Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Freiheit, Verantwortung, direkte Demokratie: Zur Relevanz von Rousseau heute | Politische Bildung | bpb.de

Politische Bildung Editorial Partizipation: Ein erstrebenswertes Ziel politischer Bildung? Außerschulische politische Bildung nach 1945 Politische Bildung in Europa Die vier Dimensionen der Politikkompetenz Mitreden können: Beredsamkeit in der Demokratie Die Bundeszentrale für Heimatdienst 1952–1963 Bildungsgeschichten. Vergangenheit und Zukunft der bpb Freiheit, Verantwortung, direkte Demokratie: Zur Relevanz von Rousseau heute

Freiheit, Verantwortung, direkte Demokratie: Zur Relevanz von Rousseau heute

Christiane Bender

/ 14 Minuten zu lesen

Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. Einer hält sich für den Herrn der anderen und bleibt doch mehr Sklave als sie." Wie ein "Fanfarenstoß" (Iring Fetscher) eröffnet Jean-Jacques Rousseau mit diesen Worten das erste Kapitel seines berühmten rechtsphilosophischen Werks "Vom Gesellschaftsvertrag". Über Jahrhunderte hinweg hat dieser Satz, der soviel republikanischen Stolz und Empörung über die unfreiwillig auferlegten Ketten enthält, die Menschen irritiert und zum Verständnis ihres Schicksals beigetragen. Aber fangen wir Heutigen mit diesem Pathos etwas an? Hat uns Jean-Jacques Rousseau, dessen Geburtstag sich im Juni 2012 zum 300. Mal jährte, noch etwas zu sagen?

Drang nach Freiheit

Vor nicht langer Zeit hat das Aufbegehren der Menschen in der DDR gegen ihre Entmündiger zu friedlichem Protest, zum Fall der Mauer und schließlich zur Wiedervereinigung Deutschlands geführt. Mit starkem Rückhalt in der Bevölkerung wählte die Bundesversammlung im Sommer 2012 Joachim Gauck zum Bundespräsidenten und übertrug damit das höchste deutsche Staatsamt einem Mann, der den Freiheitswillen der ostdeutschen Bevölkerung wie kaum ein anderer repräsentiert. In Reden und Vorträgen lässt Gauck die Deutschen immer wieder an seinem Enthusiasmus teilhaben, den er verspürte, als er zum ersten Mal in Freiheit wählen durfte.. Seine Begeisterung für diese Freiheit verflog auch nicht, als ihm die vielen Konflikte deutlich wurden, mit denen moderne Demokratien zu kämpfen haben und deren Lösung kontinuierliches Engagement von Bürgern und Bürgerinnen erfordert. Freiheit und Verantwortung, ganz im Geiste Jean-Jacques Rousseaus, sind für Gauck die zentralen Grundwerte einer funktionsfähigen Demokratie.

Gegenwärtig lastet eine schwere Krise auf dem Projekt eines politisch einigen, freiheitlichen Europas. Hoffnungen werden eingetrübt, und eine allgemeine Unsicherheit ist bis tief in persönliche Lebensverhältnisse zu spüren. Die Regierungen in den europäischen Ländern sind bislang an der Herausforderung gescheitert, die Interessen der Nationalstaaten und ihrer Bürger miteinander über den Erhalt des Friedens hinaus zu vernetzen. Europa erscheint als Projekt von politischen und ökonomischen Eliten, welche die Bürger nicht mitnehmen, zumal "demokratische Teilhabe kein genuiner Baustein im System der europäischen Integration war und eher marginal blieb". Hinzu kommt: Die Politik in den europäischen Nationalstaaten hat viel von ihrer Gestaltungsfähigkeit eingebüßt. Nicht ohne Mitwirken von Politik und Politikern gelang es den Märkten, insbesondere den Finanzmärkten, ihren gesellschaftlichen Einfluss zu erweitern und viele Staaten in ökonomische, soziale und politische Notlagen zu stürzen. Heiner Geißler spricht von einer "autoritären Politik", welche die Bürger aus dem Auge verloren habe, da sie sich dem "Absolutismus der Märkte" beuge. Die Bürger werden dabei entmündigt und lassen sich entmündigen. In Griechenland, wo die Demokratie geboren wurde, hat das Versagen der politischen Oligarchien das Land an den Rand des ökonomischen und sozialen Zusammenbruchs geführt. Antieuropäische extremistische Kräfte auf der linken und rechten Seite erhalten Auftrieb.

An den Ketten einer Politik, die von oben verordnet wird und die Bürger nicht mitnimmt, wird in Deutschland gerüttelt: von Protestwählern und Protestparteien, von Wut- und Mutbürgern mit ihren Aktionen, von Bürgerinitiativen, die mehr direkte Demokratie einfordern. Rebellion als Schule der Demokratie? In den europäischen Großstädten, in denen seit Langem eine marktorientierte bürgerferne Umwandlung von Stadtteilen im Gang ist, fordern Einwohner ihr "Recht auf Stadt". Zugleich ist es der Piratenpartei in kurzer Zeit gelungen, viele junge Wähler und Wählerinnen zu mobilisieren. Die Forderungen nach Transparenz und Bürgerbeteiligung werden im Internet in immer neuen, noch nicht vermachteten Gegenöffentlichkeiten artikuliert und mit liquid democracy umzusetzen versucht. Aber lässt sich die unheilvolle Allianz von Bürokratie und verselbstständigter Elitenpolitik, die in Deutschland zu beobachten ist, mit "Klickokratie" bekämpfen? Nach Max Weber erfordert Politik in modernen Gesellschaften "ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß". "Empört euch!" – diese Haltung allein reicht nicht aus.

Zu den gegenwärtigen Anforderungen an eine demokratische Kultur gehört, auch in schwieriger Lage, die Zuständigkeit von Politik zurückzuerobern und ein Verständnis von freiheitlicher Politik zu aktualisieren, dessen Zentrum der Bürgerwille ist. Dabei kann an Rousseaus Idee vom Gesellschaftsvertrag angeknüpft werden, in dem Freiheit und Verantwortung, Rechte und Pflichten der Bürger untrennbar sind. Sein Werk unterzeichnet er mit "Citoyen de Genève" und macht gleich zu Anfang deutlich, dass politische Bildung und politisches Interesse Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaft sind: "Ich bin als Bürger eines freien Staats geboren und Glied des Souveräns, und so schwach auch der Einfluss meiner Stimme auf die öffentlichen Angelegenheiten sein mag – mein Stimmrecht genügt, mir die Pflicht aufzuerlegen, mich darin zu unterrichten. Sooft ich über Regierungen nachdenke – welches Glück, dass ich bei diesen Untersuchungen immer neue Gründe finde, die Regierung meines Vaterlands zu lieben!"

Zentrale republikanische Werte in Rousseaus Gesellschaftsvertrag

Jean-Jacques Rousseau wird am 28. Juni 1712 in Genf geboren. Viele Jahre seines Lebens verbringt er auf Wanderschaft, arbeitet in verschiedenen Berufen. Nebenbei bildet er sich autodidaktisch, entwickelt eine Notenschrift, komponiert, schreibt Theaterstücke und philosophische Werke. Sein Diskurs über die Wissenschaften und Künste wird 1750 von der Akademie in Djion preisgekrönt. Kurz vor seinem 50. Geburtstag erscheinen die beiden Hauptwerke "Vom Gesellschaftsvertrag" und die Erziehungsschrift "Emile", die sofort verboten wird. Um einer Verhaftung zu entgehen, flieht Rousseau aus Paris. Ohne festes Einkommen, in prekären Verhältnissen lebend, kommt er nicht zur Ruhe. Am 2. Juli 1778 stirbt er in der Nähe von Paris. Sechs Jahre später wird er im Pantheon neben Voltaire in der französischen Hauptstadt beigesetzt.

Rousseaus Werke und sein nach Unabhängigkeit strebendes Leben wurden als Bruch mit den Ordnungsvorstellungen der alten Welt interpretiert, sogar als Aufforderung zur Revolution. Jedoch enthalten weder seine Werke ein revolutionäres Programm noch hat sich die Französische Revolution unmittelbar von Rousseau leiten lassen. Aber die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 erhielt auch von ihm Inspiration. Von Napoleon Bonaparte etwa ist die Äußerung überliefert, es wäre besser gewesen, Rousseau hätte nicht gelebt.

Im Laufe seines Lebens hat der "helvetische Franzose" die Funktionsweise der politischen Systeme seiner Zeit studiert und verglichen. Kennengelernt hat er republikanische, ihre Unabhängigkeit verteidigende Schweizer Städte und Landsgemeinden, die selbstständige Republik Venedigs, die absolutistischen Regime Savoyens, Frankreichs und Preußens, die parlamentarische Monarchie Großbritanniens. Er schloss daraus, dass es den Menschen möglich ist, frei zu sein, auch wenn der Preis, den sie dafür zahlen, hoch ist. Worin besteht Rousseaus Grundgedanke?

Im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, gehörte es bei den Intellektuellen zum Common Sense, nicht mehr die Natur oder Gott als Urheber des Staates zu betrachten, sondern die Menschen selbst. Thomas Hobbes (1588–1679) und John Locke (1632–1704) hatten den Staat zwar als Resultat von Verträgen und als notwendig für die Existenz der Individuen angesehen, aber mit einem mehr (so Hobbes) oder weniger (so Locke) großen Verlust an Freiheit verbunden. Im Gegensatz dazu erkennt Rousseau im Freiheitswillen der Menschen das Prinzip des Rechtsstaates. Immanuel Kant (1724–1804) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) schätzen ihn deshalb. Für Rousseau ist eine politische Ordnung nur dann rechtmäßig, wenn sie auf dem in Freiheit geäußerten Willen der Menschen beruht. Hätten die Menschen keine Chance, ihren Willen zu bekunden oder – wie im Modell von Thomas Hobbes – verzichteten sie aus Sicherheitsgründen auf Freiheit, so sei die Ordnung ungerecht und könne keine Rechtmäßigkeit oder gar Gehorsam seitens der Bürger beanspruchen.

Diese Einsicht wirkt wie ein Paukenschlag: Rousseau spricht allen Systemen, die auf einseitigen Machtverhältnissen beruhen, die Legitimität ab. Menschen, die ihnen unterworfen sind, hätten das Recht, sogar die Pflicht, den Gehorsam zu verweigern. Niemand könne und dürfe auf seine Freiheit verzichten, denn sie sei das unveräußerliche Gut des Menschen: "Auf seine Freiheit verzichten heißt auf seine Eigenschaft als Mensch, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten verzichten. Wer auf alles verzichtet, für den ist keine Entschädigung möglich. Ein solcher Verzicht ist unvereinbar mit der Natur des Menschen; seinem Willen jegliche Freiheit nehmen heißt seinen Handlungen jegliche Sittlichkeit nehmen. Endlich ist es ein nichtiger und widersprüchlicher Vertrag, einerseits unumschränkte Macht und andererseits unbegrenzten Gehorsam zu vereinbaren." Eine rechtmäßige Ordnung komme durch den Gesellschaftsvertrag zustande, den alle Bürger miteinander abschließen und dadurch zum Staatsvolk werden. Rousseau fordert, dass die Menschen ihre gesamte materielle und ideelle Existenz in den Vertrag einbringen. Nichts dürften sie außerhalb des Vertrags belassen, auch ihre Religion nicht. Denn das hieße, eine über dem Vertrag stehende, höhere Instanz anzuerkennen. Es könnte beispielsweise bedeuten, religiösen Geboten ein höheres, über dem Staatsbürgerwillen stehendes Recht zuzubilligen und somit den Gesellschaftsvertrag, etwa durch Religionskriege, zu zerstören. Rousseau stellt sich vor, dass die Menschen im Prozess des Vertragsschlusses ihre natürlichen Unterschiede negieren und sich als rechtlich und sittlich gleiche Staatsbürger anerkennen. Als solche sind sie zugleich Urheber und Unterworfene der durch den Vertrag geschaffenen Gemeinschaft, sind Souverän und Untertan zugleich. Der Abschluss des Vertrags gewährt ihnen eine mit Rechten und Pflichten ausgestattete Existenzform als Staatsbürger, als Citoyen.

Auslegungen und Anwendungen

Die Konstruktion des Bürgers als vollständig durch den Gesellschaftsvertrag vergesellschaftetes Wesen hat den Interpreten Rousseaus große Schwierigkeiten bereitet. Verständlich wird sie nur, wenn berücksichtigt wird, dass Besitz und Eigentum in jeder Gesellschaft politischen Machtverhältnissen unterliegen, sie also keine natürlichen menschlichen Eigenschaften sind. In den absolutistischen Systemen verfügte der herrschende Adel über unermesslichen Besitz, den er oft durch die Enteignung der Untertanen vermehrte. Das konnte nicht rechtmäßig sein. Der Gesellschaftsvertrag als Grundlage einer rechtmäßigen Ordnung reguliert die Eigentumsverhältnisse und gewährleistet das persönliche Eigentum der Bürger, die nun nicht nur ein Recht auf Eigentum haben, sondern auch den Schutz ihres Eigentums durch die Gemeinschaft erfahren.

Das Verständnis vom Gesellschaftsvertrag, wie es in der von John Locke begründeten liberalen Tradition vorherrscht, demzufolge der Staat lediglich nach dem Willen seiner Bürger die Absicherung schon bestehender (Besitz-)Verhältnisse wahrnimmt, unterscheidet sich von Rousseaus Konzeption. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom Juli 1776 – also 14 Jahre nach Erscheinen des contrat social – mit ihrem naturrechtlich verankerten Gleichheitspostulat ("all men are created equal") und dem Auftrag an den Staat, das Streben nach Glück seiner Bürger ("the pursuit of happiness") zu fördern, geht auf Locke und nicht auf Rousseau zurück. Unterschiedliche bis heute wirksame Traditionen des Staatsverständnisses werden deutlich.

Rousseau hat den Gemeinwillen (volonté générale) als Einheit des Willens aller Bürger konzipiert. Aus dem Akt des Zusammenschlusses, der Übereinkunft der Willen Einzelner zu einem allgemeinen Willen, entstehe die Republik. Gegenstand des Gemeinwillens sei zunächst die Übereinkunft als Souverän, die freiheitliche Zustimmung zum Gemeinwesen (im Sinne eines Grundgesetzes) und sodann die Inhalte des Gemeinwohls, die durch die Gesetze konkretisiert werden. Gesetze seien Ausdruck der Freiheit, aber damit auch der Pflichten und Verantwortungen, welche die Bürger sich auferlegen. Sich vom Gehorsam gegenüber den selbst erlassenen Regeln zu suspendieren, könne nicht im Namen der Freiheit geschehen. Diesbezüglich war Rousseau jedoch optimistisch: Bürger, die sich selbst ihre Gesetze geben, würden alles daran setzen, diese zu befolgen. Die Abstimmung darüber solle in Volksversammlungen stattfinden.

An dieser Konstruktion ist vehement Kritik geübt worden. Nicht nur war das Versammlungsgebot schon zu Rousseaus Zeiten aufwendig. Auch die Beziehung zwischen Mehrheitsbeschluss und Schutz von Minderheiten, die "unaufgelöste Spannung zwischen Kollektivismus und Individualismus" erscheint nicht wirklich gelöst. Weltfremd aber ist die Konstruktion nicht. Rousseau fand Vorbilder in den antiken Demokratien und in Schweizer Städten und Landesgemeinden, wo auf regelmäßig abgehaltenen Bürgerversammlungen die kommunalen Regierungen gewählt und Beschlüsse zu allgemeinen Belangen gefasst werden. Bis heute prägen vielfältige Formen von Bürgerbeteiligungen den Alltag in der Schweiz. Die Politik, so legt der Historiker Volker Reinhardt dar, wurde dadurch nicht geschwächt. Im Gegenteil: Eine besonders leistungsfähige Kultur der "Virtuosität des Ausgleichs" sei entstanden. Im Geiste Rousseaus ist hier der Gedanke lebendig, dass nicht gewählte Stellvertreter oder profesionelle Experten in erster Linie für das Gemeinwohl zuständig sind, sondern die Bürger. In politischen Angelegenheiten sind Letztere eben nicht Laien, sondern vom Fach. Gesetzestreue, Verantwortung, Engagement und Solidarität für die Gemeinschaft lauten die republikanischen Tugenden von Bürgern, die für einander einstehen.

Viele Aspekte der Rousseauschen Republik werden in der politischen Kultur Frankreichs tradiert: Der Soziologe Émile Durkheim, der das Projekt einer republikanischen Erziehung weiterführte, sprach noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom Kollektivbewusstsein, dem es kraft solidarischer Einstellung gelingt, die Anomien der gesellschaftlichen Modernisierung durch Arbeitsteilung zu überwinden. Lange Zeit stand die unmittelbare, fast zivilreligiöse Beziehung der Bürger auf den zentralistisch ausgerichteten Staatskörper im Mittelpunkt des französischen Staatsverständnisses, ohne intermediäre Instanzen zuzulassen, die, wie schon bei Rousseau, unter Generalverdacht gestellt wurden, nicht dem Gemeinwillen, sondern Sonderinteressen zu dienen. Nach wie vor ist die direkte Wahl des mächtigen Staatspräsidenten durch das Volk ein Ausdruck der republikanischen Tradition in Frankreich.

Gefahren für die Demokratie

Für Rousseau lässt sich die Republik mit unterschiedlichen Regierungsformen wie Monarchie, Aristokratie und Demokratie verbinden. Regierungen seien lediglich die Sachwalter des Souveräns und von ihm abhängig. In der Demokratie sei die Trennung zwischen Gesetzgeber und Souverän, zwischen Exekutive und Legislative, aufgehoben, das Volk regiere sich selbst, nicht nur grundsätzlich, sondern auch im politischen Alltagsgeschäft. Dabei gerate leicht das große Ganze aus dem Blick. Außerdem sei es praktisch undurchführbar, dass sich das Volk permanent versammele. Ferner sei ein derart tugendhaftes Volk, das sich stets von den allgemeinen Interessen leiten ließe und keine Sonderinteressen verfolge, eine unrealistische Vorstellung.

Die berühmte Passage von Rousseaus Demokratiekritik lautet: "Nimmt man den Begriff in der ganzen Schärfe seiner Bedeutung, dann hat es niemals eine echte Demokratie gegeben, und es wird sie niemals geben. Es geht gegen die natürliche Ordnung, dass die Mehrzahl regiert und die Minderzahl regiert wird." Einfache Sitten, gleiche Vermögensverhältnisse, wenig oder gar kein Luxus und ein kleiner Staat, der häufige Versammlungen der Bevölkerung ermöglicht, seien Bedingungen, die eine "echte" Demokratie begünstigten. Große gesellschaftliche Ungleichheiten gefährdeten sie dagegen. Jedoch hält Rousseau in seinem Verfassungsentwurf für Korsika schon diese Insel für zu groß, um unmittelbar demokratisch, ohne repräsentative Elemente, regiert zu werden.

Am Modell der repräsentativen oder parlamentarischen Demokratie arbeitet Rousseau deren Gefahren heraus – etwa die Neigung der gewählten Repräsentanten, eigene Interessen zu verfolgen und dafür die Zustimmung des Volkes zu nutzen, die "Verdrängung" des Volkes aus wichtigen politischen Angelegenheiten und das allmählich entstehende Desinteresse des Volkes an der Politik bis hin zu einer Art Selbstentmündigung: "Wo ein Volk sich Vertreter gibt, ist es nicht mehr frei." In diesem Sinne kritisiert er scharf das parlamentarische System in England.

Die Beziehung zwischen dem volonté générale und der Ausbildung von partiellen Interessen ist bei Rousseau nicht systematisch berücksichtigt. Zur Lösung dieses Problems hat Hegel in den "Grundlinien der Philosophie des Rechts" (1821) die Sphäre des Rechtsstaats (bei uns: die Verfassung) als unbedingte Voraussetzung des Freiheitswillens und die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, dominiert durch individuelle Bedürfnisse und Interessen, voneinander getrennt, aber durch Korporationen verbunden. Dieses Modell hat sich historisch für Deutschland eher als wegweisend erwiesen denn Rousseaus Gesellschaftsvertrag. Ist die Idee eines Freiheit und Verantwortung, Rechte und Pflichten verknüpfenden Gesellschaftsvertrags dennoch relevant für Deutschland?

Deutschlands politische Großprojekte nach dem Zweiten Weltkrieg, die Etablierung einer stabilen parlamentarischen Demokratie, die europäische Integration und die Wiedervereinigung, konnten nur auf der Basis eines allgemeinen politischen Willens gelingen, der von der Mehrheit der Bevölkerung getragen und in Wahlen bestätigt wurde. Die Akzeptanz der Politik bei den Bürgern hatte viel damit zu tun, dass die Institutionen des Sozialstaats, die das Leben der Menschen alltäglich prägten, eine Balance zwischen dem Allgemeinwohl und den individuellen Bedürfnissen und den verschiedenen Interessen untereinander – für jeden erfahrbar – herzustellen vermochten (trotz ihrer vielfach ständischen Herkunft). In den vergangenen Jahrzehnten hat sich Deutschland zu einer hochgradig individualisierten und differenzierten Gesellschaft entwickelt. Der große öffentliche Raum, der für vielfältige Sonderinteressen (von Unternehmen, Verbänden, Vereinen, Parteien, Schichten und Milieus) vorhanden ist, gilt als Zeichen von lebendiger Bürgergesellschaft, Pluralität und Freiheit. Aus dieser an sich positiven Tatsache ergeben sich jedoch Gefahren für die Demokratie, die bereits Rousseau analysiert hat: Je erfolgreicher die Interessenvertreter für ihre Klientel Privilegien erzielen, desto schwächer wird deren Bezug auf die Gemeinschaft und deren Bereitschaft, sich über die eigenen Belange hinaus zu engagieren. Gemeinschaftsstiftende Traditionen und Aufgaben befinden sich auf dem Rückzug.

Im Selbstverständnis der Eliten ist ein mangelnder republikanischer Esprit zu beklagen, der sich zwar aus der historischen Erfahrung mit zwei Diktaturen erklärt, aber dazu führt, dass die Verantwortung für die politischen und gesellschaftlichen Institutionen vernachlässigt wird. Auf den Gebieten der Wirtschafts-, Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik sind beispielsweise die Eigeninteressen mächtiger Gruppen, Individuen und Organisationen zu Lasten der Gemeinschaft und der sie tragenden Institutionen gestärkt worden.

Eine Kultur der Verpflichtung aller Beteiligten, der Entscheidungsträger und der Betroffenen, im Sinne eines Gesellschaftsvertrags zur Stärkung der Institutionen, die das Leben der Deutschen auch im Zeitalter der Globalisierung und Europäisierung auf unabsehbar lange Zeit noch bestimmen wird, erscheint also dringend geboten. Deutschland hat mit der Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg und mit der Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte sondergleichen erlebt. Nun ist zu erwarten, dass die Politik, dort, wo sie sich in den vergangenen Jahren selbst abgebaut hat, ihre Zuständigkeit wieder verstärkt zur Geltung bringt und sich dabei auf ihre Basis, auf die Bürger, besinnt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social ou Principes du droit politique. Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 2010, S. 9.

  2. Vgl. Themenheft "1989" von APuZ, (2009) 21–22.

  3. Vgl. Joachim Gauck, Winter im Sommer – Frühling im Herbst, München 2011; ders., Freiheit: Ein Plädoyer, München 20125

  4. Vgl. ders., Freiheit, Verantwortung, Gemeinsinn, in: Herausforderungen an Bürger, Staat und Politik, Bonn 2011.

  5. Jutta Limbach, Es gibt keine europäische Identität, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 26.8.2012.

  6. Vgl. Heiner Geißler, Sapere Aude! Warum wir eine neue Aufklärung brauchen, Berlin 2012.

  7. Vgl. Claus Leggewie, Mut statt Wut, Hamburg 2011.

  8. Max Weber, Politik als Beruf, in: ders., Gesammelte Politische Schriften, Tübingen 19885, S. 560.

  9. Stéphane Hessel, Empört Euch!, Berlin 2011.

  10. J.-J. Rousseau (Anm. 1), S. 9.

  11. Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Schriften zur Kulturkritik: Über Kunst und Wissenschaft (1750), Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755), Hamburg 19555.

  12. In den späteren "Bekenntnissen" gibt er freimütig, sein Publikum verstörend, Auskunft über Beweggründe seines Lebens, etwa warum er seine fünf Kinder einem Waisenhaus übergab.

  13. J.-J. Rousseau (Anm. 1), S. 11.

  14. Vgl. Christiane Bender, Concept of Justice in Different Types of Welfare Regimes, in: Wenzel Matiaske (ed.), Contemporary Perspectives on Justice, München 2010, S. 93–114.

  15. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011, S. 46.

  16. Volker Reinhardt, Geschichte der Schweiz, München 2006.

  17. Vgl. Émile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt/M. 1988.

  18. J.-J. Rousseau (Anm. 1), S. 73f.

  19. Ebd., S. 105.

  20. Ebd., S. 103: "Das englische Volk glaubt frei zu sein, es täuscht sich gewaltig, es ist nur frei während der Wahl der Parlamentsmitglieder; sobald diese gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts."

  21. So wird der nachfolgenden Generation vermittelt, es sei wichtiger, sich individuell durchzusetzen und so rasch wie möglich Eckdaten der eigenen Lebensplanung in Angriff zu nehmen, als sich für die Gemeinschaft einzusetzen. Die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht und damit auch des Zivildienstes als schicht- und klassenübergreifenden Gemeinschaftsaufgaben traf kaum auf Widerstand. Nun sind Bundesfreiwilligendienst und freiwilliger Wehrdienst an deren Stelle getreten und bieten an, jungen Menschen etwas von einer Erziehung zum Staatsbürger mitzugeben. Mit Rousseau mögen sich Schulabgänger und Eltern bewusst machen, dass ein Mensch, der sich im Laufe seines Lebens zu einer authentischen Persönlichkeit entwickelt, als Bürger auch Verantwortung für das Gemeinwesen trägt, das ihm ermöglicht, frei zu sein und sich selbst zu verwirklichen.

  22. Beispielsweise haben Unternehmen ihre Flexibilität gegenüber den Beschäftigten erweitern können, hat die Schwächung der gesetzlichen Rentenversicherungen diejenigen gestärkt, die individuelle private Vorsorge betreiben, gehen im Gesundheitswesen die Interessen von Pharmaindustrie, Krankenhausbetreibern, Ärzten, Pflegepersonal und Patienten zunehmend auseinander.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Christiane Bender für bpb.de

Sie dürfen den Text unter Nennung der Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE und des/der Autors/-in teilen.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern / Grafiken / Videos finden sich direkt bei den Abbildungen.
Sie wollen einen Inhalt von bpb.de nutzen?

Dr. rer. pol. habil., Dr. phil., Dipl.-Soz.; Professorin an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg, Holstenhofweg 85, 22043 Hamburg. E-Mail Link: bender@hsu-hh.de