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Die nationalsozialistischen Massenmorde in Osteuropa | Im Schatten von Auschwitz... | bpb.de

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Die nationalsozialistischen Massenmorde in Osteuropa Susanne Heim

/ 16 Minuten zu lesen

PD Dr. Susanne Heim vom Berliner Institut für Zeitgeschichte während ihres Eröffnungsvortrags über die nationalsozialistischen Massenmorde in Europa. (© Christian Möller)

Im August 1940 besuchte eine Delegation schlesischer Landesplaner die ehemals polnische Stadt Lodz, die seit der Annexion des Warthegaus ans Deutsche Reich nunmehr Litzmannstadt hieß. Einer der Beteiligten, der Landesplaner Gerhard Ziegler, fertigte über diese Besichtigung einen Vermerk an, in dem es hieß: "Das Bild der Stadt Litzmannstadt ist ziemlich erschütternd. 6.000 bis 7.000 Einwohner auf allerengstem Raum. Unbeschreiblicher Schmutz musste erst beseitigt werden in den Straßen und z.T. in den Wohnungen. Die Wohndichte überschreitet jedes sonst in Europa bekannte Maß. (...) Hinter den Prunkfassaden nach westlichen Vorbildern verbirgt sich übelstes Elend; (...) Überall läuft Schmutz und Abwässer in den sehr tiefen Rinnsteinen."

Aus Litzmannstadt wollten die Deutschen eine deutsche Stadt machen, obwohl von den mehreren Hunderttausend Einwohnern nur etwa 30.000 Deutsche waren. Gerhard Ziegler, Verfasser des Berichts, hielt es für unmöglich, die Stadt "einzudeutschen". Ihm schien es richtiger, die "jetzt vorhandene Stadt" völlig abzubrechen bzw. einfach "liegen zu lassen" und weiter außerhalb eine deutsche Stadt zu errichten.
Im Ghetto Lodz lebten an die 300.000 Juden, die aus den umliegenden Gemeinden zusammengetrieben worden waren. Zwar seien unter ihnen 48.000 ausgezeichnete Schneider, so Ziegler. Doch ließen sich deren Erzeugnisse nicht verwerten, da sie aufgrund der im Ghetto grassierenden Seuchen einer Desinfektion unterzogen werden müssten, bei der sie völlig zerstört würden.
Zieglers Blick auf die Verhältnisse in den polnischen Westgebieten, die dem Reich zugeschlagen worden waren, ist symptomatisch für viele Mitarbeiter der deutschen Besatzungsverwaltung in den besetzten Ostgebieten während des Zweiten Weltkriegs:

  • Alles Vorhandene wird voller Ekel, als wertlos und unbrauchbar beschrieben und als Beweis für die Unfähigkeit der polnischen bzw. in den weiter östlich gelegenen Gebieten der sowjetischen Verwaltung gewertet.

  • Die deutschen Planer setzten für ihr "Aufbauwerk im Osten" eine tabula rasa voraus: gewachsene Strukturen und traditionelle Lebensverhältnisse waren für sie lediglich Planungshindernisse, die man allenfalls "liegen liess", am besten aber – wie Ziegler dies für Lodz vorschlug – völlig abreißen sollte.

  • Für die Juden war in den deutschen "Aufbauplänen" kein Platz mehr vorgesehen.

Die deutschen Vorstellungen vom "Lebensraum im Osten" basierten auf einer Kombination von "Auslese" und "Ausmerze". Massenhafte Vertreibung, Raub und Genozid galten als probate Mittel, um die deutsche Vorherrschaft durchzusetzen. Innerhalb dieses Konzepts kam der Verfolgung der Juden eine zentrale Bedeutung zu. Selbst noch als die Welteroberungspläne in der zweiten Kriegshälfte immer schwieriger realisierbar erschienen, hatte die sogenannte Endlösung der Judenfrage Priorität.
Im Folgenden werde ich die Grundlinien des deutschen Herrschaftskonzepts und dessen ideologische Prämissen skizzieren. Die Idee vom deutschen Lebensraum im Osten und von der Überlegenheit der Deutschen und der Minderwertigkeit anderer Völker bildeten die Grundlage für die Massenmorde in den besetzten Ostgebieten im Namen der völkischen Neuordnung.
Die Wahrnehmung "des Ostens" als kulturlos, barbarisch und tendenziell bedrohlich, wie sie uns beim Landesplaner Ziegler begegnet, ist keine Besonderheit des Nationalsozialismus. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurde der Westen als das positive Gegenbild zum "wilden" Osten konzipiert. Beschleunigt durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg, den Verlust der Kolonien und das vorläufige Ende der Weltmachtsambitionen bildete sich in der Zwischenkriegszeit die Vorstellung von Mitteleuropa als "Raum" heraus, der gekennzeichnet war durch a) ein vermeintliches Kulturgefälle von West nach Ost und b) durch einen "Bevölkerungsdruck" in umgekehrte Richtung, bedingt durch die in Osteuropa höheren Geburtenraten und verstärkt durch die Migration osteuropäischer Juden, die in der Zwischenkriegszeit vor Pogromen Richtung Westen flohen.

Der Ostjude war quasi die Inkarnation all dessen, was an Negativklischees über den Osten existierte: Armut, Schmutz, Fremdheit, Infektionsgefahr. Demgegenüber begriffen sich die Deutschen – zumal nach dem Verlust der Kolonien im Ersten Weltkrieg – als ein Volk ohne Raum.

Der seinerzeit populäre, 1926 erstmals erschienene Roman von Hans Grimm lieferte das Motto, um die Kompensation der Gebietsverluste zur Überlebensfrage zu stilisieren. Da Deutschland seine wachsende Bevölkerung nicht allein aus dem Reichsgebiet ernähren könne, sei eine gewaltsame Beseitigung der "Raumnot" unumgänglich. Darüber hinaus waren nach einer damals gängigen Lesart im Krieg die vermeintlich Besten auf den Schlachtfeldern gefallen und gerade die Schwachen und Kranken verschont geblieben. Eugenische Ordnungsvorstellungen, die Angst vor einer Degeneration der Bevölkerung und die Forderung nach Aussonderung der vermeintlich Unbrauchbaren/Kranken hatten seit der Jahrhundertwende an Popularität gewonnen und gehörten wenig später auch zu den Kernaussagen nationalsozialistischer Propaganda.

Dies war in etwa die Gemengelage von Bedrohungsszenarien und Befindlichkeiten, an die der Nationalsozialismus mit seiner Propaganda anknüpfte und die weit über das Gefühl der "Schmach von Versailles" hinausging. Praktisch wurden die eugenischen und rassenhygienischen Ideale im Innern der deutschen Gesellschaft in Form einer rigiden Ausrichtung der Sozialpolitik am Leistungsprinzip umgesetzt, während die Lebensraumideologie in eine aggressive Expansionspolitik nach außen mündete.

Der Kampf gegen die "Unbrauchbaren" - Vom "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses zur "Euthanasie" als erster NS-Massenmord

Zunächst zur eugenischen Praxis: Rund ein halbes Jahr nach der Machtübernahme, am 14. Juli 1933 wurde das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses eingeführt, das die Zwangssterilistation von Behinderten, sogenannten Erbkranken, Epileptikern sowie Geisteskranken und Kriminellen ermöglicht. Begründet wurde dies mit der angeblichen Degeneration der Bevölkerung, die ein Eingreifen des Staates nötig mache, um zu verhindern, dass nach wenigen Generationenfolgen vermeintlich "nur noch Minderwertige übrigbleiben". Die Angst vorm Niedergang des deutschen Volkes durch eine überproportionale Vermehrung der Kranken und Degenerierten wurde auch in bare Münze umgerechnet und in die Zukunft projiziert. Nach dem Gesetz waren neben Anstaltsleitern und Amtsärzten auch Zahnärzte, Hebammen, Heilpraktiker und Gemeindeschwestern verpflichtet, vermeintlich Erbrkranke anzuzeigen, damit anschließend Erbgesundheitsgerichte über eine Zwangssterilisation entscheiden konnten. Die Definition, was als Erbkrankheit galt, folgte jedoch nicht nur medizinischen Kriterien. Vielmehr galt auch Alkoholismus und sogenannte "Asozialität" als erblich. Als "sozial schwachsinnig" wurden vor allem Frauen kategorisiert, deren Lebenswandel gegen die herrschenden sexuellen Normvorstellungen verstieß; Männer hingegen wurden häufiger wegen Alkoholismus zwangssterilisiert. Nach den "Richtlinien zur Beurteilung der Erbgesundheit" vom 18.7.1940 waren als asozial Personen anzusehen, die "aufgrund einer anlagebedingten und daher nicht besserungsfähigen Geisteshaltung"

  1. fortgesetzt mit Strafgesetzen in Konflikt gerieten oder

  2. "arbeitsscheu" waren oder denen es

  3. an Verantwortungsbewusstsein zu einer geordneten Haushaltsführung fehlte oder die

  4. "Trinker sind oder durch unsittlichen Lebenswandel auffallen".

Gegen sogenannte Asoziale und angeblich Arbeitsscheue, Prostituierte und Bettler, gab es in den Jahren nach 1933 mehrfach großangelegte Razzien, an denen sich neben der Kriminalpolizei auch Fürsorge-, Gesundheits- und Arbeitsämter beteiligten, indem sie die Daten von Verdächtigen meldeten.
Im Sommer 1938 waren auch ca. 2.000 Juden von derartigen Razzien betroffen, in der Regel Personen, die irgendwann einmal wegen Bagatelldelikten mit der Polizei in Kontakt gekommen waren, nun aber gar nicht wussten, warum sie verhaftet wurden. So zum Beispiel Viktor Klemperer.

Nach Kriegsbeginn verschärfte sich die Gangart nochmals deutlich. Nun ging es nicht mehr nur um die Vermehrung von Kranken und sozial Unangepassten, sondern auch um deren Leben. Vom 9. Oktober 1939 an mussten die Heil- und Pflegeanstalten dem Reichsinnenministerium auf Fragebögen Auskunft über ihre Patientenschaft erteilen, über die Art der Erkrankungen, die Dauer der Anstaltsaufenthalte und die Arbeitsfähigkeit. Auf der Grundlage dieser Daten entschieden ausgewählte Ärzte darüber, welche der als unheilbar geltenden und dauerhaft nicht arbeitsfähigen Patientinnen und Patienten in der Folgezeit zu ermorden seien. Bei jüdischen Kranken wurde auf eine derartige Selektion verzichtet: Sie wurden unabhängig von Heilungschancen und Arbeitsfähigkeit ausnahmslos getötet.

Die Morde fanden in der Zeit zwischen Januar 1940 und August 1941 in sechs eigens eingerichteten Tötungsanstalten, verteilt auf das gesamte Reichsgebiet, statt: Grafeneck in der Nähe von Reutlingen, Brandenburg an der Havel, Bernburg an der Saale, Hadamar bei Limburg, Hartheim bei Linz und in Pirna-Sonnenstein. Hartheim war mit mehr als 18.000 Opfern die Anstalt, in der am meisten Menschen ermordet wurden. Spezielle Busse brachten mehr als 70.000 Patientinnen und Patienten zu den Mordstätten, in denen sie mittels Giftgas getötet wurden. Obwohl es sich bei der "Euthanasie" um eine Geheimaktion handelte, kamen einige Monate nach ihrem Beginn in der Umgebung der Mordanstalten und unter den Angehörigen der Opfer Gerüchte auf. Der Zusammenhang zwischen der Abholung der Kranken und der Übersendung einer Sterbeurkunde an die Familie kurz darauf war allzu auffällig. Mit den Gerüchten verbreitete sich die Angst, dass bald auch andere vermeintlich Unbrauchbare – etwa alte Menschen oder Kriegsinvalide –ermordet werden könnten. Am 3. August 1941 hielt der Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen eine Predigt, in der er eben diese Befürchtungen offen aussprach und die Tötung der Anstaltspatienten als Mord brandmarkte. Wenig später wurde die "Euthanasie" in den T4-Tötungsanstalten eingestellt.

Das Morden ging jedoch nach kurzer Unterbrechung dezentral und weniger auffällig weiter: Die Patientinnen und Patienten wurden nun nicht mehr in spezielle Tötungsinstitutionen verlegt, sondern in den Anstalten, in denen sie oft schon Jahre gelebt hatten, ermordet – mit Giftspritzen oder durch systematische Unterversorgung, indem man sie also langsam verhungern ließ. In den annektierten und deutsch besetzten Gebieten Osteuropas wurden die Kranken, ebenso wie die jüdischen Psychiatriepatientinnen und -patienten im Reich, ohne nähere Selektion unterschiedslos ermordet, oftmals, um die Anstalten als Lazarette für verwundete deutsche Soldaten nutzen zu können. Der Mord an den Anstaltspatienten war die erste staatlich organisierte Massentötung. Sie diente auch als Testfall: Wenn offener Widerstand in der Bevölkerung gegen die Ermordung eigener Familienangehöriger ausblieb, so konnten NS-Verantwortlichen davon ausgehen, dass bei der Ermordung anderer, als Untermenschen stigmatisierter Bevölkerungsgruppen wie Juden, Slawen, Sinti und Roma erst recht nicht mit Protest zu rechnen sei.

Lebensraumideologie

Fünf Wochen nach Kriegsbeginn, am 6. Oktober 1939 kündigte Hitler die "Neuordnung der ethnographischen Verhältnisse" in Europa an. Mittels Umsiedlung sollten "bessere Trennungslinien" zwischen den Völkern erreicht werden. Ferner stellte er in diesem Zusammenhang auch eine Regelung der "Judenfrage" in Aussicht.

Kernstück dieser Neuordnung war die "Heim-ins-Reich"-Politik. In den eingegliederten Ostgebieten sollten die volksdeutschen Minderheiten aus den verschiedensten Regionen Europas angesiedelt werden, die die NS-Regierung versprochen hatte "heim ins Reich" zu holen.
Die praktisch-organisatorische Seite der Aufgabe wurde Heinrich Himmler übertragen, der sich daraufhin zum Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums ernannte.

Aus diesem Amt wurde binnen kurzem eine riesige Institution mit zahllosen miteinander verflochtenen Unterabteilungen Gesellschaften, Banken, Planungsstäben, Ämtern und Um- und Ansiedlungsstäben. Der Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums sollte die Siedlungspolitik zunächst in den eingegliederten Ostgebieten, nach dem Angriff auf die Sowjetunion auch in den besetzten sowjetischen Gebieten koordinieren. Die Behörde schickte sich an, Wirtschaftsordnung, Infrastruktur, Eigentumsverhältnisse, Stadtplanung, selbst Landschaftsgestaltung und Vegetation auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse neu zu organisieren. Beteiligt an der Ausarbeitung der Pläne waren Wissenschaftler sowie einige Wissenschaftlerinnen verschiedenster Disziplinen: Ökonomie, Soziologie, Raumplanung, Demografie, Agrarwissenschaft, Architektur, Medizin und Rasseforschung. Im Zentrum stand die Vorstellung von einer optimalen, am Reißbrett planbaren Bevölkerungsstruktur.

Es ging darum, die im Osten neu eroberten Gebiete langfristig einzudeutschen, um so die deutsche Vorherrschaft in diesen Gebieten dauerhaft zu sichern. Um für die "heim ins Reich" geholten Auslandsdeutschen optimale Bedingungen zu schaffen, sollten ihnen Bauernhöfe, Werkstätten, Geschäfte und Wohnungen angeboten werden, aus denen zuvor Juden und nichtjüdische Polen vertrieben wurden.

Für die Zukunft waren weit größere Bevölkerungsverschiebungen geplant: Langfristig sahen die Pläne des NS-Regimes die Vertreibung von nicht weniger als 3,4 Millionen Polinnen und Polen aus dem annektierten Westpolen vor. Die dort lebende jüdische Bevölkerung, etwa eine halbe Million Menschen, sollte bereits im Verlauf des Winters 1939/40 komplett ins Generalgouvernement deportiert werden. Diese Pläne wurden zwar nicht in vollem Umfang realisiert, doch Vertreibung und Zwangsumsiedlung nahmen gigantische Ausmaße an: 800.000 nicht-jüdische Polinnen und Polen wurden vertrieben, um für deutschstämmige Siedlerfamilien Platz zu schaffen. Zudem verschleppten die deutschen Besatzer etwa 1,7 Millionen Männer und Frauen zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich. Im Gegenzug wurden 700.000 Angehörige der deutschen Minderheit aus weiten Teilen Osteuropas in den eingegliederten Ostgebieten angesiedelt. Es wurden also wesentlich mehr Menschen aus den eingegliedertn Ostgebieten abgeschoben oder deportiert als Auslandsdeutsche neu angesiedelt wurden. Denn um die als rückständig und unrentabel angesehene "polnische Wirtschaft" – der Begriff wurde immer abwertend/diffamierend gebraucht – zu "sanieren",planten die deutschen Umsiedlungsfachleute mehrere als unrentabel angesehene Höfe oder Betriebe aus polnischem Besitz zusammenzulegen, um daraus einen deutschen Bauernhof bzw. eine deutsche Firma zu machen.

Den Vertreibungen lagen genaue Pläne und sorgfältig erhobene Daten zugrunde. Mit der Siedlungsplanung in den besetzten polnischen Gebieten beauftragte Himmler Konrad Meyer: Ihn beauftragte Himmler unmittelbar vor dem Überfall auf die Sowjetunion damit, einen "Generalplan Ost" zu entwerfen. Dieser Plan sah die "Eindeutschung" großer Teile der besetzten sowie der noch zu erobernden Gebiete vor.

Der Plan existierte in verschiedenen Fassungen, beteiligt an seiner Erarbeitung waren unterschiedliche Institutionen, darunter neben dem Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums, den Meyer vertrat, auch das Ostministerium und das Reichssicherheitshauptamt. Die Berechnungen, wie viele Menschen nach diesen variierenden Plänen "ausgesiedelt" werden sollten, schwankten zwischen 30 und 50 Millionen. In der Praxis bedeutete dies Massenmord in einem bis dahin kaum gekannten Ausmaß:

Dabei gingen die Deutschen mit unterschiedlichen Methoden vor:

  1. Berüchtigt sind vor allem die Massenerschießungen. Der Krieg gegen die Sowjetunion war von Anfang an als Vernichtungskrieg geplant. Hitler hatte schon vor Beginn des Feldzugs deutlich gemacht, dass sich die Wehrmacht auch über geltendes Kriegsrecht hinwegsetzen könne. Der sogenannte Kommissarbefehl sah vor, Funktionäre der Roten Armee nicht in Kriegsgefangenschaft zu nehmen, sondern zu ermorden. Ein spezieller Erlass erteilte deutschen Soldaten, die Verbrechen an der Zivilbevölkerung Vorab-Absolution, denn darin hieß es, dass bei solchen Taten "kein Verfolgungszwang" bestehe.
    Die Einsatzgruppen erschossen in den ersten Wochen nach dem Überfall auf die Sowjetunion vorrangig Partei- und Staatsfunktionäre, unter denen nach deutschen Vorstellungen die Juden besonders zahlreich waren, als auch alle vermeintlich "radikalen Elemente". Jüdische Männer im wehrfähigen Alter hatten kaum eine Überlebenschance, wenn sie in deutsche Hände fielen. Nach wenigen Wochen gingen die deutschen Tötungseinheiten dazu über, ganze jüdische Gemeinden auszulöschen, das heißt auch jüdische Frauen und Kinder zu ermorden.
    In vielen Orten riefen die deutschen Besatzer die jüdische Bevölkerung, um ihrer habhaft zu werden, dazu auf, sich zur Umsiedlung oder zum Arbeitseinsatz zu melden, und drohten bei Nicht-Befolgung strenge Strafen an. Die beiden größten Massaker richteten sie im ukrainischen Kamenez-Podolsk, wo in den letzten Augusttagen 1941 23.600 Menschen den deutschen Erschießungskommandos zum Opfer fielen, und in der Schlucht von Babij Jar in Kiew. Dort starben Ende September 1941 mehr als 33.000 Jüdinnen und Juden durch deutsche Kugeln.

  2. Mit ungewöhnlicher Grausamkeit gingen die Deutschen auch gegen die nichtjüdische Zivilbevölkerung vor, wenn sie sie verdächtigten, Partisanen zu unterstützen. Juden standen generell unter dem Verdacht, sich als Spione oder Partisanen zu betätigen. Darüber hinaus aber wurden massenhaft Zivilisten erschossen mit der Begründung, es handele sich um Partisanen oder ganze Dörfer niedergebrannt, weil die Deutschen dort Partisanen vermuteten oder die Dorfbewohner verdächtigten die Partisanen unterstützt zu haben.

  3. Außerdem war die deutsche Kriegsführung darauf angelegt, dass Millionen sowjetische Zivilisten verhungern sollten, um Nahrungsmittel, die zu ihrer Ernährung nötig gewesen wären, den deutschen Soldaten zukommen zu lassen oder sie gar ins Deutsche Reich abzutransportieren. Zu diesem Zweck hatte die deutsche Führung schon in der Planungsphase des Krieges beschlossen, die sowjetischen Großstädte militärisch von den landwirtschaftlichen Überschussgebieten abzuriegeln und auszuhungern. Die zweieinhalbjährige Blockade Leningrads, während der Schätzungen zufolge zwischen 800.000 und 1.000.000 Menschen starben, war Ausdruck ebendieser Strategie. Im November 1941 hatte Göring mit der Hungerpolitik gegenüber dem italienischen Außenminister geprahlt: "In diesem Jahr werden 20 bis 30 Millionen Menschen in Russland verhungern. Vielleicht ist das gut so, da bestimmte Völker dezimiert werden müssen."

  4. Besonders brutal wirkte sich die Hungerstrategie für die Soldaten der Roten Armee aus, die in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten. Im November 1941 gab der Generalquartiermeister des Heeres, Eduard Wagner, den Befehl aus, "nichtarbeitende Kriegsgefangene haben zu verhungern!" Aber auch die zu schwerer körperlicher Arbeit eingesetzten Kriegsgefangenen starben massenweise an Entkräftung und Unterernährung. Von den 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen erlebten 2,7 Millionen das Kriegsende nicht.

  5. Schließlich stachelten die Deutschen auch gezielt die einheimische Bevölkerung zu Pogromen gegen die Juden an: Einen entsprechenden Befehl hatte Heydrich, der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, bereits eine Woche nach dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion den Einsatzgruppenchefs erteilt. So kam es denn auch insbesondere in Lettland und Litauen sowie in denjenigen Gebieten Polens, die 1939 von sowjetischen Truppen besetzt worden waren, nach deren Abzug im Juni 1941 zu brutalen Exzessen gegen die jüdische Bevölkerung, darunter zum Beispiel in Lemberg (Brigidki-Gefängnis).

  6. Auch langfristig sollte die sowjetische Bevölkerung dezimiert werden. Völlig ausrotten wollte man sie nicht, da für die deutschen Kolonisierungspläne Arbeitssklaven gebraucht wurden. Aber es ging um eine "Schwächung des russischen Volkskörpers" wie sich der Rassendezernent des Ostministeriums, Erhard Wetzel, ausdrückte. Er schlug im Rahmen der Diskussion um den Generalplan Ost eine staatlich gesteuerte Geburtenkontrolle vor, eine "bewusst negative Bevölkerungspolitik". Diese habe den Vorteil, dass man die Maßnahmen aussetzen könne, wenn die Bevölkerung zu sehr schrumpfe.

"Wir müssen in den betreffenden Gebieten eine bewusst negative Bevölkerungspolitik treiben. Durch Propagandamaßnahmen, insbesondere durch Presse, Rundfunk, Kino, Handzettel, kurze Broschüren, Aufklärungsvorträge und dergleichen muss der Bevölkerung immer wieder der Gedanke eingeredet werden, wie schädlich es ist, sich viele Kinder anzuschaffen. Es muss einmal auf die Kosten hingewiesen werden, die Kinder machen, dann auf das, was man sich dafür hätte anschaffen können. Es können die großen gesundheitlichen Gefahren, die der Frau bei Geburten entstehen können, angedeutet werden und dergleichen. [...] Strafbar darf weder das Anpreisen und Verbreiten von Verhütungsmitteln noch die Abtreibung sein. Man sollte die Einrichtung von Abtreibungsinstituten durchaus fördern. Man kann z. B. Hebammen und Feldscherinnen zu Abtreiberinnen ausbilden. [...] An einer völligen biologischen Vernichtung des Russentums können wir jedenfalls so lange kein Interesse haben, als wir nicht selbst in der Lage sind, mit unseren Menschen den Raum zu füllen."

Zur selben Zeit experimentierten auf Himmlers Aufforderung hin deutsche Ärzte in Konzentrationslagern mit der Entwicklung von Massensterilisationsverfahren. Der Professor für Gynäkologie Carl Clauberg und der zuvor bei der "Euthanasie" eingesetzte Arzt Horst Schumann hatten die Erlaubnis erhalten, an KZ-Häftlingen in Auschwitz Versuche durchzuführen, um eine operationslose Sterilisationsmethode zu entwickeln. Clauberg injizierte dazu weiblichen Häftlingen eine ätzende Flüssigkeit in die Eileiter, um diese zu verkleben. Schumann experimentierte mit Röntgenstrahlen – beides war für die Häftlinge extrem schmerzhaft, wenn nicht gar tötlich. Das Ziel war es, eine billige Methode zu entwickeln, die massenhaft angewandt werden konnte ohne die bislang erforderliche Operation und ohne dass die Betroffenen den Eingriff bemerkten.
Wetzels Bemerkung, dass die Deutschen kein Interesse an einer völligen Vernichtung des Russentums hätten, solange sie selbst nicht in der Lage seien, den eroberten Raum mit eigener Bevölkerung zu füllen, traf einen entscheidenden Punkt in den deutschen Plänen: Dem "Volk ohne Raum" mangelte es an Menschen. Die deutschen Pläne sahen daher vor, massenhaft andere für wertvoll erachtete Völker "einzudeutschen", um den Bedarf an Siedlern zu decken. Denn, so Wetzel weiter, "sonst würden andere Völker diesen Raum einnehmen, was gleichfalls nicht in unserem Interesse liegen würde."

Unter den Franzosen, Slowenen, Tschechen, Esten und Letten galten 50 Prozent der Bevölkerung als potentiell eindeutschbar, unter Holländern und Dänen unter Umständen sogar ein noch höherer Anteil. Die Führungsrolle bei der Neugestaltung des Ostens sollte in jedem Fall Deutschen vorbehalten sein. – Entsprechend träumten viele deutsche Jugendliche von einer Zukunft als "Wehrbauer im Osten". Letten, Esten und andere, zwar nicht germanische, aber doch den Slawen vermeintlich überlegene "Fremdvölkische" sollten als Statthalter deutscher Macht eine mittlere Position in der Rassen- und Machthierarchie einnehmen. Der slawischen Bevölkerung war in den verschiedenen Varianten des Generalplans Ost hingegen überwiegend die Funktion von Arbeitssklaven zugedacht, ohne deren rücksichtslose Ausbeutung die gigantischen Kolonisierungsprojekte nicht zu bewerkstelligen gewesen wären. Die Juden – in der Sowjetunion nach damaligen deutschen Berechnungen rund fünf Millionen Menschen – kamen in diesen Zukunftsvisionen gar nicht mehr vor. Ihre als "Evakuierung" verklausulierte Ermordung wurde im Generalplan Ost immer vorausgesetzt.

Auf der Wannseekonferenz, die am 20. Januar 1942 in Berlin stattfand, verhandelten unter Vorsitz Heydrichs die Staatssekretäre der wichtigsten Ministerien, Abgesandte der Zivilverwaltungen in den besetzten Ostgebieten, Vertreter der NSDAP und des Rasse- und Siedlungshauptamts sowie einige hochrangige SS-Funktionäre über die "Gesamtlösung der Judenfrage in Europa". Dabei ging es nicht mehr darum, ob die Juden ermordet werden sollten, sondern nur um die Abstimmung über die Modalitäten der Durchführung des Massenmords. Im Protokoll der Konferenz, das Adolf Eichmann nach Anweisungen Heydrichs mehrfach überarbeiten musste, ist nicht von Mord, sondern verklausuliert von "Evakuierung" und "Arbeitseinsatz" die Rede. Doch zwischen den Zeilen klingt durch, was gemeint ist: Etwa wenn es heißt, die Juden würden "in geeigneter Weise im Osten zum Arbeitseinsatz kommen". Getrennt nach Geschlechtern, sollten die arbeitsfähigen Juden "straßenbauend in diese Gebiete geführt [werden], wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird". Die Überlebenden würden, da es sich "zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist".

In den Monaten, die auf die Konferenz folgten, wurden allen bürokratischen und kriegsbedingten Hindernissen sowie lokalen Widerständen zum Trotz, Juden in ganz Europa in Eisenbahnwaggons gepfercht und in die Vernichtungslager deportiert. Die Ghettos im besetzten Polen, in denen Hunderttausende darauf hofften, die Besatzungszeit zu überleben, wurden 1942 binnen weniger Monate geräumt und nur wenige Insassen vorübergehend verschont, weil sie den Deutschen noch als Arbeitskräfte brauchbar erschienen.

Gegen den Generalplan Ost ist vielfach eingewandt worden, es habe sich lediglich um einen Plan gehandelt, der nie verwirklicht wurde. Das stimmt nur teilweise: Auch wenn die ehrgeizigen Vorhaben einer Germanisierung von Bevölkerung und Landschaft und einer umfassenden "Neuordnung" letztlich aufgrund der militärischen Entwicklung nicht realisiert wurden, so ist doch das, was die Planer um Konrad Meyer als ersten Schritt für eine weitreichende Zukunftsplanung verstanden, nämlich die Vertreibung und der Massenmord in riesigen Dimensionen praktiziert worden.

Anders als die Mitglieder von Erschießungskommandos, die sich nicht sicher sein konnten, dass ihre Verbrechen nicht geahndet würden, sind die meisten Schreibtischtäter nicht nur ungestraft davongekommen, sondern oftmals auch noch für ihre Verdienste ausgezeichnet worden. Der eingangs erwähnte Gerhard Ziegler, geboren 1902, war als Landesplaner für Schlesien auch für das "Industrierevier Auschwitz" zuständig, inklusive dem dazugehörigen Konzentrationslager. Im Spruchkammerverfahren als "Mitläufer" eingestuft, betrieb er nach 1945 den Wiederaufbau verschiedener deutscher Städte, darunter Heilbronn und Freudenstadt. 1962 wurde er als Honorarprofessor an die Technische Hochschule Stuttgart berufen und 1966 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Er blickte voller Stolz auch auf seine Tätigkeit als Landesplaner im Industrierevier Auschwitz und den "gigantischen Wirtschaftsaufbau", den die Deutschen "im kriegsfernen Schlesien" geleistet hätten. Wie Ziegler, so ist auch Konrad Meyer, einer der Hauptautoren des Generalplans Ost, nach dem Krieg lediglich wegen SS-Mitgliedschaft zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt worden, die mit der Internierung abgegolten war. Von 1956 bis 1968 hatte er eine Professur an der TU Hannover, war federführend an der Gemeindereform in Niedersachsen beteiligt und Mitglied der deutschen Akademie für Raumforschung und Landesplanung. Wie schon der Generalplan Ost so wurde auch Meyers wissenschaftliche Arbeit in den 1950er Jahren von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert.

Es gilt das gesprochene Wort.
Susanne Heim, am 20. November 2017 in Berlin

Fussnoten