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Dritter Tag: Mittwoch, 6. November 2019 | Lessons & Legacies | bpb.de

Lessons & Legacies Tagungsbericht Erster Tag: Montag, 4. November 2019 Zweiter Tag: Dienstag, 5. November 2019 Dritter Tag: Mittwoch, 6. November 2019 Vierter Tag: Donnerstag, 7. November 2019 Veranstaltungsimpressionen

Dritter Tag: Mittwoch, 6. November 2019

Hendrik Gunz

/ 15 Minuten zu lesen

Am Morgen des dritten Veranstaltungstages konnten sich die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer zwischen Panels über das Verhältnis des faschistischen Italiens zu den europäischen Jüdinnen und Juden, über das Edieren historischer Quellen, über Kategorisierungen und Dynamiken von Gewalt, über Probleme bei der Ausbildung von Geschichtslehrkräften und über das Gedenken in Sobibór seit den 1960er Jahren entscheiden.

Impressionen vom dritten Veranstaltungstag

Impressionen: Tag 3

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Workshop 7: Am Holocaust vorbeistudieren – Herausforderungen der Ausbildung von Geschichtslehrkräften

Über die Herausforderungen der Ausbildung von Geschichtslehrerinnen und -lehrern und die Gefahr, im Lehramtsstudium am Holocaust "vorbei" zu studieren, wurde im Workshop von Christina Brüning, Lena Kahle und Verena Nägel diskutiert.

Christina Brüning, Der Status der Holocaustvermittlung an deutschen Schulen
Einführend wandte sich die Geschichtsdidaktikerin Christina Brüning von der Universität Potsdam der Frage zu, über welches Wissen Schülerinnen und Schüler in Bezug auf den Holocaust verfügen. Damit hatte sie sich im Rahmen ihrer Dissertation über den Einsatz videografierter Zeugnisse von Überlebenden der nationalsozialistischen Genozide im Unterricht auseinandergesetzt. Brüning konstatierte, dass Schülerinnen und Schüler der neunten und zehnten Klasse auch nach der Behandlung des Stoffes im Unterricht nur geringe Kenntnisse über den Nationalsozialismus hätten. Dies gelte für Hauptschulen wie für Gymnasien. Ob ein Migrationshintergrund vorliege, habe dabei keinen Unterschied gemacht. Im Gegenteil habe sie beobachtet, dass sich Jugendliche, die von der Gesellschaft als Minderheit markiert würden, sich zum Teil eher im familiären Kontext mit dem NS beschäftigt hätten.

Lena Kahle/Verena Nägel, Die universitäre Lehre zum Nationalsozialismus und Holocaust
In ihrer gemeinsamen Studie zur universitären Lehre über den Holocaust in Deutschland, die 2018 veröffentlicht wurde, kamen Lena Kahle von der Stiftung Universität Hildesheim und Verena Nägel von der Freien Universität Berlin zu dem Ergebnis, dass nicht an allen deutschen Universitäten regelmäßig Lehre zum Thema Shoah angeboten werde. Dies sei vor allem für Lehramtsstudierende problematisch. Die Forscherinnen hatten über vier Semester die Online-Vorlesungsverzeichnisse von 79 Universitäten untersucht. In diesen zwei Jahren sei an 17 Universitäten nur ein, und an 28 Universitäten gar kein Kurs zur Geschichte des Holocaust angeboten worden. Sie schlossen daraus, dass es sich um ein strukturelles Problem handele. Zwar würden in Modulkatalogen oder ähnlichen Vorgaben Themen empfohlen werden, die Lehre aber meistens der Forschung der Dozierenden folgen. So sei es für Lehramtsstudierende durchaus möglich, "am Holocaust vorbei zu studieren" – obwohl sie die Themen NS und Shoah als Lehrkräfte unterrichten können sollen.

In Kleingruppen wurden die jeweiligen Erfahrungen hinsichtlich der universitären Lehre des Holocaust ausgetauscht und Verbesserungsmöglichkeiten diskutiert. Herausfordernd sei insbesondere, nachhaltige Kooperationen mit Universitäten zu gestalten, da diese meist personenbezogen seien und an Hochschulen eine hohe Fluktuation herrsche. Bemängelt wurden ferner die starke fachliche Abgrenzung innerhalb der geistes- und sozialwissenschaftlichen Sphären und deren wenig interdisziplinäre Ausrichtung. Eine mögliche Gegenstrategie könne darin bestehen, Arbeitsverträge des akademischen Mittelbaus für die Konzeption und Durchführung von Grundlagenlehre zu entfristen. Die Vernetzung von Lehrkräften mit der Gedenkstättenpädagogik oder lokalen Akteuren wie Stadtarchiven wurden als wünschenswert angesehen. (Interner Link: Zum Experteninterview mit Lena Kahle und Verena Nägel)

Panel 20: Das Unklassifizierbare einordnen. Überlebendenstrategien des Schreibens und Dokumentierens der Shoah

Im 20. Panel der Tagung wurden Ergebnisse des deutsch-französischen, interdisziplinären Forschungsprojekts "Frühe Schreibweisen der Shoah. Wissens- und Textpraktiken von jüdischen Überlebenden in Europa 1942–1965" (PREMEC) vorgestellt.

Aurélia Kalisky, Hybride Genre der Wissensproduktion: H.G. Adlers Poetik für die Dokumentation des Holocaust
Um den Holocaustüberlebenden, Schriftsteller und Sachbuchautor H.G. Adler ging es im ersten Vortrag, den die Leiterin des Projektes PREMEC, die Literaturwissenschaftlerin Aurélia Kalisky, hielt. Adler, 1910 in Prag geboren, überlebte das Getto Theresienstadt, das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und ein Außenlager des KZ Buchenwald. Er schrieb hunderte Gedichte. Zudem gilt seine wissenschaftliche Untersuchung "Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft" auch heute noch als Standardwerk. Das anfängliche Ziel Adlers, sowohl seines Zusammentragens von Dokumenten als auch seines Schreibens im Lager sei es gewesen, Zeugnis abzulegen, wusste Kalisky zu erklären. Adler starb 1988 in London. Anhand der Vielseitigkeit dieses Gesamtwerks, das nur schwer charakterisiert werden könne, stelle sich die Frage, wie und entlang welcher Grenzen es zu klassifizieren sei.

Adler selbst habe versucht, zwischen seiner persönlichen Literatur und seiner analytischen und von seiner Person abgetrennten Forschung strikt zu trennen. Dabei ließe sich diese Objektionalisierung auch als Überlebensstrategie verstehen, indem er sich unter "kühler Betrachtung […] vorurteilsfrei und nüchtern" den nationalsozialistischen Verbrechen näherte. Sein Drang, diese Verbrechen beweisen zu wollen, könne aber auch Ausdruck seiner Trauer gewesen sein, vermutete Kalisky. Nicht nur methodisch, sondern auch als Person könne Adler als "cross"-disziplinär verstanden werden: Er war Überlebender und Forscher, was auf die Ambiguität seiner Position verweise. Wenn man nun jedoch die wissenschaftlichen Arbeiten von Zeitzeuginnen und -zeugen wie Adler auch als Form eines Zeugnisses auffasse, so sei man gezwungen, bisherige Klassifikationen zu überdenken, meinte Kalisky.

Malena Chinskis, Neue Richtungen in der Khurbn-Forschung: Michał Borwicz, Joseph Wulf und die "Wiederherstellung" der Jüdischen Historischen Kommission in Paris (1947-1956)
Mit einem kleinen Pariser Zentrum zur Erforschung der Geschichte polnischer Jüdinnen und Juden (Centre pour l’Histoire des Juifs Polonais) setzte sich Malena Chinskis von der School for Advanced Studies in the Social Sciences auseinander. Das Pariser Zentrum wurde 1947 gegründet und stand unter der Ägide der Holocaustüberlebenden und -forscher Michał Borwicz und Joseph Wulf. Zuvor waren beide Mitglied der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission (CŻKH) in Polen gewesen, bis sie nach Paris emigrierten. Wird das Pariser Zentrum häufig als Fortführung der Zentralen Kommission gesehen, vertrat Chinski die These, dass der neue Kontext der Forscher zu einer neuen Ausrichtung der "Khurbn-Forschung" geführt habe. "Khurbn" ist der hebräische Ausdruck für "Zerstörung", der sich auf die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden bezieht. Das Pariser Zentrum habe sich, so Chinski, aus einer säkularen Perspektive mit der Shoah auseinandergesetzt und dabei unter geringer materieller und personeller Ausstattung gelitten. Daher sei die Produktivität des Zentrums gering gewesen – trotz transatlantischer finanzieller Unterstützung. Zusätzlich zu eigenen Publikationen habe auch die Zentrums-Zeitschrift vor Problemen gestanden. Nichtsdestotrotz sei sie einem ausgewählten Publikum kostenfrei zugeschickt worden, auch lägen Korrespondenzen von Empfängerinnen und Empfängern der Zeitschrift vor. Während Wulf 1952 Paris verließ, habe das Zentrum unter Borwicz mindestens vier weitere Jahre bestanden.

Katrin Stoll, Vernichtungswissenschaft. Nachman Blumentals Studien zur Shoah neu betrachtet
Von 1947 bis 1949 wurde die Zentrale Jüdische Historische Kommission (CŻKH), an der Borwicz und Wulf gearbeitet hatten, von Nachman Blumental geleitet. Seine Untersuchungen wurden von Katrin Stoll betrachtet, Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Blumental und andere hatten bereits 1944 die Arbeit aufgenommen, sie untersuchten nationalsozialistische Tatorte und sammelten Dokumente. Er habe auch im Fall der Ermordung seiner Frau und seines Kindes ermittelt, an der 1943 auch die polnische Polizei des Generalgouvernements, aufgrund ihrer Uniformfarbe auch als "Blaue Polizei" bekannt, beteiligt gewesen sei. Blumental habe nachweisen können, dass der Holocaust in Polen im öffentlichen Raum stattgefunden habe und Handlungsspielräume, beispielsweise der Polizei, bestanden. Ihm sei es nicht nur darum gegangen, zu schildern, was passiert, sondern auch, wer daran beteiligt war, erklärte Stoll. Als studierter Literaturwissenschaftler habe sich Blumental viel mit der Macht der Sprache im Vernichtungsprozess auseinandergesetzt. So veröffentlichte er 1947 unter dem Titel "Słowa niewinne" ("Unschuldige Wörter") den ersten Teil seines Wörterbuchs von Nazi-Vokabular, worin er versuchte, die Bedeutung der von den deutschen Täterinnen und Tätern genutzten Sprache aufzuzeigen.

Panel 23: Homosexuelle während des Holocaust und der Folgezeit

Das Panel "Homosexuelle während des Holocaust und der Folgezeit" setzte sich mit einer lange ignorierten Opfergruppe des Nationalsozialismus auseinander. Die Gründe hierfür lagen sowohl in der fortdauernden Kriminalisierung (männlicher) Homosexualität über den Krieg hinaus als auch in der damit einhergehenden gesellschaftlichen Stigmatisierung und Diskriminierung.

Geoffrey J. Giles, Doppelte Gefahr? Homosexuelle Juden in den Fängen der Nazi-Polizei
Der emeritierte Geschichtsdozent der University of Florida, Geoffrey J. Giles, ging der Frage nach, ob homosexuelle Juden im "Dritten Reich" doppelt gefährdet waren. Man wisse wenig über die nationalsozialistische Verfolgung dieser Gruppe, obwohl er von circa 15.000 schwulen Juden im "Dritten Reich" ausgehe. Anhand dreier Beispiele, in denen sich jüdische Männer in Berlin während des Zweiten Weltkrieges Ermittlungen der Gestapo und Anklagen wegen Homosexualität ausgesetzt sahen, verdeutlichte Giles die Komplexität der Fälle. Obwohl man mit dem gestiegenen Verfolgungsdruck auf deutsche Jüdinnen und Juden nach den Novemberpogromen 1938 hätte annehmen können, dass der Vorwurf der nach §175 verbotenen Homosexualität zu sofortiger KZ-Haft führte, seien die Prozesse ambivalenter gewesen, so Giles. Staatsanwaltschaften und Gerichte hätten die Vorwürfe der Homosexualität lange geprüft und seien nicht immer der Einschätzung der Gestapo gefolgt, auch seien nicht alle Haftstrafen lange gewesen. Nach ihrer Zeit im Strafvollzug seien einige der Männer von der Polizei in Konzentrationslagern, also außerhalb des juristischen Systems, weiter inhaftiert worden, andere wurden freigelassen. Die meisten der Männer wurden schließlich im Holocaust ermordet – jedoch aufgrund ihres Judentums und ohne einen Bezug auf ihre Verurteilung nach §175, wie Giles betonte.

Samuel Clowes Huneke, Verfolgung oder Toleranz? Die irritierende Frage von lesbischen Frauen im "Dritten Reich" und im Holocaust
Wurden lesbische Frauen im Nationalsozialismus verfolgt, obwohl weibliche Homosexualität nicht im §175 festgelegt war? Oder wurden sie "nur" marginalisiert? Dieser von Panel-Moderator Albert Knoll, Archivar der KZ-Gedenkstätte Dachau, erläuterten Debatte um die "irritierende Frage" von "Verfolgung oder Toleranz" ging Samuel Clowes Huneke, Doktorand an der Stanford University, nach und stellte einige Fallbeispiele aus Gerichtsprozessen vor. Huneke hob hervor, dass die angenommene lesbische Identität der Frauen eine wirkmächtige Fremdzuschreibung der nationalsozialistischen Behörden gewesen sei. Ob diese Frauen tatsächlich homosexuell waren, könne anhand der Gerichtsakten nicht geklärt werden. Es habe für ihre Verfolgung aber auch nur eine nachgeordnete Rolle gespielt. Als Beispiel verwies er auf Waltraud, eine Woman of Color, die nach Auschwitz deportiert worden war. Ursprünglich unter dem Deckmantel der "Arbeitsverweigerung" in das Netz der Verfolgung geraten, habe der Homosexualitätsvorwurf in die nationalsozialistische Darstellung hineingespielt, sie wäre "moralisch verkommen". Dies sei aber nicht der alleinige Verfolgungsgrund gewesen. Im Prozess gegen ein junges, mutmaßlich lesbisches Paar sei der sexuellen Ausrichtung dagegen keine Bedeutung beigemessen worden – sie seien aufgrund von Prostitution und nicht bezahlter Hotelrechnungen verurteilt worden. Als lesbisch angesehene Frauen hatten allerdings, so argumentierte Huneke, weniger "soziales Kapital" als andere. Dies habe sie für die NS-Verfolgung anfälliger gemacht. Eine lesbische Identität sei "kein Ticket ins KZ" gewesen, vor der Verfolgung sicher seien homosexuelle Frauen jedoch auch nicht gewesen.

Kyle Frackman, Renitente und lästige Erinnerung: Die politische und kulturelle Herausforderung von sozialistischer Homosexualität in der Nachkriegszeit
Über politische und kulturelle Herausforderungen von sozialistischer Homosexualität in der Nachkriegszeit sprach Kyle Frackman, Germanist und Skandinavist an der University of British Columbia. Diese sei als "renitent" und "lästig" wahrgenommen worden. Ab 1948 habe sich etwa der ostdeutsche Aktivist für Homosexuellenrechte Rudolf Klimmer bei der noch jungen Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) für eine Anerkennung von Homosexuellen als Opfer des Faschismus eingesetzt. Damit hätten Homosexuelle Mitglieder der VVN werden können. Mit der Begründung, Homosexuelle seien nicht Teil des aktiven Widerstands gewesen, habe die VVN jedoch Klimmers Anliegen abgelehnt. Im Rahmen des antifaschistischen Selbstverständnisses der DDR hätte eine Anerkennung gar eine Bedrohung für die staatliche Identität der DDR bedeutet, so die These Frackmans. Im Narrativ der DDR habe das Augenmerk den politischen Häftlingen gegolten. Alle anderen NS-Opfer, so auch Jüdinnen und Juden, hätten zwar Leid erfahren, aber nicht gegen das Nazi-Regime gekämpft. Eine kämpferische Haltung galt somit als Voraussetzung für den Opferstatus. Zum Konflikt habe dies spätestens in den 1980er Jahren geführt, als Aktivistinnen in der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück trotz staatlicher Repression für die Anerkennung weiblicher Homosexualität als NS-Verfolgungsgrund protestierten.

Workshop 11: Herausforderungen für das Lernen mit deutschsprachigen 3D-Zeugnissen – Ein Forschungsbericht

Um zu gewährleisten, dass sowohl die Erinnerungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen als auch die an sie gestellten Fragen langfristig erhalten bleiben, hat man 2018 mit dem internationalen und interdisziplinären Projekt "Lernen mit digitalen Zeugnissen" (LediZ) begonnen, dreidimensionale und deutschsprachige Zeugnisse von Zeitzeuginnen und -zeugen festzuhalten. Dieses Projekt stellten die Germanistikprofessorin Anja Ballis, der Professor für Politische Bildung Markus Gloe und der Germanist Florian Duda von der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Daniel Kolb vom Leibniz-Rechenzentrum der Bayerischen Akademie der Wissenschaften am Beispiel des Zeitzeugen Abba Naor vor.

Dieser wurde 1928 im litauischen Kaunas geboren, wo er und seine Familie 1941 zur Umsiedlung ins Getto gezwungen wurden. Er überlebte das Getto, die KZ Stutthof und Auschwitz, Außenlager des KZ Dachau und einen Todesmarsch. Bis auf seinen Vater verlor er seine gesamte Familie im Holocaust. Nach dem Krieg arbeitete er für den israelischen Geheimdienst Mossad, genießt mittlerweile den Ruhestand und spricht regelmäßig als Zeitzeuge an Schulen, Universitäten und anderen Einrichtungen. Markus Gloe erläuterte, dass nicht nur mit Abba Naor, sondern auch mit der Zeitzeugin Eva Umlauf gearbeitet werde. Das interdisziplinäre Team sei in die USA gereist, wo ähnliche 3D-Technologien bereits eingesetzt werden. Ziel sei es gewesen zu untersuchen, wie Museumsbesucherinnen und -besucher auf die Technik reagieren. Anja Ballis ergänzte, dass auch Naors Zeitzeugenvorträge und Fragen von Schülerinnen und Schülern an ihn untersucht worden seien. Sie schilderte zudem den Eindruck, dass Naors Bericht bereits etwas standardisiert sei. Die Vorträge von Naor und Umlauf wurden gefilmt und ihnen etwa 800 Fragen zu ihren Leben vor, während und nach dem Holocaust gestellt. Die lange Version des Videos umfasse 90 Minuten, die kurze 30. Auf einem Superrechner des Leibniz-Rechenzentrums liegen diese Vorträge in 3D, eine zweidimensionale Version wurde im Workshop vorgestellt.

Bevor Workshopteilnehmende das Projekt selbst testen konnten, erläuterte das Team verschiedene Schwierigkeiten. So habe man etwa vor der ethischen Frage gestanden, ob die Aufnahme auch auf Fragen antworten solle, die nicht wortgleich gestellt worden waren. Man sei zum Schluss gekommen, so Ballis, dass Fragen, die nicht im Interview gestellt wurden, mit dem Standardsatz "Ich bin eine Aufnahme aus dem Jahr 2018." beantwortet werden sollten. Als problematisch erwies sich, dass das System Fragen falsch verstand und inkorrekt beantwortete – dabei waren die Antworten mal mehr, mal weniger offensichtlich falsch. Beispielweise beantwortete die Aufnahme von Naor die Frage, wie viele Menschen im Getto von Kaunas gelebt hätten, mit der Zahl 30 – die sich, wie Ballis klarstellte, jedoch auf seine Familienangehörigen im Getto bezogen habe, nicht auf die gesamte Gettobevölkerung. Trotz dieser Fehlfunktionen faszinierte die Technik. Das Projekt solle möglichst 2020 online verfügbar sein, kündigte das Team von LediZ an.

Podiumsdiskussion: Der Holocaust. Entwicklungen und Trends in Forschung, Lehre, Gedenkkultur und gegenwärtigen politischen Verhältnissen. Eine kritische Evaluation

Den Abend schloss eine auch für interessierte Bürgerinnen und Bürger geöffnete Podiumsdiskussion in der Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) ab. Die Konferenz-Mitveranstalterin Sarah Cushman von der Holocaust Educational Foundation der Northwestern University hieß das Publikum und LMU-Präsident Bernd Huber willkommen. Huber würdigte den Organisationsaufwand, den Frank Bajohr, sein Team und viele weitere für diese internationale Tagung geleistet hatten. Bevor sie zum Podiumsgespräch überleitete, stellte Cushman kurz ihre Institution vor. Diese war 1976 vom Holocaustüberlebenden Theodore Zev Weiss gegründet worden, um der Shoah durch Bildung zu gedenken. 1989 fand dann an der Northwestern University, in der Nähe von Chicago, die erste "Lessons and Legacies" Konferenz statt.

Als erster Podiumsgast sprach Dieter Pohl, Zeithistoriker an der Universität Klagenfurt, über Errungenschaften und Schwierigkeiten der Holocaustforschung. Zu ersteren zählte er (1) die thematische und geografische Ausweitung des Analyserahmens, (2) die Tendenz zu einer integrierten Geschichtsschreibung, in der Täterinnen und Täter, Opfer und andere Gruppen in ein Narrativ eingebunden würden, (3) die Europäisierung der Forschung, welche nun transnational und paneuropäisch aufgestellt sei, (4) den Einsatz neuer Methodologien, die nicht nur historiografisch sondern etwa auch archäologisch arbeiten würden, sowie (5) allgemein die Interdisziplinarität. Als Probleme und Unzulänglichkeiten identifizierte Pohl unter anderem die Isolation des Holocaust – notwendige Kontextualisierungen, wie zum Beispiel der Kriegsverlauf, würden nicht immer ausreichend beachtet. Auch gebe es Opfergruppen, die in der Forschung immer noch vernachlässigt werden würden, zum Beispiel sowjetische Kriegsgefangene. Kontinuitäten wie die Nachwirkungen des Kolonialismus des 19. Jahrhunderts sollten zudem mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden als bisher. Darüber hinaus mangele es an strukturellen Fragen, die sich beispielweise mit der Einwirkung von ökonomischen Strukturen auf den Holocaust beschäftigen.

Frank Bajohr, Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin (IfZ), betonte ebenfalls die Notwendigkeit, den Holocaust in Verbindung mit dem Zweiten Weltkrieg und anderen Nazi-Verbrechen zu sehen. Dabei konstatierte: "Die Entwicklung der Holocaustforschung ist eine unglaubliche Erfolgsgeschichte." Einige der diskutierten Mängel könnten daher als "Luxusprobleme" angesehen werden, was besonders im Vergleich mit der ersten Holocaustkonferenz in Deutschland deutlich werde: So sei in den frühen 1980er Jahren der Fokus auf den Entscheidungsprozess zur "Endlösung" gelegt worden – weder ein Blick auf die Opfer, noch europäische Perspektiven oder soziale Prozesse hätten eine Rolle gespielt. Ein weiterer Unterschied sei der Perspektivwechsel vom Zentrum zur Peripherie. Damit gehe eine "Europäisierung" des Holocaust einher, sodass immer öfter statt von einem spezifisch deutschen Massenmord von einem europäischen Genozid gesprochen werde – ohne dabei die zentrale Verantwortung Nazi-Deutschlands zu vergessen. Während das Feld der Holocaustforschung international geworden sei, würden die meisten der Studien auf einer nationalen, regionalen oder lokalen Ebene verbleiben. Dies sei auch durch Sprachbarrieren begründet: Um alle Quellen verstehen zu können, müssten Dutzende Sprachen beherrscht werden, was keine einzelne Person leisten könne. Genau deshalb seien Konferenzen wie "Lessons and Legacies" für den Austausch so wichtig, schloss Bajohr.

Hana Kubátová von der Karls-Universität Prag warf einen Blick auf die Lücke zwischen Forschung und Bildung und machte auf mehrere Probleme in der gegenwärtigen politisierten Erinnerungskultur aufmerksam. So machte sie wachsende Unterschiede zwischen dem Wissen um den Holocaust und dem Verständnis davon aus, wie und warum er geschah. Wissenslücken und falsche Vorstellungen würden vor allem dann offensichtlich, wenn offizielle Narrative über die Nationalgeschichte infrage gestellt werden sollen und es um die Rolle und Beteiligung der jeweils eigenen Nation am Holocaust gehe. Ferner machte sie, den israelischen Historiker Yehuda Bauer zitierend, die Tendenz aus, dass der "Holocaust […] zu oft in vage Lehren von der Gefahr von Hass und Vorurteil2 umkippe, und zwar "auf Kosten des Versuchs, die Gründe und Motivationen für den Genozid zu verstehen". Viele Studierende sähen nach wie vor Hitler und wenige weitere hochrangige Nazis als Alleinverantwortliche für den Holocaust an. Ein weiteres Problem berge das gegenwärtige politische Klima, das neue Herausforderungen für die historisch-politische Bildung mit sich bringe. Antisemitismus und Rassismus nehme in Europa und darüber hinaus zu. Für Bilderinnen und Bildner gelte es daher, auf neue Fragen vorbereitet zu sein. Sie müssten nicht mehr nur über Ereignisgeschichte und Tatmotive aufklären, sondern auch Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, aktuelle Gefährdungen der Demokratie zu erkennen. Kubátová schloss: "Der Holocaust ist nicht nur eine Lehre über die Vergangenheit, sondern auch über die Gegenwart."

Andrea Pető, Professorin für Gender Studies, musste Ungarn im Kontext des Umzugs der Central European University von Budapest nach Wien verlassen. Sie widmete sich gegenwärtigen politischen Bedingungen und Herausforderungen der Forschung in illiberalen Regimen Mittel- und Osteuropas und stieg mit einer paradox anmutenden Feststellung ein: Obwohl Studien belegten, dass die Holocaustforschung zunehmend institutionalisiert werde, sei die Ignoranz gegenüber dem Holocaust nie größer gewesen. Folglich müssten sich Bildung und Forschung die Frage stellen: "Was haben wir falsch gemacht?" Pető machte ihre These eines Paradigmenwechsel im Holocaustgedenken an mehreren Punkten fest: Sie sah eine Nationalisierung des transnationalen Holocaustnarratives, das Ausblenden jüdischer Opfer, deren Leid gegenüber dem der Nation marginalisiert werde, das Narrativ der doppelten Okkupation durch das nationalsozialistische und das sowjetische Regime, welches in ehemaligen kommunistischen Ländern der Schuldabwehr diene sowie den Wunsch nach einem Schlussstrich, wobei dem Holocaust der Einfluss und die Bedeutung auf die Gegenwart abgesprochen werde. Letzteres laufe der Forderung des "Nie wieder!" fundamental entgegen.

Bajohr ergänzte, es gebe eine Kluft zwischen der sich ausdifferenzierenden Forschung und der öffentlichen Erinnerung und Darstellung des Holocaust. Beispielsweise habe sich die Forschung von der Fokussierung auf Auschwitz entfernt und sich den vielen anderen Stätten und Mechanismen des Massenmords zugewandt, etwa mit Blick auf den "Holocaust durch Kugeln". Die meisten ermordeten Jüdinnen und Juden waren nie KZ-Gefangene. Das öffentliche Erinnern fokussiere aber immer noch auf Auschwitz und sei stark durch eine Ikonografie geprägt, die sich an Konzentrationslagern orientiere – Stacheldraht, Wachtürme, Baracken oder das Tor mit der Aufschrift "Arbeit macht frei". Dies korrespondiere mit einem Bild des Holocaust, in dem dieser als bürokratisch verwaltete Maschinerie erscheine. Anderen Elementen des Holocaust, wie Verbrechen in der Öffentlichkeit, Chaos, Improvisation und brutale Gewalt, mangele es an einer adäquaten Repräsentation im öffentlichen Gedenken.

Schließlich beendete der Moderator Christopher R. Browning das Podium: Man stehe vor verschiedenen Schwierigkeiten, doch manchmal müsse man sich vergegenwärtigen, von wo man komme. Angesichts aller Probleme der Zukunft solle man die vergangenen Erfolge nicht vergessen. (Diese Geschichte der Holocaust- und Täterforschung zeichnet Interner Link: Christopher R. Browning im Interview nach)

Fussnoten

Hendrik Gunz absolvierte seinen B.A. in Geschichte und Neuere Deutsche Literatur in Freiburg, studiert Interdisziplinäre Antisemitismusforschung in Berlin und Bildungswissenschaft in Hagen. Seit 2016 arbeitet er als freier Mitarbeiter u. a. für die bpb.