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Analyse: Die Mahnung der ökologischen Oder-Katastrophe. Über die Versäumnisse der Wasserwirtschaft in Polen. | bpb.de

Analyse: Die Mahnung der ökologischen Oder-Katastrophe. Über die Versäumnisse der Wasserwirtschaft in Polen. Polen-Analysen Nr. 300

Michał Olszewski Krakau Michał Olszewski

/ 15 Minuten zu lesen

Die ökologische Katastrophe, welche die Oder, einen der größten polnischen Flüsse, im Sommer 2022 erfasste, ist lediglich die Ankündigung weiterer Ereignisse dieser Art. Polen wird einen hohen Preis für die Jahre der systematischen Vernachlässigung und seine anachronistische Einstellung zu Gewässern zahlen.

Ein toter Blei im flachen Wasser der Oder. Im Fluss breitete sich im Sommer 2022 ein massenhaftes Fischsterben aus. (© picture-alliance/dpa, Patrick Pleul)

Zusammenfassung

Anfang August 2022 entdeckten Angler ungewöhnlich viele tote Fische in der Oder bei Breslau (Wrocław). Wurde der Fluss vergiftet? Während die Regierung auf natürliche Ursachen wie hohe Wassertemperatur und das dadurch begünstigte Wachstum der toxischen Goldalgen verwies, lieferten Wasserexperten weitere Gründe für den Kollaps der wichtigsten polnischen Wasserstraße. Diese liegen in einer verfehlten Wasserwirtschaft in Polen, die die wirtschaftliche Nutzung vor alle anderen Zielen stellt. Die Oder-Krise kann sich in Polen jederzeit wiederholen, weil Modernisierungsmaßnahmen wie Uferbegradigung oder Laufvertiefung ohne Rücksicht auf die ökologische Bilanz durchgeführt wurden, Abwassereinleitungen ohne wirksame Kontrolle stattfinden und sich der Düngemitteleinsatz in der Landwirtschaft vervielfältigte. Eine Gesundung der polnischen Gewässer wird nur möglich sein, wenn eine neue, verantwortungsvolle Wasserpolitik zustande kommt, die auch die ökologischen Belange berücksichtigt.

170 Tonnen verendeter Fische (und das ist vermutlich nur ein Teil derer, die vergiftet wurden), geschlossene Betriebe, Stornierungen in den Hotels und Unternehmen, die Flussfahrten oder Kajaktouren anbieten, mutmaßlich gigantische Folgen für die Natur und – was die Hauptsache ist – ein toter Fluss, dessen Regeneration Jahrzehnte dauern wird.

Wer hat die Oder im August 2022 vergiftet? Auf der Suche nach den Verursachern der größten ökologischen Katastrophe in Polen seit 1989 – der Tageszeitung Rzeczpospolita zufolge wurden allein in der Woiwodschaft Westpommern (województwo zachodniopomorskie) 170 Tonnen toter Fische geborgen – geraten zwei Narrationen aneinander.

Die erste, nennen wir sie die offizielle, welche die Regierung von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki vertritt, besagt, dass die Katastrophe natürliche Ursachen hat: Die hohe Wassertemperatur im Zusammenspiel mit dem niedrigen Wasserstand soll zur Blüte der Goldalgen geführt haben (Prymnesium parvum), die dabei Toxine produzieren. Die Algen hätten die Fische getötet und das biologische Leben im Fluss zerstört. Das ist für die Regierungsbehörden, die das Monitoring der Wasserqualität betreiben, eine sehr bequeme Geschichte, denn sie schiebt jegliche Verantwortung auf Faktoren, die vom Menschen unabhängig sind. Die Regierung kann schließlich nicht die Hitze, Verdunstung oder die Menge der Niederschläge kontrollieren.

Es gibt aber auch eine zweite Version, die die offizielle Narration nicht ausschließt, sondern vielmehr ergänzt. Ihre Autoren sind Wissenschaftler der Beratergruppe für den Klimawandel beim Präsidenten der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Polska Akademia Nauk – PAN) sowie des Komitees für Wasserwirtschaft und des Komitees für Umwelttechnologie der PAN. Der von ihnen erstellte Bericht ist, obwohl er sich dabei zurückhält, Urteile zu fällen, für den polnischen Staat im Grunde schonungslos und zeigt folgende mögliche Ursachen für die Katastrophe auf:

  • Ein lang andauernder sehr niedriger Wasserstand, der die Sensibilität des Flusses gegenüber einfließenden Verschmutzungen erhöhte;

  • die Einleitung von Abwässern, die biogene Verbindungen, insbesondere Stickstoff und Phosphor, enthielten, welche für das Wachstum von Phytoplankton unentbehrlich sind und dieses deutlich beschleunigen;

  • die Einleitung salzhaltigen Wassers aus Industrie und Bergbau, die eine direkte Ursache für das Wachstum der Goldalgen sein kann;

  • die Freisetzung einer zusätzlichen biogenen Masse sowie von Schwermetallen und anderen Verschmutzungen (die jahrzehntelang in den Bodensedimenten lagerten) infolge von Ertüchtigungsmaßnahmen am Fluss sowie des niedrigen Wasserstandes, was nach sich zog, dass der Flussgrund sogar bei wenig intensiver Wasserbewegung in Bewegung geriet;

  • der Temperaturanstieg, der das Tempo der biologischen Prozesse beschleunigte, inklusive der Vermehrung von Algen;

  • die deutliche Veränderung der hydrologischen Bedingungen in der Oder infolge ihrer Regulierung, Stauung und Nutzung für die Binnenschifffahrt, was sich günstig auf das Algenwachstum auswirkte, da sich die Retentionsphase des Wassers im Fluss verlängert.

Halten wir fest: Nur zwei der sechs von den Wissenschaftlern genannten Faktoren tauchen in der offiziellen Narration auf. Zu den übrigen vier schweigt sich die Regierung aus. Das ist nicht verwunderlich, denn sie führen zu unbequemen Fragen nicht nur mit Blick auf die Oder, sondern auf das gesamte System der Gewässerverwaltung in Polen.

Polens anachronistische Wasserpolitik

Die ökologische Katastrophe der Oder schreibt sich außerdem in einen größeren Kontext ein, der ebenso dramatisch ist: Die polnischen Flüsse sind zu einem Ort einer leisen, langsamen und konsequenten Zerstörung geworden.

>Der vor zwei Jahren von der Koalition Lebendige Erde (Koalicja Żywa Ziemia) und der Heinrich Böll Stiftung in Warschau zusammen erstellte Bericht "Wasser in der Landwirtschaft" ("Woda w rolnictwie") klingt aus heutiger Perspektive wie eine Mahnung, die das große systemische Problem Polens enthüllt. Die Fehler und Unterlassungen in der Wasserwirtschaft wiegen schwer und bestehen bereits seit Jahrzehnten. Dieses Drama hat Prof. Wiktor Kotowski, Experte für den Schutz von Feuchtgebieten, bildlich gefasst, indem er Polen mit einer Wohnung verglich, deren Bewohner wegging und alle Wasserhähne laufen ließ. Das Wasser fließt aus dem Gebiet Polens massiv ab und es ist zurzeit nichts zu sehen, was es aufhalten könnte. Diese traurige Feststellung bestätigt ein Gutachten des WWF (World Wildlife Fund), das sich auf die systemischen Fehler konzentriert, die in den ländlichen Gebieten begangen wurden.

Przemysław Nawrocki und Piotr Nieznański vom WWF, die sich seit vielen Jahren mit Wasserschutz beschäftigen, zeigen die wichtigsten auf: Aus den Berechnungen der Experten ergibt sich, dass in Polen in den Jahren 2010 bis 2017 ca. 38.000 Kilometer Wasserläufe reguliert und entschlammt wurden. Die Mehrheit dieser Arbeiten wurde auf landwirtschaftlich genutzten Flächen oder sogar in Waldgebieten durchgeführt, weit entfernt von bebautem Gelände. Dies ist das Ergebnis einerseits des von den Landwirten ausgeübten Drucks, die den Schutz ihrer bewirtschafteten Flächen vor Überschwemmungen fordern, aber andererseits auch der Trockenlegung, für die die Geldströme aus der Europäischen Union genutzt wurden. Mehr noch, ein Teil der Arbeiten wurde in Gebieten durchgeführt, denen die Austrocknung droht. Die Folgen dieser Maßnahmen sind deutlich sichtbar: Das Oberflächenwasser wird schneller aus den Gebieten abgeleitet, was eine noch tiefere Austrocknung der Böden zur Folge hat. Weiterhin werden Feuchtgebiete trockengelegt – obwohl Feuchtgebiete die billigste und wirksamste Methode sind, um die Retention in den ländlichen Gebieten zu verbessern. Hinzu kommt, dass die natürlichen Ressourcen der Flüsse, u. a. Fische, in massivem Ausmaß vernichtet wurden. Eines der traurigen Paradoxe der polnischen Wasserpolitik ist die Tatsache, dass das Wasser zwar eine bessere Qualität hat, da deutlich weniger kommunale und industrielle Abwässer als in den letzten Jahrzehnten in die Gewässer eingeleitet werden. Aber es birgt auch immer weniger Leben – in begradigten, entschlammten Flüssen mit zerstörten Laichplätzen verschwindet die Biodiversität. Nach Auffassung von Experten vollzieht sich die Zerstörung der Flüsse in Polen ca. einhundertmal schneller als die Verbesserung ihrer Qualität.

Hinzu kommt, dass Polen mit Macht austrocknet: Der zentral-westliche Landesteil versteppt mit hoher Geschwindigkeit und der Wasserstand sowohl des Oberflächenwassers als auch des Grundwassers fällt. Experten der Wasserwirtschaft haben keine Zweifel: Die durchdringende Trockenheit und die insbesondere in der Sommerzeit plötzlich auftretenden Überschwemmungen sind nicht nur eine Folge der globalen Erwärmung und der ins Wanken gebrachten klimatischen Abläufe, sondern auch die Konsequenz aus der anachronistischen Wasserpolitik in Polen. Aufeinander folgende Regierungen haben die von Polen unterzeichnete Europäische Wasserrahmenrichtlinie aus dem Jahr 2000 ignoriert. Sie sollte dazu führen, dass bis 2015 ein guter ökologischer Zustand der Flüsse erreicht und der Prozess aufgehalten wird, dass sich der chemische Zustand des Grundwassers, das der Trinkwasserversorgung dient, verschlechtert. In Polen herrscht leider die Überzeugung vor, dass Wasser als Energiequelle oder als Transportmittel dienen sollte. Daher hat sich in den letzten Jahrzehnten die Wasserqualität in Polen deutlich verschlechtert. Jerzy Iwanicki, einer der Autoren des Berichtes "Umgang mit Wasser in Polen" ("Gospodarka wodą w Polsce"), zeigt, dass nach den Daten des Hauptstatistikamtes (Główny Urząd Statystyczny – GUS) im Jahr 2016 (das letzte Jahr, in dem so detaillierte Informationen veröffentlicht wurden) nur in 178 untersuchten Flussabschnitten der Wasserzustand gut war, in 1.452 jedoch schlecht. Die Ursachen: Düngemittel, die von den Feldern eingeschwemmt werden, Industrieabwässer und die von uns eingetragenen chemischen Reinigungsmittel und Medikamente zerstören die Biodiversität der Flüsse und lassen sie veröden. Die Regierung von Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość – PiS) hat die Situation nicht im geringsten Maße verbessert. Vielmehr hat sie Ideen in die öffentliche Diskussion eingebracht, die nach Meinung von Experten die hydrologische Situation im Land noch verschlechtern: Obwohl das Wasser in den Flüssen weniger wird, forcieren die rechtskonservativen Politiker den Bau von Staudämmen, die Begradigung von Flüssen und die Entwicklung der Binnenschifffahrt. Eine der Ideen ist die Wasserstraße E40, die nach der Vorstellung der Planer das Schwarze Meer mit der Ostsee verbinden wird. In Polen soll sie entlang des Bug und dann auf der Weichsel verlaufen. Dies wäre mit dem Bau von Staustufen und der unwiederbringlichen Zerstörung der Natur verbunden. Die Absurdität solcher Vorhaben offenbart eines der Leuchtturmprojekte der Regierung, der Durchstich der Weichselnehrung: Für zwei Milliarden Zloty wurde eine Investition getätigt, die weder eine wirtschaftliche noch eine strategische Bedeutung hat. Deutlich wird vielmehr, dass die PiS-Regierung mental in der Epoche der großen und kostspieligen hydrologischen Bauvorhaben steckt, welche die polnischen Probleme mit dem Wasser nicht im Geringsten lösen.

Der Bericht "Wasserressourcen in Polen" ("Zasoby wodne w Polsce") der Stiftung Freundliches Land (Fundacja Przyjazny Kraj) stellt fest, dass der Zustand des Wassers in 91,5 Prozent der Oberflächengewässer der Flüsse, in 88,1 Prozent der Oberflächengewässer der Seen sowie in 100 Prozent der Oberflächengewässer der Küsten- und Übergangsgewässer schlecht ist. Das ist die beste Zusammenfassung der Wasserpolitik der letzten Jahrzehnte.

Biber und Bagger

Wilde Flüsse gibt es in Polen sehr wenige. Die Mehrheit wurde in den 1950er und 60er Jahren reguliert, als das Übermaß an Wasser auf den landwirtschaftlichen Flächen das Problem war und nicht der Mangel. Ein regulierter Fluss wird nie vollständig seinen ursprünglichen Charakter wiedererlangen, aber er kann viele natürliche Eigenschaften zurückgewinnen. Im Falle der Gebirgsflüsse, die, wenn sie anschwellen, eine sehr starke Kraft haben, kann die Wiedererlangung ihres natürlichen Charakters sehr schnell, im Laufe weniger Jahre, eintreten. Wenn die Ufer nicht betoniert sind, reichen ein oder zwei solide Wasseranstiege aus. Bei Flachlandflüssen kann der Prozess der eigenständigen Rückkehr zum natürlichen und morphologischen Gleichgewicht sogar Jahrzehnte dauern oder auch nie eintreten.

Während in Westeuropa viele Flüsse mit enormem Aufwand an Mitteln renaturiert wurden, bekam Polen das gewissermaßen geschenkt. Aus Mangel an Geld gewannen viele kleine Flüsse die meisten ihrer natürlichen Eigenschaften zurück. Gute Arbeit erledigten die Biber, indem sie Dämme bauten, die bewirkten, dass der Fluss zu mäandern begann. Die Biber zerwühlten auch viele Ufergelände und gaben ihnen ihren natürlichen Charakter zurück. Doch die großen Hochwasser in den Jahren 1997 und 2001 und der Beitritt Polens zur Europäischen Union (2004) hatten zur Folge, dass in Polen viel Geld in Umlauf kam, um die Flüsse neu zu regulieren und den selbständig renaturierten, einstmals zerstörten Flüssen mit Hilfe von Baggern ihre regulierte "Pracht" wiederzugeben. Die hydrotechnischen Arbeiten begannen in einem bisher unbekannten Ausmaß. Nach dem Hochwasser im Jahr 2001 gab die Europäische Investitionsbank Polen einen Kredit in Höhe von 250 Millionen Euro für den Wiederaufbau der zerstörten Wasserinfrastruktur, was zusammen mit dem Eigenanteil einen Gesamtbetrag von 385 Millionen Euro ergab. Für dieses Geld entstanden im ganzen Land Tausende kleiner Gewässerprojekte; ein Teil von ihnen schützt vor der Überschwemmung von Weiden, Wäldern und Brachflächen. Anstatt ein Entschädigungssystem für die Bauern aufzubauen, deren Flächen im Überschwemmungsgebiet liegen, wurden in Polen Methoden eingeführt, welche die Natur zerstören und kostspielig sind. Die Konsequenzen dieser Fehler tragen wir die ganze Zeit: Nicht nur, dass das Wasser eine schlechtere Qualität hat (die Begradigung der Flüsse geht gewöhnlich mit der Trockenlegung von Feuchtgebieten, Torfmooren und Sümpfen einher, denen die Rolle einer natürlichen Kläranlage zukommt), das Wasser verschwindet zudem blitzschnell aus der Landschaft.

Problemfeld Kommunalabwasser

Es wäre allerdings ungerecht zu behaupten, dass, wenn von der Wasser-Abwasser-Wirtschaft die Rede ist, die vergangenen Jahrzehnte im Einzugsgebiet der Oder (und im ganzen Land) komplett vergeudet worden wären. Das Problem ist sehr viel komplizierter. Nach dem Bericht der Obersten Kontrollkammer (Najwyższa Izba Kontroli – NIK) im Jahr 2015 zeitigten die Maßnahmen zur Reduzierung der Verschmutzung in den Gewässern des Oder-Einzugsgebietes Ergebnisse und führten zur Verringerung der Industrieabwässer und der kommunalen Abwässer – um zehn Prozent bei den Abwässern, die geklärt werden müssen, und um mehr als 13 Prozent bei den nicht geklärten Abwässern, die in die Gewässer des Oder-Einzugsgebietes eingeleitet wurden. In den Jahren 2010 bis 2013 stieg – von 45 auf 50 Prozent – auch die Abwassermenge, die in den Kläranlagen mit erhöhter Reinigungskapazität für biogene Substanzen gereinigt wurde, das heißt für Stickstoff und Phosphor, die für die verstärkte Algenblüte, die übermäßige Entwicklung von Wasserpflanzen sowie das massenhafte Fischsterben in der Oder verantwortlich sind. Zudem kam es zu einem systematischen Anstieg der Anzahl der Städte im Einzugsgebiet der Oder, die eigene Kläranlagen besitzen. Bereits im Jahr 2013 hatten fast alle Städte (381 von 385) im Einzugsgebiet eigene Kläranlagen, wovon 216 Kläranlagen mit erhöhter Reinigungskapazität für biogene Substanzen waren. Gleichzeitig stellte die NIK fest, dass eine Reihe zu spät getroffener Maßnahmen es nicht mehr erlaubte, bis zum Jahr 2015 (so die zeitliche Festlegung durch die EU-Wasserrahmenrichtlinie) eine deutliche Verbesserung des Zustandes des Oberflächenwassers zu erlangen. Das Ergebnis? Im Einzugsgebiet der Oder wiesen nur 21 Prozent der Flussgewässer und drei Prozent der Seen den in der Richtlinie geforderten guten Zustand auf. Alle vier kontrollierten Oberflächenwasser-Übergangsgebiete (das Stettiner Haff, der Kamminer Bodden, die Mündungen der Flüsse Dziwna und Świna) sowie vier Uferbereiche (der Flüsse Dziwna – Świna, Sarbinowo – Świna, Jarosławiec – Sarbinowo, Rowy – Jarosławiec West) wiesen als Allgemeinzustand Werte unterhalb des geforderten guten Zustandes auf.

Auf der einen Seite ist also eine Verbesserung zu sehen, auf der anderen Seite treten weitere Probleme auf. Die Europäische Kommission hat Polen im Jahr 2020 vorgehalten, dass 1.200 Siedlungsgebiete kein System zur Klärung von Kommunalabwasser haben und es in ca. 1.300 Siedlungsgebieten keiner angemessenen Reinigung unterzogen wird, bevor es wieder an den Empfänger abgeführt wird. "Polen gewährte in 426 Siedlungsgebieten keine strengere Klärung der Kommunalabwässer, die in das Entnahmesystem eingespeist und in empfindliche Bereiche abgeführt werden", schrieb die Europäische Kommission in einer Stellungnahme, in der sie Polen zur umgehenden Einführung von Verbesserungsmaßnahmen aufrief. Doch damit nicht genug: In den ländlichen Gebieten, die von 15 Millionen Menschen bewohnt werden, gibt es ca. 2,1 Millionen Abwassersammelgruben ohne Abfluss. Die Menge der dünnflüssigen Exkremente, die abgepumpt und zu Kläranlagen oder Sammelstationen gebracht wird, betrug 34,4 Hektokubikmeter jährlich. Bei einem durchschnittlichen Verbrauch von 50 bis 80 Liter Wasser pro Tag und Einwohner kann man überschlagen, wieviel Abwasser aus undichten Abwassersammelgruben versickert oder bei der Düngung der Felder oder Brachflächen eingesetzt wird. Allein in der Woiwodschaft Großpolen (województwo wielkopolskie), die im Einzugsgebiet der Oder liegt, belief sich die Differenz zwischen Wasserentnahme und geklärtem Abwasser im Jahr 2015 auf 78 Millionen Liter ungeklärtes Abwasser täglich.

Prof. Ryszard Błażejewski von der Naturwissenschaftlichen Universität in Posen (Uniwersytet Przyrodniczy w Poznaniu) zufolge würde beim jetzigen Tempo der Auflösung von Abwassersammelgruben erst im Jahr 2072 die Anzahl auf Null gehen. Dafür wären allerdings 52 bis 72 Milliarden Zloty notwendig. Aus Schätzungen des Ministeriums für Landwirtschaft und Entwicklung des ländlichen Raums ergibt sich dagegen, dass der Anschluss aller Einwohner der ländlichen Gebiete in Polen an die öffentliche Kanalisation den Bau von 39.400 Kilometer Kanalnetz sowie das Verlegen von ca. 623.000 Anschlüssen erforderlich machen würde. Die Kosten dieser Investitionen beliefen sich auf 7,1 bis 9,6 Milliarden Zloty. Die Kosten der vollständigen Regulierung der Wasser-Abwasser-Wirtschaft sind also gigantisch. Das bedeutet, Polen ist trotz der getätigten Anstrengungen immer noch löchrig wie ein Sieb.

Diesem Bild sei noch eine Information hinzugefügt: Vorsichtigen Schätzungen zufolge gelangt ungefähr die Hälfte des Stickstoffs und des Phosphors aus landwirtschaftlicher Nutzung in die Gewässer und anschließend in die Ostsee. Was hat das mit der Oder gemeinsam? Beide Stoffe sind ein stark biogener Faktor und verantwortlich für die Eutrophierung. Mit anderen Worten: Sie begünstigen das Pflanzenwachstum, inklusive Algenwachstum. Unterdessen stieg in den letzten Jahren in Polen die Anwendung von Mineraldünger. Nach aktuellen Daten der Allgemeinen Landwirtschaftlichen Abfrage (Powszechny Spis Rolny) war der Verbrauch von Mineraldünger von Juni 2019 bis Juni 2020 um 10,2 Prozent höher als im Jahr 2010 und betrug 1,951 Millionen Tonnen. Den höchsten Verbrauch hatten die Bauern der Woiwodschaften im Einzugsgebiet der Oder, also der Woiwodschaft Oppeln (woj. opolskie), Großpolen und Niederschlesien (woj. dolnośląskie).

Problemfeld Umweltrecht

Die Oder ist nicht der erste polnische Fluss, bei dem es in den vergangenen Jahren zur Katastrophe kam, allerdings zeigte sie sich hier in einem beispiellosen Ausmaß. In den letzten Jahren floss in verschiedenen Teilen des Landes vergiftetes Wasser, u. a. in der Weichsel, dem Ner, der Mottlau, der Supraśl, der Liśnica, der Bzura und der Barycza. Jedes Mal war das Einwirken des Menschen die unmittelbare Ursache: Abwässer aus Schlachtungen, die auf die Felder ausgebracht wurden, ins Wasser eingeleitete Pestizide, Schäden an Abwassersammelrohren. Die Umweltbedingungen – vor allem die Hitze und der niedrige Wasserstand – bewirken, dass sogar geringe Verschmutzungen einen Fluss für viele Jahre zerstören können. Wichtig ist, dass an einigen dieser Flüsse Ertüchtigungsmaßnahmen durchgeführt wurden, beispielsweise Entschlammung, Vertiefung und Begradigung des Flussbettes. Der Ner ist ein Fluss mittlerer Größe und von ca. 130 Kilometer Länge, der durch die Woiwodschaften Großpolen und Lodz (woj. łódzkie) fließt. Manche seiner sumpfigen Wiesen waren ein Paradies für Vögel. Im Herbst 2007 fuhren Bagger in das Flussbett. Der Grund wurde an einigen Abschnitten um 1,5 Meter ausgehoben. Das Wasserniveau sank und gleichzeitig flüchtete Hals über Kopf die Vogelpopulation, die am Fluss brütete. 2008 war die Stärke der 29 Sumpfvogelarten durchschnittlich um die Hälfte reduziert. Vollständige Verluste gab es beim Haubentaucher, Schwarzhalstaucher, Tüpfelsumpfhuhn, der Lachmöwe, der Weißbart-Seeschwalbe und der Trauerseeschwalbe. Und ein gerader, regulierter Fluss ohne Schilf und Mäander ist ein Fluss mit einer deutlich geringeren Möglichkeit der Selbstreinigung.

Wie Umweltverbrechen behandelt werden, belegt eine Geschichte aus Posen (Poznań). Im Jahr 2015 schütteten Arbeiter des Unternehmens BROS in einen Abwassergully giftige Substanzen, die der Herstellung von Bioziden dienten. Sie gelangten in die Warthe und töteten mindestens 20 Tonnen Fische. Es brauchte sieben Jahre, bis der mutmaßliche Täter vor Gericht gestellt wurde.

Betrachten wir eine der Schlüsselfragen im polnischen Wasserschutzsystem, die Qualität des Rechtes. Das Recht ist schwach und schwer durchsetzbar. Die Woiwodschafts-Aufsichtsstellen für Umweltschutz (Wojewódzki Inspektorat Ochrony Środowiska) klagen über zu wenige Stellen, was das konsequente Monitoring des Zustandes der Flüsse unmöglich macht. Noch während der Oder-Katastrophe sagte Anna Moskwa, Ministerin für Klima und Umwelt, der die Aufsichtsstellen für Umweltschutz unterstehen, zwar zu, dass die Regierung 250 Millionen Zloty für Monitoring- und Forschungsstationen investieren werde. Experten machen aber auf Lücken im polnischen Recht aufmerksam. So geben beispielsweise die Behörden eine wasserrechtliche Genehmigung auf der Grundlage einer Erklärung aus und nicht aufgrund dessen, was der Betrieb tatsächlich ins Wasser einleitet. Eine zusätzliche Einleitung von Abwässern oder sogar die regelmäßige Überschreitung der Grenzwerte ist daher sehr schwer nachzuweisen. Es ist also sehr gut möglich, dass, sogar wenn ein Industrie- oder Bergbauunternehmen die Oder vergiftet hat, es ungestraft davonkommt. Die langjährigen, uralten Schwächen der Qualitätskontrollen beim Wasser wurden erst bei der Suche nach Schuldigen für die Oder-Katastrophe allmählich aufgedeckt. So erfuhr zum Beispiel die Öffentlichkeit, dass kein Betrieb und keine Stadt (außer Posen) ein ständiges Abwasser-Monitoring durchführt. Das der illegalen Abwassereinleitung verdächtigte Rüstungsunternehmen Bumar-Łabędy gab bekannt, dass die Tätigkeit der Fabrik hinsichtlich der Parameter der eingeleiteten Abwässer alle zwei Monate kontrolliert wird. Eine Überprüfung, ob das Papier produzierende Unternehmen Jack-Pol oder die Stickstoff-Fabrik in Kędzierzyn-Koźle illegale Einleitungen durchführten, ist praktisch unmöglich. Auch Strafmandate haben keine abschreckende Wirkung: Die Höchststrafe für die illegale Abwassereinleitung beträgt 10.000 Zloty (ca. 2.000 Euro). Das ist wenig. Es ist also nicht verwunderlich, dass nach der Katastrophe die für die Gewässerverwaltung verantwortliche Staatliche Wasserwirtschaft Polnische Gewässer (Państwowe Gospodarstwo Wodne Wody Polskie) im ganzen Land auf mehr als 1.400 illegale Einleitungen kam, wovon 280 im Einzugsgebiet der Oder festgestellt wurden.

Empfehlungen der Polnischen Akademie der Wissenschaften

Der Ablauf der Oder-Katastrophe könnte also so ausgesehen haben: Trotz langanhaltender Trockenheit und sinkenden Wasserspiegels wurden in die Oder weiterhin – und in Übereinstimmung mit den wasserrechtlichen Genehmigungen – Abwässer und Salze eingeleitet, was bedeutet, dass die Benennung von Schuldigen nicht möglich ist. Hinzu kommen Dünger von den Feldern und Abwasser aus den Haushalten. So kam es vielleicht zu einem chemischen Cocktail und einer Verkettung von Umständen, die der Fluss nicht imstande war zu tragen.

Im polnischen Wassersystem sind die Abwassereinleitungen nicht an die aktuellen Wetterbedingungen und den tatsächlichen Durchfluss angepasst, sondern richten sich nach einem Mittelwert. Anders ausgedrückt: Obwohl die Oder immer weniger Wasser führte, konnten die Unternehmen und die Betriebe der Kommunalwirtschaft rechtskonform so viel Verschmutzung in die Oder einleiten wie bei mittlerem Wasserstand. Hinzu kommt, dass ein Alarmsystem nicht wirksam werden konnte, weil es de facto nicht existiert. Indessen müsste die einzige mögliche Lösung in einer solchen Situation sein, die Einleitung von Abwasser und Salzen in die Oder und ihre Zuflüsse einzustellen.

So war es aber nicht.

Welche Empfehlungen gaben die Experten der Polnischen Akademie der Wissenschaften nach der Katastrophe? Sie scheinen ziemlich selbstverständlich, sind es aber keineswegs, wenn man berücksichtigt, wie stark der politische und gesellschaftliche Druck ist, der auf die Flüsse ausgeübt wird. Empfohlen wird:

  • die Erhöhung der gesellschaftlichen Kontrolle über die Wasserwirtschaft, dazu gehört die Aufnahme klarer Regeln für die institutionelle Verantwortung für getroffene Entscheidungen bzw. deren Fehlen;

  • der Verzicht auf die Pläne zur Entwicklung der Binnenschifffahrt zugunsten der Realisierung und Erweiterung des Landesprogramms für die Renaturierung der Oberflächengewässer (Krajowy Program Renaturyzacji Wód Powierzchniowych);

  • die Einrichtung eines Sonderprogramms für Forschung und Umsetzung, das sich nicht nur mit der Wiederbelebung der Oder befasst, sondern auch mit der Verhinderung ähnlicher Katastrophen in der Oder und anderen polnischen Flüssen in der Zukunft;

  • die Einberufung einer (politisch) unabhängigen Gruppe, die aus Wissenschaftlern, Experten und Nichtregierungsorganisationen zusammengesetzt ist und sich mit der Ausarbeitung einer sich anpassenden Wasserpolitik in Polen befasst.

Wenn die polnischen Politiker keine Konsequenzen aus der Oder-Katastrophe ziehen, können wir schon jetzt anfangen, die Tage bis zur nächsten abzustreichen. Die Hitze wird von Jahr zu Jahr steigen und der Wasserstand in den Flüssen sinken. Momentan verursacht das Fehlen eines wirksamen Kontroll- und Alarmsystems, dass eine Wiederholung einer Katastrophe wie an der Oder nur eine Frage der Zeit zu sein scheint.

Übersetzung aus dem Polnischen: Silke Plate

Fussnoten

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Michał Olszewski – Schriftsteller, Chefredakteur der Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" in Krakau (Kraków), beobachtet und analysiert ökologische Themen seit über 20 Jahren.