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Fernab jeder Romantik – Piraterie vor der Küste Somalias

Kerstin Petretto David Petrovic

/ 16 Minuten zu lesen

Moderne Piraterie ist fern jeder romantischen Verklärung der frühneuzeitlichen Freibeuterei auf See. Piraterie ist ein Verbrechen, meist sogar, wie im Falle der Piraterie vor Somalia, ein organisiertes Verbrechen: Somalische Piraten bedrohen die Freiheit der Seeverkehrswege, terrorisieren Schiffsbesatzungen, verursachen ökonomische Kosten und tragen zu einer Destabilisierung nicht nur Somalias, sondern auch der umliegenden Region bei. Das Leitmotiv der Piraten ist dabei nicht der Schutz der Küstengewässer- und Bewohner, sondern persönliche Bereicherung. Dies geht zu Lasten der Besatzungen und ihrer Familien, die oft monatelang, teils über Jahre, im Ungewissen bleiben über den Verbleib ihrer Familienangehörigen. Mehr als 3100 Seefahrer wurden nach Angaben des International Maritime Bureau (IMB) zwischen 2008 und 2011 Geiseln somalischer Piraten, waren Folter und Erniedrigungen ausgesetzt oder fanden den Tod.

Obwohl Piraterie eng verflochten ist mit der Seefahrt, war es lange Zeit ein vernachlässigtes, beinah vergessenes Phänomen. Erst einige spektakuläre Entführungsfälle vor Somalia im Jahr 2008 lenkten den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit auf diese Form der Kriminalität – obwohl auch in den Jahren zuvor weltweit Schiffe angegriffen wurden. Der geografische Schwerpunkt hatte sich nur aus den scheinbar fernen Gewässern Südostasiens vor die "Haustür Europas" in die Hauptverkehrsader im globalen Handel verlagert: in den Golf von Aden und den Indischen Ozean. Gleichzeitig erfolgte eine Neuausrichtung der Piraterie: Während in Südostasien vornehmlich Schiffe und Yachten überfallen werden, um Waren und Bargeld zu erbeuten, und nur in seltenen Fällen Handelsschiffe samt Besatzung entführt werden, veränderte das somalische "Geschäftsmodell" die Perzeption von Piraterie erheblich. Es entwickelte sich mit steigenden Angriffszahlen, erfolgreichen Entführungen und enormen Lösegeldeinnahmen von einem ökonomischen Ärgernis zu einem Problem, das vitale Interessen vieler Staaten tangiert.

In diesem Beitrag umreißen wir die Entwicklungslinien der Piraterie im Kontext der politischen Situation Somalias, zeigen Hintergründe und aktuelle Trends auf und weisen darauf hin, dass die Bekämpfung der Piraterie nicht nur rein militärischer Maßnahmen und der Unterstützung der Zentralregierung in Mogadischu bedarf, sondern vielmehr regionale und lokale Regime beziehungsweise Autoritäten eingebunden werden müssen.

Politischer Kontext – Somalia

Seit dem Kollaps der Regierung Siad Barre 1991 gilt das Land am Horn von Afrika gemeinhin als zerfallender Staat. Im Nordwesten spaltete sich bereits im gleichen Jahr in den Grenzen der ehemaligen britischen Kolonie Somaliland ab, Puntland im Nordosten folgte 1998 mit einer Teilautonomie. Während in beiden Regionen durch Kompromisse der ansässigen Clans ein relatives Maß an Stabilität erreicht wurde, versank der Rest des Landes in einem mittlerweile mehr als 20 Jahre andauernden Bürgerkrieg. Im Sommer 2006 konnte eine Vereinigung islamischer Gerichtshöfe (Union of Islamic Courts, UIC) die in Mogadischu herrschenden Warlords sowie die durch westliche Staaten unterstützte Übergangsregierung militärisch besiegen und weite Teile Süd-Zentralsomalias unter ihre Kontrolle bringen. Eine daraufhin erfolgte militärische Intervention Äthiopiens ließ das Land in eine Phase der blutigsten Auseinandersetzungen seit 1991 eintreten. Im Herbst 2006 gelang es den äthiopischen Truppen mit Unterstützung der USA die UIC aus ihren Stellungen zu vertreiben. Teilweise wurden sie in eine neu formierte Übergangsregierung integriert, wobei eine ihrer Führungspersonen, Sharif Sheikh Ahmed, zum neuen Präsidenten Somalias gekürt wurde. Dennoch hat sich die Lage seither kaum gebessert: Die von 2009 bis August 2012 in Folge von Friedensverhandlungen eingesetzte Übergangsregierung ist in ihrem Wirkungskreis sehr beschränkt und auf Unterstützung aus dem Ausland angewiesen. Erst im Herbst 2011 erlangte sie teilweise die Kontrolle über die Hauptstadt Mogadischu, aber auch das nur durch den militärischen Einsatz der Friedenstruppe der Afrikanischen Union. Die aus den Milizen der UIC hervorgegangene, al-Qaida nahestehende islamistische Miliz al-Shabaab kontrolliert hingegen seit 2007 weite Teile Süd-Zentralsomalias. Seit Oktober 2011 sieht sie sich ihrerseits mit einer militärischen Intervention von Kenia und Äthiopien konfrontiert, die sie mittlerweile aus ihren wichtigsten Stellungen, inklusive der wirtschaftlich bedeutsamen Hafenstädte Mogadischu, Merka und Kismayo, vertreiben konnte. Somalia ist also mitnichten auf dem Weg zur Stabilität. Zwar wurde das Ende der Übergangsregierung durch die Wahlen vom August 2012 eingeläutet, es bleibt jedoch abzuwarten, inwieweit die neue Regierung unter Präsident Hassan Sheikh Mohamud eine Herrschaft im Land etablieren und vor allem den Frieden und die Aussöhnung vorantreiben kann.

Der politische Kontext bietet nur teilweise einen Anhaltspunkt für die Entwicklung der somalischen Piraterie. Bestimmende Faktoren fragiler Staatlichkeit wie mangelnde Durchsetzungskraft politischer Institutionen, ein schwacher Sicherheitssektor, Korruption, ein hoher Grad an Gewalt oder geringe Einkommensmöglichkeiten unterstützen das Entstehen krimineller Strukturen generell. Treffen diese Faktoren auf Bedingungen, die speziell die Kriminalität auf See begünstigen (insbesondere die Nähe zu stark befahrenen Seewegen, lange, leicht zugängliche Küstenstreifen, Bevölkerungsteile mit Kenntnissen in der Seefahrt), dann ist das Vorkommen von Piraterie sehr wahrscheinlich.

Piraterie als lokales Phänomen

Aber obwohl all die genannten Faktoren auf einen Großteil Somalias zutreffen, ist Piraterie keineswegs ein gesamtsomalisches Phänomen. Während sich den Piraten fast die gesamte nördliche und östliche Küstenlinie als Ausgangspunkt anbietet, gibt es doch nur einige wenige Regionen, die ihnen als Rückzugsorte dienen und in deren vorgelagerten Gewässern sie entführte Schiffe bis zur Lösegeldübergabe festhalten können. Besonders die Dörfer entlang der Küstenlinie Puntlands am geografisch auffälligen "Horn" im Nordosten des Landes sowie einige Küstendörfer im Mudug in Zentralsomalia gelten als ihre Rückzugsbasen. Diese Regionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie erstens weder durch staatliche noch durch teilstaatliche Administrationen umfassend kontrolliert werden, zweitens kaum von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen bewaffneten Gruppen betroffen sind, drittens infrastrukturell kaum erschlossen sind, viertens eine homogene Clanstruktur aufweisen und fünftens die Anwohner auf maritime Kenntnisse – etwa resultierend aus der Fischerei beziehungsweise in Puntland zudem die Mitarbeit bei Küstenwachen – zurückgreifen können. Die Entwicklung der Piraterie vor den Küsten Somalias lässt sich grob in drei Phasen zusammenfassen: Von Überfällen in Küstennähe, ausgeführt durch kleinere, lose organisierten Gruppen – der low scale piracy – über eine Phase der Professionalisierung zu Beginn des neuen Jahrtausends hin zur Phase der Eskalation und Expansion seit 2008.

Low Scale Piracy

Bis in das neue Jahrtausend hinein wurden seit 1991 jährlich rund 10 bis 20 Überfälle registriert, wobei gerade in dieser Zeit die Dunkelziffer als hoch gilt. Piraterie basierte dabei auf unterschiedlichen Motiven: Die Konfliktlinien an Land fanden erstens ihr Pendant auf See, indem es vor allem bis Mitte der 1990er Jahre zu Angriffen auf Schiffe der verschiedenen Konfliktparteien kam. Zweitens kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen somalischen Fischern einerseits und zwischen einheimischen und ausländischen Fischtrawlern andererseits. Dabei wurden auch Schiffe entführt und ein "Zoll" oder eine "Fischereigebühr" – faktisch ein Lösegeld – eingefordert. Drittens wurden im Auftrag von Regionalstaaten von privaten Anbietern wie Hart Security oder Somcan Küstenwachen organisiert. Diese verkauften nicht nur Fischereilizenzen an ausländische Trawler, sondern wurden auch zur, teilweise gewaltsamen, Abschreckung nicht-lizenzierter und somit illegaler Fischer eingesetzt. Zudem wurden an der somalischen Küste vorbeiziehende Schiffe geplündert, ihrer geladenen Güter beraubt und teilweise auch entführt. Schwerpunkt der Piraterie in dieser Zeit bildeten die Gewässer vor Puntland und Somaliland sowie um die Hafenstädte Mogadischu, Merka und Kismayo, wenngleich die Piraterie in dieser Zeit eher eine Gelegenheitskriminalität darstellte. Das "Geschäftsmodell" der Lösegelderpressung findet sich zwar bereits in dieser frühen Phase, auch wenn mitnichten die Summen zur Auslösung der Schiffe bezahlt wurden wie heute und die Fälle sich auf einige wenige Ausnahmen beschränkten.

Phase der Professionalisierung

Seit 2002 operierten einige Piratengruppen vorrangig aus dem Grenzgebiet zwischen Somaliland und Puntland sowie aus der Bari-Region in Puntland heraus. Dass ihre Aktivitäten dabei kaum etwas mit der Abwehr illegaler Fischerei zu tun haben, sondern primär auf finanziellen Motiven beruhen, wird anhand der Entwicklungen zwischen 2003 und 2004 deutlich: Damals wurden von bis dato vor allem an Land aktiven Warlords mehrere Piratengruppen aufgebaut, die durchaus als Syndikate bezeichnet werden können. Diese Gruppen zeichneten sich durch klare Hierarchien und Zuständigkeiten aus und waren einzig darauf ausgerichtet, Schiffe anzugreifen und gegen Lösegelder wieder freizugeben. Unterstützung erhielten diese Gruppen von erfahrenen Piraten. Diese zunehmend organisierte Piraterie hatte zur Folge, dass es 2005 zu einem starken Anstieg der Angriffszahlen vor der Nord- und Nordostküste Puntlands im südlichen Golf von Aden sowie vor Süd-Zentralsomalia kam.

Phase der Eskalation und Expansion

Infolge der kriegerischen Auseinandersetzungen 2006 ging die Piraterie entlang der gesamten Küste drastisch zurück, um dann über die Jahre 2007/2008 in die Phase der Eskalation zu münden. Vor allem zwei Faktoren waren hierfür entscheidend: Erstens begünstigte der Rückzug der Islamisten und das 2006/2007 entstandene Machtvakuum in Süd-Zentralsomalia die Reorganisation der Piratengruppen um verschiedene Warlords in Hobyo, Harardhere und Merka in Zentralsomalia. Denn dort entstanden Räume, die weder von gravierenden kriegerischen Auseinandersetzungen betroffen waren noch irgendeiner staatlichen oder regionalstaatlichen Kontrolle unterlagen. Einhergehend mit einer politischen und wirtschaftlichen Krise in Puntland kam es zweitens zu einer Hyperinflation und zu Auflösungserscheinungen der dortigen staatlichen Sicherheitskräfte – auch der Küstenwache – mit der Folge eines massiven Anstiegs der Kriminalitätsrate. Der puntländischen Regierung entglitt weitgehend die Kontrolle über den nordöstlichen Küstenstreifen, insbesondere über die Regionen Bari, Nugaal und Mudug mit den Piratendörfern Eyl, Hafuun und Garacad. Die Piraten konnten sich entsprechend reorganisieren und erhielten zudem Zulauf aus dem Süden. Auch ehemalige Küstenwächter und Milizionäre schlossen sich den Piraten an. Äußerst schwache staatliche Strukturen und defizitäre, korrupte Sicherheitskräfte sowie eine in den jeweiligen Regionen ruhige Sicherheitslage begünstigten ab Ende 2007 die Piraterie und wirkten als katalytisches Moment für die Eskalation der Angriffszahlen: Wurden 2007 31 Angriffe registriert und dabei 11 Schiffe und 154 Besatzungsmitglieder entführt, so gab es im Jahr 2008 bereits 111 Angriffe, davon allein 92 im Golf von Aden. Mit 42 Schiffsentführungen endeten nahezu 40% der Angriffe aus Sicht der Piraten erfolgreich.

Mit der zunehmenden Präsenz von Marinestreitkräften zum Schutz der Schifffahrt vor Piraterie seit Ende 2008 etwa im Rahmen der EU-Operation ATALANTA oder der NATO-Operation "Ocean Shield" war indes kein Rückgang der Angriffszahlen zu verzeichnen. Vielmehr reagierten die Piraten auf die Präsenz der Streitkräfte und dehnten ihr Operationsgebiet massiv aus. Hierbei nutzen sie Mutterschiffe, welche die kleinen wendigen Angriffsboote, sogenannte Skiffs, im Schlepp mitführen und den Piraten eine längere Stehzeit auf See und einen größeren Operationsradius ermöglichen. Dieser erstreckt sich mittlerweile über den Golf von Aden, das Arabische Meer im Norden, den Indischen Ozean mit der Westküste Indiens als östliche und der Straße von Mosambik als südliche Begrenzung. Zwar wurde auch das Einsatzgebiet der Militäroperationen entsprechend ausgeweitet. Der Effekt hielt sich jedoch in Grenzen, und dies aus einfachem Grund: Ein Gebiet, das etwa zehnmal so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland, mit einigen wenigen Marineeinheiten zu überwachen, die zudem, wie im Falle von ATALANTA, vornehmlich im Golf von Aden sowie zum Begleitschutz von Schiffen des Welternährungsprogramms eingesetzt werden, ist kaum möglich. Mit der Ausweitung des Aktionsradius verdoppelten sich 2009 die Angriffszahlen gegenüber 2008 mit 217 verzeichneten Attacken, wobei 47 Schiffe und 867 Seefahrer entführt wurden.

Motivationen und Organisationsstrukturen

Dieser Überblick über die Entwicklung der somalischen Piraterie verdeutlicht einmal mehr, dass diese ein zunehmend organisiertes Verbrechen ist, getrieben durch Lösegeldeinnahmen. Diese haben sich in den vergangenen Jahren rapide erhöht: Wurden in den 1990er Jahren noch einige Hunderttausend US-Dollar pro Schiff bezahlt, so waren es 2009 im Durchschnitt rund 3,4 Millionen und 2010 bereits mehr als 5 Millionen US-Dollar. Jährlich können die Piraten so Lösegeldzahlungen von rund 150 bis 180 Millionen US-Dollar verbuchen, was den Gesamthaushalt Puntlands von etwa 16–20 Millionen US-Dollar bei weitem übertrifft. Dabei fließt der größte Teil des Geldes, laut aktuellen Schätzungen etwa 70Prozent, in die Kassen der Organisatoren im Hintergrund, an lokale Autoritäten oder Mitglieder regionaler Administrationen sowie an Milizen, die die jeweilige Region kontrollieren. Doch auch für das "Fußvolk" der Piratengruppen lohnt sich das Geschäft: Während ein Angehöriger der puntländischen Sicherheitskräfte rund 50 bis 70 US-Dollar im Monat verdient, kann ein Pirat ein Vielfaches dessen einnehmen. Gleichwohl erhalten die Angreiferteams der Piraten nur dann Geld, wenn sie zuvor erfolgreich ein Schiff entführen konnten. Sie sind somit fast schon gezwungen solange anzugreifen, bis sie erfolgreich sind. Die Gewinnbeteiligung richtet sich innerhalb der Gruppen zumeist anteilig nach der Stellung des Einzelnen sowie nach zuvor ausgehandelten Richtlinien. Die organisierten Syndikate können dabei grob über vier Hierarchieebenen charakterisiert werden. Investoren, die erhebliche Summen für die Beschaffung von Skiffs, Ausrüstung, Logistik und Schutzmaßnahmen bereitstellen, sowie für die Dauer der Lösegeldverhandlungen die notwendigen Auslagen tätigen, stehen an erster Stelle. Sie erhalten ihr Investment mit teils erheblichen Gewinnmargen zurück. Auf der zweiten Stufe finden sich lokale Anführer, die für das operative Vorgehen zuständig sind und dabei oft mehrere Angreifertrupps organisieren. Die eigentlichen Piraten auf See können in einer dritten Gruppe verortet werden, wobei sich auch hier der Anteil an der jeweiligen Rolle des Einzelnen orientiert – etwa zwischen dem Koch auf einem Mutterschiff oder dem Piraten, der als erster ein Schiff entert. Auf der letzten Stufe finden sich diejenigen, welche die entführten Schiffe sowie die Ausgangsbasen an Land absichern.

Aktuelle Trends

Blieben die Zahlen 2010 auf nahezu gleichem Niveau wie im Vorjahr (219 Angriffe, 49 Schiffsentführungen und 1016 entführte Crewmitglieder), ist seit 2011 ein Rückgang bei den erfolgreichen Angriffsversuchen festzustellen: Zwar wurden immer noch 237 Attacken registriert, diese verliefen jedoch mit 28 entführten Schiffen in lediglich 12 Prozent der Fälle aus Sicht der Piraten erfolgreich. Dieser rückläufige Trend setzt sich seitdem fort und schlägt sich seit Frühjahr 2012 erstmals auch in den Angriffszahlen nieder: Für das gesamte erste Halbjahr 2012 wurden "nur" 69 Angriffe und 13 Schiffsentführungen registriert, während im gleichen Vorjahreszeitraum bereits 163 Angriffe und 21 Entführungen erfolgt waren. Zwischen Juli und August 2012 wurde kein einziger Angriff durch somalische Piraten gemeldet – eine Premiere seit nunmehr vier Jahren. Zwar werden aus versicherungstechnischen Gründen Angriffe durch die Reeder mittlerweile oft nur dann gemeldet, wenn ein Schaden am Schiff nachweisbar ist beziehungsweise Mitglieder der Besatzung verletzt oder getötet wurden. Dennoch ist eine leichte Entspannung der Lage vor der somalischen Küste nicht von der Hand zu weisen. Worin die Gründe hierfür liegen ist allerdings bislang nicht eindeutig zu klären. Der vermehrte Einsatz von privaten bewaffneten Sicherheitsteams an Bord der Handelsschiffe in den zwei Jahren gilt, neben dem Druck der militärischen Missionen, als maßgeblich. Denn bislang konnte noch kein Schiff entführt werden, das bewaffnetes Personal an Bord hatte. Sogenannte passive Abwehrmaßnahmen haben sich hingegen bislang nicht als ausreichende Mittel zur Abwehr der Piraten erwiesen. Der Einsatz von bewaffneten Sicherheitsteams bedarf allerdings einer äußerst kritischen Betrachtung: Zum einen besteht das Risiko, dass diese gemäß dem Motto shoot first, ask questions later agieren und somit auch unschuldige Personen wie lokale Fischer zu Schaden kommen. Zudem bestehen keinerlei nationale oder internationale Mechanismen, die eine Überwachung ihrer Einsätze an Bord ermöglichen würden. Da die Piraten bislang auf alle Gegenmaßnahmen durch eine Anpassung ihrer Vorgehensweise reagiert haben, kann zum anderen trotz der aktuell niedrigen Angriffsraten nicht ausgeschlossen werden, dass sie Taktiken entwickeln, um den bewaffneten Schutz der Schiffe zu überwinden. Die Folge könnten mehr Verletzte und Tote sowie eine erneute Erhöhung ihrer Erfolgsquote sein.

Neben dem Druck von See sehen sich die Piraten auch an Land mit zunehmender Gegenwehr konfrontiert, was sich gerade auf lange Sicht als effizienter und effektiver erweisen könnte: Puntland ging im Frühjahr 2012 erstmals mit eigenen, neu aufgestellten Sicherheitskräften – den Puntland Maritime Police Forces (PMPF) – gegen einige bekannte Stützpunkte der Piraten vor und es gelang ihnen, ehemalige Piratendörfer wie Eyl zu sichern. Auch die lokale Bevölkerung entlang der nordöstlichen Küste setzte sich teilweise gegen Piratengruppen zur Wehr und verweigerte ihnen den Zugang zu ihren Dörfern. Innerhalb der Piratengruppen ist ebenfalls ein Wandel erkennbar. Der Verlust von Rückzugsbasen durch landgestützte militärische und polizeiliche Maßnahmen hat sie zur besseren Zusammenarbeit gezwungen. Zudem haben einige Piratengruppen nicht nur ihren Operationsradius erweitert, sondern auch ihre Angriffstaktik an die verschärften Gegenmaßnahmen auf den Schiffen angepasst: Sie greifen vermehrt mit mehreren Skiffs gleichzeitig an, um den Besatzungsmitgliedern und etwaigen privaten Sicherheitsteams die Abwehr zu erschweren und verfügen über bessere technische Ausrüstung wie Satellitentelefone oder GPS-Geräte.

Durch die zurückgehende "Erfolgsquote" sind die Piraten obendrein gezwungen, immer höhere Lösegelder zu akquirieren, um ihre eigenen Investitionen zu decken. Dies führte dazu, dass sich die Dauer der Lösegeldverhandlungen seit 2008 erheblich verlängerte. Wurde 2008 und 2009 noch relativ selten von gewaltsamen Übergriffen der Piraten auf ihre Geiseln berichtet, so wenden die Gruppen nun auch deutlich häufiger Gewalt an, um den Druck auf die Reeder im Zuge der Verhandlungen zu erhöhen. Zudem werden auch nach einer Lösegeldzahlung teilweise einige Besatzungsmitglieder zur Erfüllung weiterer Forderungen zurückbehalten. Und nicht zuletzt haben einige Gruppen aufgrund des eingegrenzten Handlungsspielraums auf hoher See ihr "Geschäftsmodell" auf die Entführung von westlichen Urlaubern aus kenianischen Luxusressorts und Mitarbeiter internationaler und nationaler Hilfsorganisationen ausgeweitet.

Fazit

Die Entwicklung der somalischen Piraterie seit dem Zusammenbruch des Staates 1991 basiert auf einer regionalen und lokalen Gemengelage soziopolitischer und ökonomischer Faktoren sowie der Initiative krimineller Akteure zur Etablierung eines lukrativen "Geschäftsmodells" zur See. Das internationale politische Engagement zur Pirateriebekämpfung stützt sich bislang vorrangig auf seeseitige, militärische Abschreckungsmaßnahmen, den Aufbau beziehungsweise Ausbau von Strafverfolgungsmechanismen in der angrenzenden Region sowie, mit der Unterstützung der Übergangsregierung in Mogadischu, auf einen state-first Ansatz. Sicherlich kann vor allem militärisches Engagement abschreckend auf die Piraten wirken und hat auch bereits zu einer Verbesserung der Lage geführt. Ein langfristiger Erfolg im Sinne einer tatsächlichen Unterbindung der somalischen Piraterie ist damit jedoch nicht gesichert. Die schiere Größe des Einsatzgebietes, Priorisierungen im Mandat sowie nationale Vorbehalte setzen den Militärkräften bereits enge Grenzen. Vor allem aber gilt sowohl ihr als auch der Einsatz der privaten Sicherheitskräfte allein der Abwehr von Angriffen, während die Ursachen des Problems an Land nach wie vor kaum angegangen werden: Lokale Sicherheitsstrukturen und Initiativen zur Bekämpfung der Aktivitäten von Piraten wurden bisher entweder kaum wahrgenommen oder kritisch beäugt statt aktiv gefördert. Ebenso sind Programme zur Kriminalitätsprävention in den Küstendörfern bislang kaum vorhanden.

Gleichwohl bietet die derzeitige Situation mit einer rückläufigen Angriffs- und Entführungsquote Chancen, die politisch genutzt werden können: Da die Übergangsregierung bislang in keiner der Regionen Einfluss entfalten konnte, aus denen heraus die Piraten operieren, sollte nun – im Sinne einer Somalisierung – verstärkt in einem Mehrebenenansatz mit regionalen und lokalen Autoritäten und Gemeinschaften vor allem in Puntland und im Mudug zusammengearbeitet werden. Dabei könnte die Bildung landbasierter Küstenwachen und Milizen zur Sicherung der Küstendörfer ebenso unterstützt werden wie die Stärkung lokaler, oftmals traditioneller, Mechanismen zur Ahndung von Verbrechen und der Aufbau legaler Beschäftigungsmöglichkeiten. Wichtig ist dabei vor allem die Anknüpfung an bereits bestehende Strukturen und eine Einbindung der Bevölkerung. Denn diese bildet nicht nur die primäre Rekrutierungsbasis für Piraten, sondern auch die Zukunft des Landes – für die nur sie allein, und nicht ausländische Investoren, Entwicklungshelfer oder Staatsvertreter verantwortlich sind. Um Piraterie wieder in die Welt der Geschichtsbücher und Abenteuerromane zu verbannen und die durchaus romantisch anmutenden Küstenstreifen Somalias wieder in ihre Hände zu geben, bedürfen daher in erster Linie die Bewohner Somalias einer Unterstützung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Piraterie wird hier verstanden als ein von privaten Akteuren geführter Angriff auf ein Schiff innerhalb der Territorialgewässer oder der ausschließlichen Wirtschaftszone eines Küstenstaates oder auf hoher See mit dem Ziel der persönlichen Bereicherung. Vgl.: Kerstin Petretto, Diebstahl, Raub und erpresserische Geiselnahme im maritimen Raum. Eine Analyse zeitgenössischer Piraterie, Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Heft 158, Hamburg 2012, S. 13. Zur rechtlichen Einordnung der Piraterie vgl. Tim René Salomon, Rechtliche Dimensionen des maritimen Raumes, in: Sebastian Bruns/Kerstin Petretto/David Petrovic (Hrsg.), Die maritimen Dimensionen von Sicherheit, Wiesbaden i.E.

  2. Vgl. die Jahresberichte "Piracy and Armed Robbery against Ships" des IMB (International Maritime Bureau) für 2008–2011; zudem: Kaija Hurlburt/Cyrus Mody, The Human Cost of Somali Piracy 2011, International Maritime Bureau/Oceans Beyond Piracy, London–Broomfield 2012, S. 4.

  3. Vgl. zur Theorie der Versicherheitlichung: Christian Buerger, Theorien der Maritimen Sicherheit: Versicherheitlichungstheorie und sicherheitspolitische Praxeographie, in: Sebastian Bruns/Kerstin Petretto/David Petrovic (Hrsg.), Die maritimen Dimensionen von Sicherheit, Wiesbaden i.E.

  4. Zum Begriff des zerfallenden Staates vgl. APuZ, (2005) 28–29 sowie Alexander Straßner, Somalia in den 1990ern: Theorien des Staatszerfallkrieges, in: Rasmus Beckmann/Thomas Jäger (Hrsg.), Handbuch Kriegstheorien, Wiesbaden 2011, S. 457–465.

  5. Vgl. die Datenbank "Anti-Shipping Activity Messages" (ASAM) der National Geospatial-Intelligence Agency, Externer Link: http://msi.nga.mil/NGAPortal/MSI.portal?_nfpb=true&_pageLabel=msi_portal_page_65 (22.10.2012).

  6. Vgl. K. Petretto, (Anm. 1), S. 18; Roland Marchal, Somali piracy: The local contexts of an international obsession, in: Humanity 2 (2011) 1, online: Externer Link: http://www.humanityjournal.org/humanity-volume-2-issue-1/somali-piracy-local-contexts-international-obsession. (31.10.2012).

  7. Vgl. Jay Bahadur, Deadly Waters. Inside the hidden world of Somalia’s pirates. London 2011, S. 65; Stig Jarle Hansen,: Private Security & Local Politics in Somalia, in Review of African Political Economy, 35 (2008)118, S. 585–598.

  8. Vgl. ASAM (Anm. 5).

  9. Vgl. Stig Jarle Hansen, The Dynamics of Somali Piracy, in: Studies in Conflict & Terrorism, Vol. 35 (2012) 7–8, S. 523–530.

  10. Vgl. ders., Piracy in the greater Gulf of Aden. Myths, misconception and remedies. Norwegian Institute for Urban and Regional Research Report, (2009) 29, S. 24–27; David Petrovic, Piraterie am Horn von Afrika. Lokale Ursachen und internationale Reaktionen, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 5 (2012) 2, S. 279–298.

  11. Vgl. International Crisis Group, Somalia. The trouble with Puntland, Africa Briefing 64/2009.

  12. Vgl. International Maritime Bureau, Piracy and Armed Robbery against Ships. Annual report 2008, London 2009, S. 22.

  13. Vgl. Externer Link: http://www.eunavfor.eu (31.10.2012).

  14. Vgl. Externer Link: http://www.manw.nato.int/page_operation_ocean_shield.aspx (31.10.2012).

  15. Ausführlich hierzu: Hans Georg Ehrhart/Kerstin Petretto, The EU and Somalia: Counter-Piracy and the Question of a Comprehensive Approach, Hamburg 2012, S. 26–31.

  16. Vgl. International Maritime Bureau (Anm. 12), S. 5–6.

  17. Vgl. Financial Action Task Force, Organised Maritime Piracy and Related Kidnapping for Ransom, Paris 2011, S. 8.

  18. Hintergrundgespräch der Autoren mit Offiziellen aus Puntland, Oktober 2011; zudem: "Die Lösegeldzahlungen müssen ein Ende haben", Externer Link: http://www.ims-magazin.de/index.php?p=artikel&id=1322049300,1,dnp (22.10.2012).

  19. Geopolicity: The Economics of Piracy. Pirate Ransoms & Livelihoods off the Coast of Somalia, 2011, S. 11, Externer Link: http://www.geopolicity.com/upload/content/pub_1305229189_regular.pdf (22.10.2012).

  20. Schätzungen zufolge rund 10000 bis 15000 US-Dollar nach erfolgter Lösegeldzahlung in Höhe von einer Million US-Dollar. Vgl. International Expert Group on Piracy off the Somali Coast; Final Report 2008, S. 17.

  21. Hintergrundgespräch der Autoren mit NATO-Offiziellen sowie Angehörigen der Bundeswehr, März/Mai 2011.

  22. Vgl. International Maritime Buereau (Anm. 12), S. 5–8.

  23. Vgl. Mike Planz, Piracy attacks drop to zero for first full month in five years, 8.8.2012 Externer Link: http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/piracy/9462185/Piracy-attacks-drop-to-zero-for-first-full-month-in-five-years.html (19.10.2012).

  24. Hintergrundgespräche der Autoren mit Mitarbeitern privater Sicherheitsfirmen, Juli und August 2012.

  25. Die Einheiten von NATO und EU hatten unter anderem seit dem Frühjahr 2010 ihre Präsenz vor den bekannten Piratendörfern verstärkt und seegehende Mutterschiffe frühzeitig abgefangen.

  26. Vgl. M. Planz (Anm. 21).

  27. Vgl.: Best Management Practices for Protection against Somalia Based Piracy, Edinburgh 2011, online: Externer Link: http://www.gard.no/webdocs/BMP4.pdf (19.10.2012).

  28. Hintergrundgespräch der Autoren mit einem Mitarbeiter der Vereinten Nationen, Oktober 2011.

  29. Dabei sind die Gruppen nicht notwendigerweise direkt in die Entführung selbst involviert, sondern übernehmen die Geiseln und führen Lösegeldverhandlungen. Vgl. United Nations Security Council, Report of the Monitoring Group on Somalia pursuant to Security Council resolution 751 (1992) and 1907 (2009), S/2012/544, New York 2012, S. 212.

  30. Vgl. ebd., S. 249–281.

  31. Als ein Schritt in diese Richtung könnte sich die neu initiierte zivil-militärische Mission "Regional Maritime Capacity Building for the Horn of Africa and the Western Indian Ocean" (EUCAP NESTOR) der EU erweisen. Sie sieht vor, in ausgewählten Staaten der Region Marineeinheiten, Küstenwachen und Polizeikräfte zum Schutz der Küstengebiete auszubilden. Vgl. Externer Link: http://www.consilium.europa.eu/eeas/security-defence/eu-operations/eucap-nestor (19.10.2012).

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Kerstin Petretto, M.A., geb. 1977: Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rahmen des Forschungsprojekts "PiraT – Piraterie und Maritimer Terrorismus als Herausforderungen für die Seehandelssicherheit" am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH), Beim Schlump 83, 20144 Hamburg. E-Mail Link: petretto@ifsh.de

befasst sich im Rahmen seiner Dissertation am Lehrstuhl für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln mit dem Themenkomplex der Piraterie am Horn von Afrika. E-Mail Link: petrovic@uni-bonn.de