten sich gegen die Verrohung der Sprache und gegen die Fokussierung des Wahlkampfs auf die Migrationsfrage. 130 Organisation hatten zu dieser Demo aufgerufen, bei der es ein einträchtiges Nebeneinander gab von Studierenden, Rentnerinnen und Rentnern, Menschen mit Migrationserfahrung und -geschichte, Familien mit Kindern, Nonnen, Trachtlern in Dirndl und Lederhosen oder Mitgliedern des Motorradclubs „Kuhle Wampe“. Die Münchner Kammerspiele und das Münchner Volkstheater hatten als Institutionen zu dieser Kundgebung mitaufgerufen – und dafür einen geharnischten Konflikt mit einer nicht unwesentlichen Stadtratsfraktion in Kauf genommen. Kreativität will sich eben nicht einhegen lassen – so sahen das die Münchner Theatermacher. Und kamen zu dem aus ihrer Sicht nachvollziehbaren Schluss: Wenn rote Linien in der Politik überschritten würden, dann müssten eben auch die Grenzen der Neutralität ausgelotet werden.

Die Frage ist also: Kann Theater auch im Zuschauer das „zoon politicon“ wecken, das inner political animal? Ich glaube: Ja. Wenn ein „Danach“ mitgedacht wird. Es ist wie mit den Demonstrationen: Auf der Straße im Miteinander holt man sich die Kraft, den Mut, ein Gefühl der Solidarität. Aber dann darf es auch das Danach geben. Sonst bleibt es bei einer Selbstvergewisserung. So verhält es sich auch mit dem Theater. Es kann Bewusstheit schaffen, aber Bewusstsein ist noch keine Veränderung. Eine Performance anzuschauen, sei sie noch so politisch, provokant und radikal, ist noch kein politisches Engagement. Dafür muss es nach dem Theater ein Hinausgehen in die Gesellschaft geben. Dass wir uns nicht falsch verstehen: Es muss zur Freiheit der Kunstrezeption auch die Option geben, seine Hände in den Schoß zu legen.

Aber Fakt ist, Freiheitsrechte sind nicht vom Himmel gefallen. Menschen haben dafür gekämpft. Kann man sich also zurücklehnen und sagen, mir doch egal? Ich gebe ins große Ganze nichts hinein? Ich darf daran erinnern: Im alten Athen wurden Menschen, die sich gesellschaftlich oder politisch nicht einbrachten, als „Idiotes“ (was soviel heißt wie .Privatmenschen oder Eigenbrödler) bezeichnet. Immer mehr Leute begreifen heute zum Glück: Wer sich als Bürger aus der Politik zurückzieht, darf sich nicht wundern, wenn andere in ihrem egoistischen Sinne Geschäfte betreiben und damit soziale Ungleichheiten verschärfen.

Etwas Großes wagen – 1910 hielt Theodor Roosevelt eine Rede an der Sorbonne, unter dem Titel: „Citizenship in a Republic“. Er ermutigt darin, sich gerufen zu fühlen. Die berühmteste Passage in dieser Rede ist weltweit bekannt geworden unter dem Namen „Der Mann in der Arena“. Ich zitiere: „Es ist nicht der Kritiker, der zählt, nicht derjenige, der aufzeigt, wie der Starke gestolpert ist oder wo der, der Taten gesetzt hat, sie hätte besser machen können. Die Anerkennung gehört dem, der wirklich in der Arena ist; dessen Gesicht verschmiert ist von Staub und Schweiß und Blut; der sich tapfer bemüht; der irrt und wieder und wieder scheitert; der die große Begeisterung kennt, die große Hingabe, und sich an einer würdigen Sache verausgabt; der, im besten Fall, am Ende den Triumph der großen Leistung erfährt; und der, im schlechtesten Falls des Scheiterns, zumindest dabei scheitert, dass er etwas Großes gewagt hat…- Der Imperativ dieses Festivals ist ganz in diesem Sinne, etwas Großes zu wagen. Lassen Sie sich von Performern und Darstellern bewegen. Lassen Sie sich ansprechen, berühren. Und wenn Sie wollen, dann gehen Sie aus dem Theater hinaus und treten Sie ein – vielleicht in eine kommunale oder kirchliche Initiative, eine Partei, eine NGO. Wenn Sie nichts Passendes finden, gründen Sie eine. Sie müssen nichts Perfektes schaffen. Sie dürfen straucheln. Sich irren. Natürlich dürfen Sie auch der Zuschauer auf dem Rang bleiben, der es dabei belässt: Daumen rauf, Daumen runter. Aber überlegen Sie es sich.

Mein herzlicher Dank gilt allen Beteiligten, die das beeindruckende Programm der kommenden Tage zusammengestellt haben. Besonders möchte ich meinen beiden Kolleginnen Milena Mushak und Anne Paffenholz und ihrem Team danken, die mit den Kammerspielen und Spielmotor diese schweißtreibende Arbeit geleistet haben. Die Inszenierungen an den verschiedenen Spielorten, aber auch das fantastische und vielfältige Rahmenprogramm aus Diskussionen, Lesungen, Konzerten, Filmvorführungen und Stadtspaziergängen, mit dem das Festival in die Stadt hineinwirken wird. Ehrlich gesagt habe ich bislang in keiner Stadt eine so lebendige Teilhabe im Vorfeld des Festivals erlebt. Deshalb freue mich über die zahlreichen Kooperationen mit den Münchner Institutionen, die in diesem Rahmen entstanden sind. Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass uns das Festival und sein Motto etwas abverlangen wird. In diesem Sinne: Kopf hoch und nicht die Hände!

Vielen Dank.

- Es gilt das gesprochene Wort -

Fussnoten