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Bürgerhaushalte: Beteiligungsschranken und wie sie überwunden werden können Im Gespräch mit Dr. Robert Gerlit

/ 8 Minuten zu lesen

Warum scheitern Bürgerhaushalte trotz ihres Potenzials oft an niedrigen Beteiligungsraten? Dr. Robert Gerlit forscht zu Beteiligungsbarrieren und wie man sie überwindet.

Das Foto zeigt eine Schranke vor einer Tiefgarage. (© Claudio Schwarz on Unsplash)

Bürgerhaushalte sind ein weltweit etabliertes Beteiligungsinstrument. Zahlreiche Stadtverwaltungen nutzen sie, um ihrer Bevölkerung eine Mitsprache an kommunalen Finanzentscheidungen zu ermöglichen. Doch obwohl sich viele Bürger*innen generell engagieren wollen, sehen sich viele Bürgerhaushalte mit sehr niedrigen Beteiligungsraten konfrontiert. Dies stellt die Legitimität und den Nutzen solcher Verfahren infrage und hat mancherorts zu ihrer Einstellung geführt. Welche Barrieren halten Bürger*innen von der Beteiligung ab und wie können sie überwunden werden? Was braucht es, um möglichst viele Personen zum Mitmachen zu bewegen? Zu diesen Fragen forschte Dr. Robert Gerlit an der Technischen Universität München. Im Gespräch berichtet von seinen Ergebnissen.

Interner Link: Hier finden Sie das vollständige Interview mit Dr. Robert Gerlit als PDF.
Interner Link: Here you can find an Englisch version of the Interview with Dr. Robert Gerlit.

Trotz gesellschaftlicher Forderungen nach mehr Partizipationsmöglichkeiten zeigen viele Bürgerhaushalte (zu) niedrige Beteiligungsraten. Wie bewerten Sie dieses Phänomen?

Der Bürgerhaushalt gilt weltweit als eines der am weitesten verbreiteten Open-Government-Verfahren und wurde bereits in mehreren tausend Städten erfolgreich umgesetzt. Er soll Bürger*innen mehr Informationen über den kommunalen Haushalt vermitteln und ihnen gleichzeitig mehr Mitspracherechte bei der Entscheidungsfindung über die Verwendung öffentlicher Mittel einräumen. Die Erfahrungen in deutschen Kommunen zeigen jedoch ein differenziertes Bild. Einerseits ist eine hohe Zustimmung in der Bevölkerung zu beobachten, wie beispielhaft Interviews mit 216 Bürger*innen in Unterschleißheim, Stuttgart und Trier zeigen, die im Rahmen meiner Dissertation an der Technischen Universität München ausgewertet wurden. 94% der Befragten sprachen sich ausdrücklich für eine Fortsetzung der Bürgerhaushalte in ihrer Stadt aus.
Diese hohe Zustimmung führt jedoch nicht zwangsläufig zu einer hohen Beteiligung. Tatsächlich gaben nur 6% der Befragten an, sich am jeweiligen Bürgerhaushalt beteiligt zu haben. Auch andere Beispiele zeigen, dass die hohen Erwartungen von Politik und Verwaltung an die Beteiligungsraten nicht immer erfüllt werden. In einigen Fällen ist auch nach mehrmaliger Durchführung eines Bürgerhaushalts ein Rückgang der Beteiligung zu beobachten, bis hin zu Situationen, in denen Einladungen zu Bürgerhaushaltsveranstaltungen gänzlich unbeantwortet blieben und nur noch Mitarbeiter*innen der Kommune vor Ort waren. Dies hat dazu geführt, dass einige Kommunen ihre Bürgerhaushalte ausgesetzt oder durch alternative Beteiligungsinstrumente ersetzt haben.
Inhaltliche Repräsentationslücken, die Verstärkung bestehender Ungleichheiten, die Marginalisierung von Minderheiteninteressen oder die Stärkung politisch radikaler Positionen sind nur einige der Probleme, die in der Literatur im Zusammenhang mit niedrigen Beteiligungsraten diskutiert werden. Daraus auf ein generelles Scheitern von Bürgerhaushalten in Deutschland zu schließen, erscheint jedoch verfehlt. Denn nicht nur international, sondern auch in Deutschland gibt es sehr erfolgreiche Bürgerhaushalte mit vergleichsweise hohen Beteiligungsraten.

Oft wird kritisiert, bei Bürgerhaushalten beteiligten sich ohnehin nur diejenigen, die sich auch bereits in anderen Bereichen politisch engagieren. Wie können Bürgerhaushalte auch die sogenannten „stillen Gruppen“ erreichen?

Hintergrund dieser Kritik ist die im Zusammenhang mit den geringen Beteiligungsraten an Bürgerhaushalten und der teilweise zu beobachtenden Zusammensetzung der Teilnehmer diskutierte These, das Verfahren sei lediglich Sprachrohr einer lautstarken, oft sehr gut organisierten und vernetzten Minderheit, der so genannten „üblichen Verdächtigen“. Diese Bevölkerungsgruppe erhalte durch den Bürgerhaushalt eine zusätzliche Möglichkeit, ihre Interessen lautstark zu vertreten. Die Mehrheit bliebe dagegen stumm und ihre Interessen ungehört.

Ich halte das Konzept des Bürgerhaushalts grundsätzlich für geeignet, auch die so genannten „stillen Gruppen“ zu erreichen, die durch andere Beteiligungsverfahren nicht mehr oder schlechter erreicht werden können. Der Bürgerhaushalt umfasst die unterschiedlichsten Lebensbereiche einer Kommune und richtet sich in der Regel an alle Einwohner. Teilweise wird der Adressatenkreis noch weiter gefasst und bezieht z.B. auch Berufspendler oder Touristen mit ein. Beteiligungsraten sagen wenig darüber aus, wie viele Bürger*innen in dem Sinne erreicht wurden, dass sie nun besser über den Haushalt informiert sind, eine höhere Akzeptanz für Einsparungen o.ä. besteht. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn sich die stillen Gruppen nicht aktiv etwa mit eigenen Vorschlägen beteiligt haben. Um jedoch eine Aussage darüber treffen zu können, wie die stillen Gruppen für eine aktive Beteiligung erreicht werden können, muss zunächst untersucht werden, warum diese nicht stattfindet. Dazu sollten wir sie fragen und mit ihnen sprechen, anstatt nur über sie zu reden. Wir würden dann sehr schnell feststellen, dass diese Gruppen gar nicht still sind, sondern wir ihnen bislang vielleicht einfach kein oder zu wenig Gehör gegeben haben.

Können Sie uns einen Eindruck über mögliche Beteiligungsbarrieren am Bürgerhaushalt vermitteln?

Im Rahmen meiner Dissertation konnte ich 36 Barrieren identifizieren, die sich zu fünf Kategorien zusammenfassen lassen. Die Datengrundlage bilden neben Interviews mit Bürger*innen auch Experteninterviews mit Mitarbeiter*innen exemplarischer Kommunen, die einen eigenen Bürgerhaushalt betreiben oder dies in der Vergangenheit getan haben, Experteninterviews mit Agenturen, die Bürgerhaushalte entwickeln und vertreiben sowie eine systematische Literaturrecherche und Analyse der deutschen Presseberichterstattung zum Bürgerhaushalt. Beispielhaft lassen sich folgende Erkenntnisse berichten:

  1. In der Diskussion um niedrige Beteiligungsbarrieren wird häufig davon ausgegangen, dass mangelndes Interesse der Bürger*innen maßgeblich dafür verantwortlich ist. Ein solches mangelndes Interesse kann jedoch sehr vielfältig sein. Es kann sich beispielsweise auf politische Partizipation im Allgemeinen oder auf den Bürgerhaushalt im Besonderen beziehen. Gleichzeitig kann die persönliche Betroffenheit von den diskutierten Themen eine relevante Barriere darstellen.

  2. Selbst wenn man gerne am Bürgerhaushalt teilnehmen würde, ist das ohne eine Möglichkeit zur Teilnahme nicht möglich. Diese Barriere mag zunächst überraschen. Allerdings werden teilweise auch solche Verfahren von Kommunen als Bürgerhaushalt bezeichnet und beworben, die lediglich über den Haushalt informieren und keinerlei Beteiligungselemente enthalten. Zweitens finden Bürgerhaushalte in der Regel über einen bestimmten Zeitraum statt, so dass nach Ablauf der Frist eine Beteiligung nicht mehr möglich ist.

  3. Häufig sind der Bürgerhaushalt oder einzelne Aspekte bei der Zielgruppe nicht bekannt. In den Interviews mit 216 Bürger*innen war die mangelnde Bekanntheit des Bürgerhaushalts die am häufigsten genannte Barriere für die eigene Beteiligung. 67% der Befragten kannten den Bürgerhaushalt in ihrer Kommune bislang nicht. Das ist für die Zielgruppe so, als gäbe es den Bürgerhaushalt gar nicht.

  4. Bestimmte Aspekte können trotz generellen Interesses zu einer Ablehnung der Teilnahme führen. Wenn ein Bürgerhaushalt angeboten wird, ist z.B. bereits eine bestimmte politische Kultur vorhanden. Umgangssprachlich ausgedrückt* Wenn das Verhältnis zwischen Bürger*innen und Politik und Verwaltung bereits angespannt ist, ist nicht davon auszugehen, dass sich dies nur durch den Bürgerhaushalt schlagartig ändert. Mögliche Ablehnungsgründe sind, dass das Verfahren als Alibi-Beteiligungsmaßnahme angesehen und keine Umsetzung der Ergebnisse erwartet wird. Bürger*innen können sich dann fragen, warum sie oder er sich überhaupt beteiligen sollten.

  5. Schließlich dürfen die in der Bevölkerung unterschiedlich ausgeprägten Voraussetzungen für eine Beteiligung nicht unterschätzt werden. Dazu zählen beispielsweise der erforderliche (Zeit-)Aufwand, ein geeigneter Zugang zu digitalen Beteiligungsplattformen und die notwendigen Kompetenzen, diese effektiv zu nutzen. Die Auseinandersetzung mit komplexen Themen setzt zudem entsprechende Fach- und Sprachkenntnisse sowie das Verständnis der Verfahrensregeln voraus.

Welche Empfehlungen würden Sie Kommunen geben, die die Einführung eines Bürgerhaushalts planen?

Angesichts des Erstarkens rechtspopulistischer Bewegungen und des schwindenden Vertrauens der Bürger*innen in die Demokratie und ihre Institutionen sind neben der akademischen Auseinandersetzung ganz praktische Beiträge zur Revitalisierung der Demokratie gefragt. Damit der Bürgerhaushalt in diesem Kontext einen positiven Beitrag leisten kann, bedarf es einer zielgerichteten Planung, einer nutzerorientierten Konzeption und einer sorgfältigen Umsetzung.

Zunächst sollte genau überlegt werden, warum ein Bürgerhaushalt eingeführt werden soll und ob es sich um ein geeignetes Beteiligungsinstrument handelt. Aus Sicht der Bürger*innen kann es demotivierend sein, Vorschläge einzubringen, wenn der finanzielle Spielraum begrenzt ist und der Eindruck entsteht, dass nur noch Einsparungen legitimiert werden sollen.

Binden Sie möglichst frühzeitig, idealerweise bereits in der Konzeptionsphase des Verfahrens, zentrale Interessengruppen, Medienvertreter und Multiplikatoren ein. Dies dient nicht nur der Öffentlichkeitsarbeit, sondern gibt Ihnen auch die Möglichkeit, den Bürgerhaushalt selbst zum Gegenstand der Beteiligung zu machen. Digitale Labore können Ihnen dabei helfen, die Nutzerfreundlichkeit zu erhöhen und das Verfahren für Ihre Zielgruppen attraktiver zu gestalten. Die Gewährleistung der digitalen Barrierefreiheit ist dabei unerlässlich. Wenn es Ihre finanzielle Situation zulässt, sollten Sie darüber nachdenken, ein eigenes Budget für die Umsetzung der Ideen der Bürger*innen vorzusehen. Dies kann das Gefühl bestärken, dass es auch etwas zu entscheiden gibt.

Wesentlich erscheint eine zielgruppengerechte, umfassende und vor allem langfristig ausgerichtete Berichterstattung. Kommunen, die regelmäßig und crossmedial über den Bürgerhaushalt berichten, weisen häufig höhere Beteiligungsraten auf als Kommunen mit einer weniger intensiven Berichterstattung. Sie können die Hintergründe für die Einführung des Bürgerhaushalts und den erwarteten Nutzen für die Kommune und die Bürger*innen erläutern. Sie können den Start des Beteiligungsverfahrens bewerben, die Beteiligungsregeln erläutern, an Einreichungs- und Bewertungsfristen erinnern, auf das Online-Beteiligungsportal verlinken, aber auch Erwartungsmanagement betreiben, indem sie beispielsweise erläutern, welche Arten von Vorschlägen zulässig sind und welche nicht. Die bloße Existenz eines Bürgerhaushalts, der irgendwo auf den Webseiten der Stadtverwaltung versteckt ist und ohne öffentlichkeitswirksame Ankündigung in einem kurzen Zeitfenster durchgeführt wird, entspricht nicht den Vorstellungen einer transparenten und bürgernahen Verwaltung. Nach Abschluss des Verfahrens sollte über die Ergebnisse und die geplanten nächsten Schritte berichtet werden. Ein kontinuierliches Grundrauschen sorgt dafür, dass das Verfahren nicht in Vergessenheit gerät.

Sehen Sie schließlich eine Evaluation durch einen unabhängigen Akteur vor. Dabei sollten Sie sich nicht darauf beschränken, Daten über die Anzahl und Zusammensetzung der Teilnehmer, eingereichte Vorschläge, Kommentare und Ähnliches zu erheben. Fragen Sie gezielt die Menschen in Ihrer Kommune, ob sie z. B. Ihren Bürgerhaushalt kennen, wenn ja, warum sie sich beteiligt haben oder wie sie auf das Verfahren aufmerksam geworden sind. Wenn nicht, fragen Sie nach den Gründen für die Nichtteilnahme und nach Verbesserungsvorschlägen. Sie müssen mit einer solchen Befragung nicht bis zum Ende warten, sondern können auch eine Zwischenevaluation einplanen. Auch dies stärkt den Bekanntheitsgrad des Verfahrens, das Vertrauen in Ihre Arbeit und gibt Ihnen eventuell die Möglichkeit, wichtige Stellschrauben noch vor Ablauf der Beteiligungsfrist zu justieren.

Und ganz wichtig: Auch ein Verfahren mit zunächst wenig Teilnehmern ist ein Erfolg. Lernen Sie aus Ihren Erfahrungen, berichten Sie darüber, reden Sie mit den Menschen in Ihrer Kommune und gestalten Sie gemeinsam Ihre Erfolgsgeschichte.

Zur Person Dr. rer. nat. Robert Gerlit war von 2014 bis 2019 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik an der Technischen Universität München im Forschungsbereich E-Government tätig. Im Jahr 2021 schloss er erfolgreich seine Promotion zu Barrieren der politischen Partizipation beim Bürgerhaushalt in Deutschland und Maßnahmen zu deren Überwindung ab. 2019 wechselte er in die Abteilung Digitale Verwaltung, IT-Strategie und IT-Recht des Bayerischen Staatsministeriums für Digitales. Seit seinem Umzug nach Sydney im Jahr 2022 engagiert sich Dr. Gerlit erneut aktiv in der Hochschullehre und bringt seine Expertise u. a. als Remote-Dozent für New Public Management im Studiengang Digitales Verwaltungsmanagement der Hochschule Landshut ein. Seine Dissertation an der Technischen Universität München ist online frei verfügbar unter: Externer Link: https://mediatum.ub.tum.de/1575542

Fussnoten

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