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Rassismus. Zur Geschichte eines Begriffs

Manuela Bojadzijev

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Die Geschichte des Begriffs Rassismus hat in den letzten rund 100 Jahren eine Reihe von Wendungen genommen. Hier ist diese Geschichte bis heute nicht besonders gut erforscht. Das beginnt sich allmählich zu ändern.

Demonstration gegen Rassismus vor dem Karlsruher Schlossplatz am 06.06.2020. (© picture-alliance, Oliver Hurst)

1938 erschien in England „Racism“, das Buch des drei Jahre zuvor verstorbenen Berliner Arztes und Sexualforschers Magnus Hirschfeld (1868-1935) und Leiter des Berliner Instituts für Sexualwissenschaft. Hirschfeld hatte es im Exil geschrieben, nachdem er Deutschland 1930 für eine längere Reise verlassen hatte und aus Sicherheitsgründen nicht mehr zurückkehrt war. Zu diesem Zeitpunkt waren seine öffentlichen Vorträge bereits seit langer Zeit von Nationalsozialisten gestört und tätlich angegriffen worden, da Hirschfeld für die nationalsozialistischen Demagogen ein besonderes Feindbild darstellte (vgl. Herrn 2022, insbes. 445ff.). Das Besondere an seinem posthum erschienenen Buch: Es war das erste, das den Begriff Rassismus im Titel trug.

Mit „Racism“ beginnt ein neuer Abschnitt in der Begriffsgeschichte, die seither eine Reihe erstaunlicher Wendungen genommen hat. Allerdings ist diese Geschichte hierzulande nicht besonders gut erforscht, was angesichts der gegenwärtig breiten öffentlichen Debatte über Rassismus zunächst erstaunt. Es erklärt sich aber dadurch, dass die seit den 1980er Jahren in Deutschland entstandene kritische Rassismusforschung jahrzehntelang ein randständiges Dasein fristete und kaum gefördert wurde. Der Rassismusbegriff stand nämlich unter dem Generalverdacht, etwas zu politisieren, was es in Deutschland eigentlich nicht (mehr) geben sollte: Rassismus. Bezeichnend ist daher auch, dass Hirschfelds Buch bis heute nicht auf Deutsch veröffentlicht wurde.

Als „Racism“ erschien, war das Wort „Rasse“ schon seit Jahrzehnten in Gebrauch. Die damit verbundenen Interner Link: Vorstellungen von höher- und minderwertigen, in jedem Falle biologisch existierenden Rassen, bestanden ebenso lange. Allerdings bezeichneten sich die Vertreter eines solchen klassifikatorischen Rassismus erst seit dem späten 19. Jahrhundert selbst als Rassisten. Warum das gerade zu diesem historischen Zeitpunkt geschah, ist noch nicht erforscht.

Der Begriff Rassismus verbreitete sich in Europa Ende des 19. und Anfang der 20. Jahrhunderts zunächst vor allem dort, wo sich die pseudowissenschaftliche Einteilung von Menschen in Rassen mit einer Politik verband, die sich selbst als rassistisch bezeichnete und entsprechende Vorstellungen propagierte. So versuchten etwa in Italien eine Reihe von Intellektuellen wie Giulio Cogni (1908-1983), Julius Evola (1898-1974), Guido Landra (1913-1980) oder Cesare Lombroso (1835-1909) im Zuge des Aufstiegs des Interner Link: Mussolini-Faschismus eine italienische „Rasse“ als privilegierte und auch innerhalb Europas auserwählte zu etablieren. In ihrem bekennenden Rassismus wird deutlich, welche Bezüge sich in rassistischen Diskursen vermischen und welche Dimensionen bei Rassismus eine zentrale Rolle spielen können: So ging es besagten Intellektuellen etwa ausdrücklich um die Abwehr der „eigenen Rasse“ gegen die „anderen Rassen“, was sich seit jeher mit der Abwertung angeblich degenerierter Gruppen innerhalb der eigenen Gesellschaft artikuliert. Dazu zählten mal mehr, mal weniger, mal eher vorder-, mal eher hintergründig die unteren Klassen, die südlichen oder östlichen „Völker“, die Delinquenten, die „Ungläubigen“ oder die sexuell Abweichenden. In der rassistischen Vorstellung – und das lässt sich konzeptionell formulieren – muss sich die „eigene Rasse“ nämlich stets verfeinern und darf sich nicht mit den vermeintlich Minderwertigen vermischen (was wiederum stark an den Interner Link: Antisemitismus erinnert).

Da das Rassedenken in Lehre und Praxis den gemeinsamen Nenner des Interner Link: Rassismus bildet, erstaunt es nicht, dass das eingangs erwähnte Buch „Racism“ von Magnus Hirschfeld mit dem Kapitel „Origin of German Racism“ beginnt. Dort widerlegt er die nationalsozialistische Rassenlehre und empfiehlt im Anschluss, da die Vorstellung von Rassen auf Menschen nicht anwendbar ist, die Streichung des Wortes „Rasse“, „wenn es machbar wäre“ – oder, wenn es schon verwendet werde, zumindest mit Anführungszeichen zu versehen, um zu zeigen, dass es fragwürdig ist (vgl. ebd., 57).

Neben der im Rassismus typischen Differenzierung nach innen, d.h. der Einteilung des Menschen in Gruppen, gibt es auch die Konkurrenz unterschiedlicher Rassenkonzepte nach außen. So verbanden die jeweiligen Vertreter und die ihnen verbundenen populären Bewegungen ihr Rassedenken mit einer jeweils nationalistischen Komponente („Deutsche“, „Franzosen“, „Italiener“ usw.), in der die „eigene Rasse“ angeblich gelebt wird – und glaubten fest an die Differenzierung und Hierarchisierung von Menschen in Rassen. Bis in die Gegenwart reichende kulturalistische Erzählungen über „ethnische Unterschiede“ (beispielsweise im Interner Link: Ethnopluralismus) knüpfen an diese Differenzierung im Übrigen an: über eine kollektive Identität, die sich über Sprache, Geschichte, Kultur, oder auch Religion ausdrückt und, eine weitere häufige Komponente, meist als Zugehörigkeit zu einem bestimmten Territorium gedacht wird.

Die Einteilung von Menschen in „Rassen“ und die damit verbundenen Klassifikationssysteme, die immer auch Behauptungen über die Vererbung vermeintlich unveränderlicher Eigenschaften enthielten, sind mit der europäischen Expansion im Zuge von Imperialismus und Kolonialismus verbunden. In Italien war dies beispielsweise nach der Besetzung Äthiopiens durch italienische Truppen 1935/36 der Fall. So wurden die italienischen Rassengesetze vom faschistischen Staat im November 1938 erlassen und richteten sich vor allem gegen die italienischen Juden, diskriminierten aber auch die Bevölkerung in den italienischen Kolonien in Libyen, Äthiopien, auf den Dodekanes-Inseln und in der Konzession von Tianjin in China. Die Rassisten in Europa verstanden sich als zivilisationslogischer Gegensatz zu dem, was beispielsweise als das „Orientalische“, der „Orient“ abgewertet wurde.

Das institutionalisierte Zusammenspiel zwischen Antisemitismus und Rassismus wiederum gipfelte in der Interner Link: Vernichtungspolitik der deutschen Nationalsozialisten. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die historisch frühen globalen Resonanzen des Rassedenkens: wie der Historiker James Q. Whitman in „Hitler’s American Model“ (2017) gezeigt hat, nahmen die Interner Link: Nürnberger Rassegesetze der Nationalsozialisten Anleihen bei der amerikanischen Rassenpolitik, der Segregations- und Blutpolitik der Jim-Crow-Gesetze (die im Wesentlichen auf politischer Entmündigung, Ausbeutung und Segregation beruhten) speziell in den US-amerikanischen Südstaaten, die nach der Interner Link: Abschaffung der Sklaverei 1865 ab 1877 noch bis 1964 in Kraft waren.

„Rasse existiert nicht.“ (Colette Guillaumin)

Affirmativ von Rassismus zu sprechen, also in einer positiven Bezugnahme auf Rassismus durch selbsternannte Rassisten, war nach dem Zweiten Weltkrieg und der Niederlage des Nationalsozialismus und Faschismus nicht mehr offen möglich. Der Begriff „Rassismus“ erfuhr eine politische Wandlung und wurde nun, wie bei Hirschfeld, vor allem kritisch verwendet. Parallel dazu begannen die Interner Link: antikolonialen Bewegungen weltweit zu erstarken, die Interner Link: Befreiungsbewegungen errangen einen unabhängigen Staat nach dem anderen. In Folge mehrerer Initiativen Externer Link: beauftragte die UNESCO 1950 und 1951 eine interdisziplinäre, internationale Gruppe von Wissenschaftler:innen damit, ein Programm zur Bekämpfung von Rassismus zu entwerfen (vgl. UNESCO 1956). In ihrer Erklärung über Rassenfragen wendeten sie sich gegen die Anwendung des Begriffs „Rasse“ auf Menschen und lehnten den Rassenbegriff offiziell als unwissenschaftlich ab. 1965 wurde die Externer Link: UN-Konvention gegen Rassismus von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet, am 4. Januar 1969 trat sie in Kraft und wurde damit völkerrechtlich verbindlich. Als einer der wenigen Staaten widersetzte sich Südafrika mit seinem Interner Link: Apartheidregime bis Ende der 1980er Jahre dieser antirassistischen Institutionalisierung.

Bis heute bleibt diese UN-Initiative jedoch relevant. Die Ablehnung des Rassebegriffs wurde wiederholt wissenschaftlich bestätigt und bekräftigt, zuletzt 2019 in der Externer Link: „Jenaer Erklärung“ der Deutschen Zoologischen Gesellschaft. Ihr Untertitel „Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung“ bringt das Argument auf den Punkt. So sprechen von „Rasse“ heute nur wenige, und inzwischen steht auch die Interner Link: Streichung des Begriffs aus dem Grundgesetz auf der Tagesordnung. Die Begriffsdefinition von Rassismus, das lässt sich an diesen politischen Umsetzungen durch die UNO wie auch den wissenschaftlich immer wieder verifizierten Befunden erkennen, ist aber in den politischen und intellektuellen Projekten umkämpft. Das hat mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis zu tun. Denn: Was wir unter Rassismus verstehen, hat Folgen dafür, wie wir Rassismus für bekämpfbar halten und welche anti-rassistischen Horizonte wir gesellschaftlich für möglich und nötig halten.

“Rasse existiert nicht. Aber sie tötet Menschen.“ (Colette Guillaumin)

Wenn die Idee der „Rasse“ widerlegt ist, weil weder die natur- noch die sozialwissenschaftliche Forschung eine Substanz für ihre Existenz finden kann, warum verschwindet dann aber der Rassismus nicht? Der antikoloniale Autor, Psychiater und Revolutionär Interner Link: Frantz Fanon war 1956 einer der ersten, der auf diese Frage eine vorläufige Antwort lieferte. In seinem Vortrag „Rassismus und Kultur“ auf dem Ersten Kongress schwarzer Schriftsteller und Künstler in Paris stellte er fest: „Der Rassismus konnte nicht verknöchern. Er bedurfte der Erneuerung, der Nuancierung, der Veränderung der Physiognomie. (…) Der Rassismus, der sich rational, individuell, genotypisch und phänotypisch determiniert gibt, verwandelt sich in einen kulturellen Rassismus.“ (Fanon 2022, 45) Mit Fanons treffender Beobachtung ist keine historische Ablösung des einen (etwa des biologischen) Rassismus durch einen anderen (etwa des kulturalistischen) Rassismus zu diagnostizieren – sondern eine konzeptuelle Erneuerung zu erkennen.

Dass mit der Diskreditierung (wohlgemerkt aber nicht dem Ende) des biologischen Rassenkonzepts der Rassismus seine Gestalt veränderte und wie Fanon schreibt, nicht verknöcherte, sondern sich erneuerte, hat die französische, feministische Ethnologin und Psychologin Colette Guillaumin dann in den 1970er Jahren näher untersucht. So schreibt sie in ihrem Buch: “Rasse existiert nicht. Aber sie tötet Menschen.“ Guillaumin begreift Rassismus als eine soziale Tatsache und entwickelt zur Erklärung beständig anhaltender rassistischer Verhältnisse das Konzept der „Rassifizierung“. Darunter versteht sie einen politischen und sozialen Prozess, in dem „Rassen“ und rassistisches Wissen erst entstehen. Dabei werden in sozialen Beziehungen zwischen Menschen biologischen, kulturellen, symbolischen, geistigen oder soziologischen Merkmalen Bedeutungen zugewiesen und derart strukturiert, dass unterscheidbare soziale Kollektive definiert und konstruiert werden. Rassistische Markierungen wie die Hautfarbe (die erst objektiviert werden muss), Schädelgröße (die erst vermessen werden muss), sprachliche Besonderheiten (die erst unterschieden werden müssen) oder bestimmte Kleidungsstile (die erst hervorgehoben werden müssen) usw. werden im Nachhinein herangezogen, um die Unterschiede von rassistisch konstituierten Gruppen zu bestimmen. Sie „erklären“ uns immer wieder, wer wir sind, wo wir dazu- und hingehören, und wo wir sozial im Verhältnis zueinanderstehen. Zum Teil wird das auch mit Gewalt durchgesetzt und gelebt.

Ein historisches Beispiel sind die bereits erwähnten Jim Crow-Gesetze in den USA, die Rassentrennung im öffentlichen Raum festschrieben - und beispielsweise regelten, wer etwa neben wem in einem Bus oder auf einer Parkbank sitzen durfte. Diese Gesetze operierten noch mit einer klaren Rassendifferenzierung. Als der Begriff der Rasse als objektive Tatsache dann aber weitgehend aus dem öffentlichen Leben verbannt wurde, bildeten sich neue institutionelle Segregationsweisen. Die Rechtswissenschaftlerin Michelle Alexander etwa sieht in der Masseninhaftierung von Schwarzen in den USA im Zuge von Kriminalitätsbekämpfung eine historische Kontinuität zu der in der Jim Crow-Ära rechtlich verankerten Segregation. So waren Externer Link: laut einer Studie Ende 2021 Schwarze Amerikaner in staatlichen Gefängnissen fast fünfmal so häufig inhaftiert wie weiße, landesweit verbüßt einer von 81 schwarzen Erwachsenen eine Haftstrafe in einem staatlichen Gefängnis; in 12 Staaten war mehr als die Hälfte der Gefängnisinsassen schwarz, in sieben Staaten war das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen größer als 9 zu 1.

Theoretische und praktisch-politische Anstrengungen haben zwar zu einem Verschwinden des Wortes „Rasse“ beigetragen, aber Guillaumin stellt fest: „Wenn das Wort selbst („Rasse“; MB) zu verschwinden tendiert, (…) so ist doch das Wahrnehmungsfeld („Rassismus“; MB), an das es appelliert, das, was es bezeichnet, in keiner Weise überlebt, der Sinn ist in keiner Weise beseitigt.“ (Guillaumin 1989, 80). Wenn sich aber kaum jemand mehr zum Rassismus offen bekennt und das Rassedenken widerlegt ist, verschwindet dann auch die Beweislast: dann verschwindet nicht mehr nur das Wort „Rasse“, sondern auch das Wort „Rassismus“.

Rassismus existiert nicht.

Das war insbesondere in Deutschland der Fall. So beschrieb 1992 in der Einleitung, die Alex Demirovic geschrieben hat, zu einem Forschungsüberblick das Frankfurter Institut für Sozialforschung: „Der Einbürgerung des Begriffes Rassismus in einer allgemeineren Bedeutung, wie ihn RassismusforscherInnen international diskutieren, wird die spezifische Verwendung der biologisch begründeten Rassenideologie zur Selektion und Vernichtung von Millionen Menschen im Nationalsozialismus entgegengestellt“ (Institut für Sozialforschung 1992, 13) Der Begriff Rassismus, so die Befürchtung, wecke auch die Vorstellung der Rassen- und Vernichtungspolitik im nationalsozialistischen Deutschland, die zu Recht der Vergangenheit angehören sollte.

Alternative Begriffe wurden der bestehenden rassistischen Realität, dem offensichtlichen Fortwirken von Rassismus und Antisemitismus – man denke allein an die Welle Interner Link: rechter Gewalt in den 1990er Jahren – allerdings nicht gerecht. So sind die lange Zeit in der Migrationssoziologie, aber auch in der Öffentlichkeit verwendeten Begriffe Interner Link: Fremdenfeindlichkeit und Ausländerfeindlichkeit unzureichend und teils problematisch. Sie suggerieren nämlich eine Art menschlicher Grundtendenz zur Feindseligkeit und zu Vorurteilen gegenüber Fremden. Aber wer sind diese Fremden? Woher kommen sie? Wer oder was ist wann „fremd“? Wenn von „Fremdenfeindlichkeit“ die Rede ist, wiederholt sich zudem das Analyseschema staatlicher Einwanderungsnormen: Die Fremden sind eingewandert. Es erklärt aber nicht, warum die Zugewanderten hierarchisierend unterschiedlich wahrgenommen und behandelt werden - und ihre hier geborenen Kinder und Enkel weiterhin als „Fremde“ wahrgenommen und behandelt werden. Darüber hinaus wird auf diese Weise die Diskriminierungspraxis selbst rationalisiert: Weil sie hier sind, wird individuell oder kollektiv feindselig reagiert. Diese Erklärung setzt also Rassismus nicht nur voraus, sondern erklärt ihn gleichsam auch für rational.

Auch Konzepte aus einer kritischen Tradition, wie das von Wilhelm Heitmeyer Anfang der 2000er Jahre entwickelte und bis in die aktuellen politischen Debatten hinein beachtete „Syndrom der Interner Link: gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“, können mit Blick auf Rassismus nicht wirklich überzeugen. Kurz gesagt: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit liegt immer dann vor, wenn Menschen aufgrund eines oft einzigen gemeinsamen Merkmals in Gruppen eingeteilt, abgewertet und ausgegrenzt werden. Abgesehen davon, dass auch dieser Begriff eine psychologische Disposition zur Feindseligkeitsbereitschaft voraussetzt, wird hier – entgegen des komplexere Dimensionen berücksichtigenden Konzepts der Rassifizierung – nicht mehr als eine sehr allgemeine und verallgemeinernde Gruppentheorie formuliert. Mit dem Konzept der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit versteht man das Spezifische des Rassismus gar nicht mehr. Er wird zu etwas übermäßig Allgemeinem und konkret Unfassbarem, das wie automatisch Gruppen produziert und unterwirft. Die Betonung der subjektiven Wahrnehmung von Unterschieden zwischen Individuen und Gruppen gerät so zur Ursache für Ablehnung, Hierarchisierung und Vorrangigkeit – und führt derart in einer Art „Realismus“, für den soziale Konstruktionen einfach empirische Tatsachen sind. Ausgrenzung wird mit vermeintlichen Gruppenunterschieden erklärt. Gruppen existieren jedoch nicht sui generis, d.h. aus sich selbst heraus. Unterscheidungen, so lässt sich zeigen, führen nicht notwendigerweise zu eindeutigen Grenzziehungen. Die Gefahr besteht gerade darin, von etwas auszugehen, das selbst erklärungsbedürftig ist, und damit zentralen Fragen auszuweichen: Wie entstehen Gruppen und werden als solche wirksam? Gründen sie auf erblicher Zusammengehörigkeit? Sind sie evident? Wann und wie werden welche Unterscheidungsmerkmale und Attribute relevant, wann verlieren sie ggf. wieder an Relevanz? So kann es sein, dass bei hier eingewanderten Menschen über die Jahre Religion keine wichtige Rolle mehr in ihrem Alltag spielt, während die Sprache als Unterscheidungsmerkmal zu anderen phantasmatischen Merkmalen hinzutritt. Für eine grundsätzliche Rassismuskritik bedarf es vielmehr eines spezifischen Blicks auf die historischen Entwicklungen, auf die komplexen Funktions- und Wirkungsweisen sowie vielfältigen Ausdrucksformen von Rassismus.

Rassismus existiert nicht. Aber er tötet Menschen.

Aber noch einmal: Wenn Rassismus eigentlich nicht mehr existiert, alternative Begriffe aber auch nicht überzeugen, warum tötet er weiter Menschen, um es in Abwandlung zu Guillaumin zu sagen? Das wirft die Frage nach den konstitutiven Grundlagen des Rassismus auf, weshalb die kritische Rassismusforschung auch bis heute am Rassismusbegriff festhält – weil er erklärungsbedürftig bleibt. So wurden Begriffe wie "kultureller Rassismus", "differenzieller Rassismus" oder gar die paradoxe Figur eines "Rassismus ohne Rassen" eingeführt.

Die Aufmerksamkeit in Deutschland für diese sich verändernden Betrachtungsweisen eröffnete vor allem die Rezeption des Buches „Rasse – Klasse – Nation. Ambivalente Identitäten“ von Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein Anfang der 1990er Jahre. In dem Aufsatz „Gibt es einen Neo-Rassismus?“ fragt Balibar nicht nur nach den Veränderungen innerhalb der Theorien, die den Rassismus legitimieren und „rationalisieren“, er untersucht auch die politischen Situationen, in denen solche Theorien überhaupt „greifen“, gelebt und historisch relevant werden, in der sie Hegemonie erlangen (vgl. Balibar 1992, 27). Demzufolge ist Rassismus in ein Feld mit vielfältigen Praxisformen und Diskursen eingebettet, er wird institutionell ausgearbeitet und reproduziert. Er organisiert Stimmungen und Gefühle, von Ablehnung und Hass, von Ekel und Angst. Er stereotypisiert zugleich seine Objekte wie auch seine Subjekte bzw. grenzt das Eigene vom Anderen ab, definiert über die Abgrenzung aber beide. Dies erklärt sowohl die Herausbildung einer rassistischen Gemeinschaft als auch, „wie die Individuen und Kollektive, die dem Rassismus ausgesetzt sind (also dessen ‘Objekte’), sich selbst als Gemeinschaft wahrnehmen“ (ebd. 24).

Balibar spitzt die Fragestellung zu und spricht von einem „Rassismus ohne Rassen“. Das führte zu einer zentralen Wende in den Untersuchungen des Rassismus und zu einem neuen Begriff, nämlich dem des Neo- oder des kulturellen Rassismus: Kritische Rassismusforschung geht damit nicht von einer in Rassen geteilten Menschheit aus, sondern untersucht nun die tendenzielle Projektion eines Rassenrasters auf die menschliche Geschichte und Gegenwart, die Reduktion menschlicher Verschiedenheit auf das fixe und imaginäre Muster permanenter Rassenunterschiede, die als ursprünglich, natürlich und erblich angesehen werden. Mit anderen Worten: sie untersucht konkret, was „sozial konstruiert“ bedeutet, wie Rassifizierung geschieht, und beschränkt sich nicht in einem vereinfachten „Gruppenrealismus“ auf das schlichte Postulat der Konstruiertheit. Denn erklärungsbedürftig bleibt, welche gesellschaftlichen Verhältnisse, welche Diskurse, Institutionen und welche Gewalt dazu beitragen, dass der Rassismus „nicht verknöchert“, sondern sich derart erneuert, dass ein Nachweis mehr erfordert als den Nachweis „rassistischer Diskriminierung“.

In der aktuellen Debatte, vor allem und verstärkt im Kontext administrativer Rationalitäten, tritt der Diskriminierungsbegriff gegenüber dem Rassismusbegriff in den Vordergrund und die Definition von Opfergruppen nimmt einen breiten Raum ein. Damit verbunden sind politische Gefahren der Reproduktion und Produktion von Gruppen. Da eher selbstreferentiell über Gruppen als über Rassismus gesprochen wird, tendiert dies auch dazu, die Lösung bei den Gruppen als Opfern zu suchen, während Solidarität weniger im Vordergrund steht. Damit einher geht die Ausdifferenzierung von Begriffen wie antimuslimischer Rassismus, antislawischer Rassismus, antimigrantischer Rassismus, antiasiatischer Rassismus, anti-schwarzer Rassismus etc. Auch der Begriff des antideutschen Rassismus ist nicht weit entfernt.

Eine weitere Gefahr ist konzeptioneller Natur, die immer wieder in Differenztheorien entwickelt wurde. Die Gruppenkategorien variieren in ihrer Größe, bleiben mal groß und vage (antiasiatischer Rassismus), mal diffundieren sie und führen zu einer Logik der Konkurrenz oder der Durchsetzung eines Gruppenopferstatus. Dies hat sicherlich mit Anerkennungs- und Repräsentationsbestrebungen zu tun, deren antirassistische Kraft zumindest fraglich ist und diskutiert werden sollte. Immer mehr von Rassismus betroffene Gruppen müssen registriert werden, und wie aktuell und spezifisch oder wie dominant sie sind – also Fragen der Gewichtung, Fragen der historischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten und der größeren Zusammenhänge – verlieren sich tendenziell.

Damit verbunden ist die systematische Schwierigkeit, dass mit dem Diskriminierungsbegriff ein Instrument geschaffen wurde, das mit der Aufzählung von immer mehr Gruppen begriffliche Quasi-Äquivalente suggeriert, die die spezifischen Kontexte, in denen Rassismus in seiner gesellschaftspolitisch komplexen Wirkungsweise, die diese Gruppen erst hervorbringt, de-thematisiert. Dies ist politisch riskant, weil damit Rassismus mit groben, an der Oberfläche operierenden Instrumenten begegnet wird.

So zielte etwa auch Guillaumins Verständnis von Rassismus auf konkret benennbare und empirisch untersuchbare Phänomene und Praktiken, in denen rassistische Beziehungen und Mechanismen zum Tragen kommen: etwa die Aufrechterhaltung kolonialer Beziehungen, Enteignungspraktiken, eingeschränkte Zugänge zu Ressourcen und Chancen, geringere Entlohnung, Einwanderungs-/Asylpolitiken und Staatsbürgerschaftskonzepte, beabsichtigte und unbeabsichtigte Folgen wohlfahrtsstaatlicher Politiken, normative Dimensionen des Eigenen und Fremden, oder gesellschaftliche Diskurse, die vermeintlich bestimmten Gruppen zugehörige Menschen als „wertlos“ bezeichnen. Mit dem Blick auf derartige Phänomene und Praktiken lässt sich untersuchen, welche ökonomischen, kulturellen, sozialen, politischen und normativen Beziehungen der Konstruktion von Rassendenken zugrunde liegen; ebenso welche Auswirkungen diese Hierarchisierungen auf die Definition sozialer Gruppen und ihr alltägliches Zusammenleben haben. Für den Rassismusbegriff hat dies auch den Vorteil, dass die Veränderbarkeit von Rassismus denk- und analysierbar wird.

Rassismus ist also vielschichtig, bedient sich verschiedener Aspekte und Bezüge, die real oder imaginär sein können und selten besonders kohärent auftreten. Diese greifen aber immer auf ein Rassedenken zurück, selbst wenn sie den Rassebegriff „hinter sich gelassen“ haben. Es gibt nicht den einen Rassismus, sondern er entwickelt sich historisch und lokal unterschiedlich in seinen Erscheinungsformen und Institutionen, aber auch in seiner spezifischen Gewalttätigkeit. Das erklärt auch, warum antikoloniale, antifaschistische, antirassistische, feministische, queere und linke Positionen ihre Kritik unterschiedlich akzentuieren. Heute treffen in einer sich globalisierenden Welt unterschiedliche rassistische Praktiken und Vorstellungen aufeinander - und damit auch unterschiedliche antirassistische Ansätze. Oder anders: Es spielt eine wichtige Rolle für den Begriff von Rassismus, wie wir ihn erklären und wie wir erklären, wie er sich verändert. Um gerade auf diese Weise seine Fähigkeit zur Wandlung entscheidend stören und ihn im besten Falle beenden zu können.

Quellen / Literatur

Guillaumin, Colette (1989): Die Bedeutung des Begriffs »Rasse«. In: Institut für Migrations- und Rassismusforschung (Hrsg.): Migration und Rassismus in Europa. Argument: Hamburg, 77-87.

Fanon, Frantz (1922/1972): „Rassismus und Kultur“, in: ders.: Für eine afrikanische Revolution, Politische Schriften. März, 45-64.

Herrn, Rainer (2022): Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft 1919-1933. Suhrkamp: Berlin.

Hirschfeld, Magnus (1938): Racism. Victor Gollancz Ltd.: London.

Institut für Sozialforschung (Hrsg.) (1992): Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Studien zur aktuellen Entwicklung. Frankfurt am Main.

Whitman, James Q. (2017): Hitler’s American Model. The United States and the Making of Nazi Race Law. Princeton NJ: Princeton University Press.

Fussnoten

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Dr. Manuela Bojadžijev ist Professorin am Institut für Europäische Ethnologie und leitet die Abteilung "Soziale Netzwerke und kulturelle Lebensstile" des Berliner Instituts für Migrationsforschung (BIM) der Humboldt-Universität zu Berlin. Migrations- und Rassismusforschung ist einer ihrer Forschungsschwerpunkte. Gemeinsam mit Paul Mecheril, Patrice Poutrus und Matthias Quent gibt sie 2024 das "Handbuch Rassismusforschung" im Nomos-Verlag heraus.