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Normkonformität durch soziale Kontrolle: Gesellschaftlicher Umgang mit "Unehelichen"

Peter Franz

/ 12 Minuten zu lesen

Mit dem Konzept der sozialen Kontrolle haben bereits verschiedene Gründungsväter der Soziologie (Émile Durkheim, Edward A. Ross) auf den Umstand verwiesen, dass der soziale Austausch zwischen Gesellschaftsmitgliedern nicht nur der kommunikativen (Begründung gemeinschaftlichen Zusammenhalts, Einbindung in Netzwerke) und materiellen (Tauschhandel) Bereicherung, sondern auch dem Zweck dient, die Geltung bestimmter sozialer Normen durchzusetzen. Diese Funktion, Normkonformität herzustellen, wurde wiederholt aufgegriffen in der mehr allgemeinsoziologisch ausgerichteten Diskussion darüber, welche Mechanismen zur Entstehung sozialer Ordnung beitragen. Es war schließlich Talcott Parsons, der in den 1940er Jahren das Konzept der sozialen Kontrolle als Reaktionen spezialisierter Institutionen auf abweichendes Verhalten eingrenzte – und damit die Aktivitäten bestimmter Kontrollinstanzen ins Blickfeld der Forschung rückte.

Im Lauf der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Gesellschaftsaspekt entstand ein ausdifferenziertes Gerüst von Begriffen, Modellen und Theorien. Diese Komplexität kann im vorliegenden Beitrag nicht einmal annähernd abgebildet werden. Daher konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf die mit dem Komplex der sozialen Kontrolle verbundene Terminologie in Form eines Crashkurses und die Anwendung der sozialen Kontrollperspektive auf den Umstand der "Unehelichkeit" von Kindern und Müttern. Anhand des historischen Wandels im gesellschaftlichen Umgang mit diesem ehemals Anstoß erregenden Thema lässt sich veranschaulichen, welchen Veränderungen die Formen sozialer Kontrolle im Zeitablauf unterworfen waren und sind.

Soziale Kontrolle von außen

Ausgangspunkt ist die Annahme, dass in einem Akt sozialer Kontrolle zumindest zwei Akteure – Kontrolleur (Kontrollinstanz) und Kontrollierte (Kontrollobjekt) – in Beziehung stehen. Allgemein wird hier soziale Kontrolle als Handlung eines Akteurs (Kontrollinstanz) angesehen, die entweder als Reaktion auf eine bestimmte wahrgenommene Handlung und einen Zustand (als Resultat vorangegangenen Handelns) oder aus präventiver Absicht erfolgt, bestimmte, noch nicht eingetretene Handlungen oder Zustände zu verhindern. Diese reaktiven und präventiven Interventionen erfolgen aus der Bewertung heraus, dass die wahrgenommenen sowie die prospektiv erwarteten Handlungen und Zustände von der Kontrollinstanz als normabweichend eingestuft werden. Die Summe der reaktiv oder präventiv angelegten Bemühungen, ein Kontrollobjekt zur Einhaltung der fraglichen Normen zu bewegen, wird auch als Kontrollarbeit bezeichnet. Dabei bleibt stets unsicher, ob die angestrebte Normkonformität auch erreicht wird: Die Ausübung sozialer Kontrolle kann also mehr oder minder erfolgreich sein, was im präventiven Fall (wie im Fall elterlicher Erziehung) erst nach Jahren oder Jahrzehnten beurteilt werden kann.

Neben der Differenzierung von reaktiver und präventiver sozialer Kontrolle werden auch die drei Dimensionen Verhalten, Persönlichkeit und Körper von Kontrollobjekten unterschieden, auf die Kontrollhandlungen alternativ oder additiv gerichtet sein können (vgl. Übersicht in der PDF-Version). Unterschiede zwischen verhaltens- und persönlichkeitsbezogenen Kontrollstrategien sind vor allem im therapeutischen Bereich von Bedeutung (wie etwa Verhaltenstherapie versus Psychoanalyse), wobei man von fließenden Übergängen zwischen beiden ausgehen muss. Trotz des Wandels gerichtlicher Sanktionen weg von körperlicher Bestrafung hin zu erzieherischen und pädagogischen Methoden sind auch heute noch Todesstrafe und Körperverstümmelungen in mehreren Staaten verbreitet.

Neben den Kategorien "reaktiv – präventiv" sowie den Dimensionen "Körper – Persönlichkeit – Verhalten" gibt es eine weitere differenzierende Dimension. Sie bezieht sich auf das Machtgefälle zwischen Kontrollinstanz und Kontrollobjekt und umfasst verschiedene Kontrollstile. Unter Gewalt und Zwang ausübende Kontrollhandlungen fallen von Gerichten ausgesprochene Gefängnisstrafen, Einweisungen in psychiatrische Anstalten, aber auch individuelle Willkürakte wie sogenannte Blutrache und Fememorde. Die Mehrzahl dieser Handlungen stellen Reaktionen auf kriminelles Handeln dar; es finden sich aber auch präventive Maßnahmen darunter. Indoktrinierende Methoden wie etwa Gehirnwäsche zielen zumeist auf eine Veränderung der kompletten Persönlichkeit und sind nur bei großem Machtgefälle oder Abhängigkeitsverhältnissen anwendbar.

Der Kontrollstil des Überwachens wird demgegenüber stärker für präventive Zwecke genutzt. In dieser Hinsicht haben technische Entwicklungen in den vergangenen Jahren für eine enorme Ausweitung der Kontrollmöglichkeiten gesorgt. Mit dem Einsatz neuer Überwachungstechniken ist auch eine größere räumliche und soziale Distanz zwischen Kontrollinstanz und -objekt möglich geworden. So werden beispielsweise Bürogebäude in einer Stadt per Videostandleitung von einer Sicherheitsfirma überwacht, die in einer anderen Stadt ansässig ist. Gleichzeitig bedeutet die vermehrte Zwischenschaltung von Apparaten eine Anonymisierung der Beziehung zwischen Kontrolleur und Kontrollierten.

Allerdings sind die Rückkoppelungsakte als eigentliche reaktive Kontrollhandlungen von dieser Automatisierung selbst nicht in gleichem Maße betroffen: Zum einen muss auch der Dieb, der beim Verlassen des Kaufhauses Alarm ausgelöst hat, wie "in alten Zeiten" erst noch geschnappt werden. Zum andern stehen die Kontrolleure vor dem Problem, dass die eingesetzten Techniken eine Vielzahl von Informationen liefern und damit die kosten- und zeitaufwändige und langweilende Aufgabe der Selektion und Verarbeitung der zufließenden Daten nach sich ziehen. Bei vielen Käufern und Nutzern von Überwachungsapparaturen steht demgegenüber deren erhoffter Präventionseffekt, Kriminalität abzuschrecken, im Mittelpunkt.

Von der Fremd- zur Selbstkontrolle

In der Übersicht bleibt unberücksichtigt, dass viele Kontrolleure Lernprozesse initiieren, in deren Verlauf sie danach streben, ihre Kontrollobjekte zur Selbstkontrolle anzuhalten und damit ihre Kontrolltätigkeit abzugeben. Elterliche Erziehung erscheint erst dann gelungen, wenn Kinder und Jugendliche Normen internalisiert haben und selbstverantwortlich handeln können. Des Weiteren sind zahlreiche Kontrollhandlungen im Rahmen des anleitenden oder überzeugenden Stils dadurch gekennzeichnet, dass Therapeuten, Berater und Sozialarbeiter ihre Klienten zu selbstverantwortlichem und selbstgesteuertem Handeln zu motivieren versuchen. Nicht nur Alkoholismus und Übergewicht werden heute als Abweichungen gesehen, die besser durch Selbsthilfegruppen als durch fremdgesteuerte Therapien korrigierbar sind.

Theorien, die auf der Annahme eines Individualisierungsprozesses gründen, behaupten übereinstimmend, dass Prozesse der sozialen Kontrolle zunehmend in das Individuum hinein verlagert werden, also ohne wahrnehmbare externe Kontrollinstanz ablaufen. Diese These wurde retrospektiv an historischem Material ausführlich entwickelt von Norbert Elias, der den Prozess zunehmender Selbstregulierung als konstitutiv für die Entwicklung der Zivilisation ansieht. Gemäß Elias wird die Affektkontrolle "zunächst durch gesellschaftliche Fremdzwänge gewährleistet, die später durch ansozialisierte Selbstzwänge ersetzt werden. Intrinsische, normgeleitete Motivationen ersetzen extrinsische, sanktionsorientierte Motivationen." Bei Elias bilden jene Individuen, welche die an sie gestellten Anforderungen der Selbstdisziplin meistern (zumeist Angehörige der Oberschichten), das Fundament für einen zivilisatorischen Fortschritt, der sich mit fortschreitender Zeit auch in den anderen sozialen Schichten durchsetzt.

Was die Verwendung des Begriffs soziale Kontrolle betrifft, so hat sich erwiesen, dass es nicht möglich ist, Fremdkontrolle und Selbstkontrolle mit einem einheitlich definierten Kontrollkonzept abzudecken, da bei letzterer Kontrollinstanz und -objekt zusammenfallen. Vorgänge reaktiver sozialer Kontrolle mit unterscheidbaren Kontrollinstanzen und -objekten sind empirisch relativ leicht beobachtbar. Doch Prozesse der Selbstkontrolle entziehen sich direkter empirischer Beobachtung. Letztlich kann immer nur von als konform bewerteten Handlungen auf gelungene Selbstkontrolle und von deviant bewerteten Handlungen auf misslungene Selbstkontrolle interpretierend rückgeschlossen werden.

Fallbeispiel: Unehelichkeit

Diese eher abstrakten Überlegungen werden im Folgenden anhand eines Beispiels konkretisiert. Dazu soll die Art und Weise des gesellschaftlichen Umgangs mit ledigen Müttern und ihren Kindern unter dem Blickwinkel des soeben vorgestellten Konzepts sozialer Kontrolle betrachtet werden. Zu diesem Zweck wird auch untersucht, wie sich bestimmte Kategorien, die in der oben stehenden Übersicht enthalten sind, empirisch ausformen beziehungsweise in der Vergangenheit ausgeformt haben.

Mit der Zuschreibung des Status’ der Unehelichkeit wird zunächst nur der Umstand angesprochen, dass eine unverheiratete Frau ein Kind zur Welt gebracht hat. Doch in jenen Gesellschaften, in denen "die patriarchalisch strukturierte eheliche Gemeinschaft mit legitimen Kindern (…) zum allgemeinverbindlichen Leitbild" wurde, war (und ist in Teilen auch heute noch) diese Zuschreibung mit einem komplexen Bündel an Sanktionen, Diskriminierungen und Stigmatisierungen verwoben. Diese Breite an Reaktionen zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht nur von formellen (Gerichte, Schulen, Jugendämter), sondern auch von informellen Kontrollinstanzen (Dorfgemeinschaft, Verwandtschaft, Arbeitskolleginnen und -kollegen) erfolgt. Der Buchtitel "Fräulein Mutter und ihr Bastard" verweist auf diese Diskriminierungstendenzen. Auch die Wissenschaftler, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Unehelichkeit und ihren Folgen empirisch auseinanderzusetzen begannen, konnten sich erst allmählich von solchen negativen Zuschreibungen und Diskriminierungstendenzen lösen.

Zugleich ist im Auge zu behalten, dass die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem sozialen Phänomen der Unehelichkeit untrennbar mit der Herausbildung und dem Aufstieg des Wohlfahrtsstaates im 19. und frühen 20. Jahrhundert verbunden war. Den einzelnen Etappen des staatlichen Umgangs mit "Unehelichen" und ihrer jeweiligen juristischen Untersetzung soll im Folgenden besondere Beachtung geschenkt werden.

Vom strafrechtlichen Tatbestand zur wohlfahrtsstaatlichen Disziplinierung

Um den Stellenwert der Unehelichkeit historisch einzuordnen, ist zu vergegenwärtigen, dass bis Anfang des 19. Jahrhunderts der Zugang zum Ehestatus vom sozialen und beruflichen Stand, von der Kirchenzugehörigkeit sowie von der Vermögenslage abhängig war. Die Geltung solcher Ausschlusskriterien "produzierte" unvermeidlich offiziell nicht gestattete sexuelle Beziehungen und in der Folge nicht eheliche Mutter- und Vaterschaft. In verschiedenen Fürstentümern wurden diese "Vergehen" strafrechtlich sanktioniert, sofern sie polizeilich und gerichtlich bekannt wurden. Die Gesetzesbestimmungen sahen Gefängnisstrafen, Geldbußen und öffentliche Denunzierung vor. So erließ der Herzog zu Sachsen-Coburg-Saalfeld im Jahr 1825 ein "Gesetz die einfachen fleischlichen Vergehen betreffend".

Dieser auf Körper und Verhalten ausgerichteten Zwangskontrolle formeller Instanzen standen häufig subtilere, aber nicht weniger diskriminierende Reaktionen informeller Kontrollinstanzen wie Herkunftsfamilie, Nachbarschaft oder Arbeitgeber zur Seite. Aus der heutigen Perspektive erscheint es offensichtlich, dass diese Kontrollarbeit – so schmerzhaft die damit verbundenen Sanktionen auch für die einzelnen Betroffenen waren – letztlich nur ein Sisyphus-Kampf gegen die Realitäten der menschlichen Natur sein und das unerwünschte Phänomen nicht eindämmen konnten.

Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts vervielfachten Urbanisierung und Industrialisierung die Gelegenheiten zur Aufnahme nicht ehelicher Beziehungen: Viele junge Frauen wechselten aus der dörflichen Gemeinschaft in anonymere städtische Lebenswelten und waren dort vielfach als Dienstmädchen und Fabrikarbeiterinnen der elterlichen und dörflichen Kontrolle entzogen und ihren Arbeitgebern und Hausherren ausgeliefert. Die damit verbundene Zunahme der Zahl nicht ehelicher Kinder, die materielle Armut ihrer Mütter und deren Herauslösung aus Familienverbänden erschwerten "private" Lösungen (Aufwachsen der Kinder bei Großeltern und anderen Verwandten; Abgabe der Kinder an Pflegestellen und -mütter). Dies und die mangelnde Qualität der bis dahin entstandenen öffentlich-kirchlichen Angebote an Findelhäusern begünstigten eine hohe Kindersterblichkeit, was wiederum erste Sozialreformer auf den Plan rief, die nach Lösungswegen aus dieser Misere suchten. Damit war die Saat gelegt für einen Wechsel der Sozialkontrolle weg von strafrechtlichen Sanktionen hin zu ersten wohlfahrtsstaatlich legitimierten Eingriffen: "Das uneheliche Kind wird explizit Thema unter dem Gesichtspunkt öffentlichen Schutzes. Wobei der Schutz hier zwei Dimensionen aufweist, eine medizinisch-ärztliche und eine gesellschaftspolitische."

Als ein solcher Sozialreformer entwickelte der Leipziger Armenarzt Max Taube ein Modell der Amtsvormundschaft, in dessen Rahmen die bis dato bei den Vormundschaftsgerichten verwalteten Vormundschaften für nicht eheliche Kinder auf die Leipziger "Ziehkinderanstalt" übertragen – das heißt vom juristischen in den fürsorgerischen Zuständigkeitsbereich verlagert – wurden. Gleichzeitig erfuhr die "Ziehkinderanstalt" eine Art Enthospitalisierung, indem nach "Ziehmüttern" für die dort betreuten nicht ehelichen Kinder gesucht wurde.

Diese neuen Pflegefamilien wurden einer rigiden fürsorgerischen Kontrolle durch weibliche Beamte unterworfen: "Bei ihrem Eintritt betrachtet sie die Ziehmutter, überblickt die Wohnung nach Größe, Raum, Licht und Reinlichkeit; fragt nach der Anzahl der Bewohner. Darauf prüft sie das Kind, die Lagerstätte, Betten, Kleidung; besichtigt dann genau das Kind und endlich die Nahrung. Über diesen Befund gibt sie einen kurzen Bericht an die Registratur. Gleichzeitig werden in das vorhandene Ziehkinderbuch durch zwei den Ziehmüttern unverständliche Buchstaben Bemerkungen über die Entwicklung und Verpflegung der Kinder eingetragen."

Reformerische Anstrengungen wie diese standen am Anfang einer Phase verstärkter fürsorgerischer Interventionen, die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dauerten. Erst das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) von 1900 gestand ledigen, volljährigen Müttern das Recht zu, für ihr Kind selbst zu sorgen, wobei für die rechtliche Vertretung ihrer Kinder nach wie vor ein öffentlich bestellter Vormund zuständig blieb.

Derartige rechtliche Besserstellungen konnten aber das Andauern informeller sozialer Kontrollen nicht verhindern. So stellte die Feministin und Mitbegründerin des Bundes für Mutterschutz Adele Schreiber im Jahr 1912 fest: "Am nachhaltigsten schädigten (…) das junge Weib, dessen ganze ‚Schuld‘ in seiner Mutterschaft besteht, die Härte der Eltern, die Sanktionen tugendhafter Arbeitgeber sowie die pharisäische Mitleidlosigkeit der Gesellschaft."

Wandel der staatlichen Kontrolle seit den 1950er Jahren

In der deutschen Öffentlichkeit ist wenig bekannt, dass jener Artikel des Grundgesetzes, der Ehe und Familie unter besonderen staatlichen Schutz stellt, auch den Absatz enthält: "Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern." Der Umstand, dass ein solches Gleichstellungsgebot in die Verfassung aufgenommen und praktisch unverändert aus der Verfassung der Weimarer Republik (Artikel 121) übernommen wurde, deutete auf eine unerledigte politische Aufgabe hin. Besondere Aktualität erhielt dieses Gebot vor dem Hintergrund einer Vielzahl durch Kriegseinwirkungen zerrissener Familien und einer wachsenden Zahl nicht ehelicher Kinder mit Erzeugern aus den Reihen der Besatzungsmächte.

Es dauerte aber bis zum Jahr 1970, als unter Justizminister Gustav W. Heinemann das Nichtehelichengesetz verabschiedet wurde. Dieses hatte unter anderem zur Folge, dass in allen Gesetzestexten der Begriff "unehelich" durch "nicht ehelich" ersetzt wurde. Das Gesetz bewirkte zudem einen wichtigen Schritt in Richtung Anerkennung des Zusammenlebens Alleinerziehender mit ihren Kindern als eine Form von Familie, indem das Kind unter die elterliche Sorge der Mutter gestellt wurde und nicht länger das Jugendamt als Amtsvormund fungierte. Von 1970 bis Mitte des Jahres 1998 übernahm das Jugendamt allerdings noch die Funktion des Amtspflegers und war hierin für Fragen der Vaterschaftsanerkennung und -feststellung, für die Klärung von Unterhaltsfragen sowie für Namens- und Erbrecht des Kindes zuständig.

Weitere Schritte in Richtung rechtlicher Gleichstellung und Rückzug fürsorglicher Kontrolle erfolgten im Rahmen der Kindschaftsreform 1998. Mit ihrer Umsetzung wurde die Unterscheidung von ehelichen und nicht ehelichen Kindern aufgehoben. Die Jugendämter stellten ihre Aktivitäten in Form von Amtspflegschaften ein und offerierten stattdessen ihre Dienste – sofern von den unverheirateten Alleinerziehenden beantragt – in Form von Beistandschaften in Vaterschafts- und Unterhaltssachen.

Damit war eine weitere Etappe des Rückzugs direkt intervenierender wohlfahrtsstaatlicher Kontrolle in innerfamiliäre Angelegenheiten Alleinerziehender vollzogen. Stattdessen hat der Wohlfahrtsstaat eine Palette von Beratungs- und Unterstützungsangeboten ausgebreitet, deren Nutzung die Eigenaktivität der Alleinerziehenden erfordert.

Allein von den Zahlen her sind mit dem Vollzug der deutschen Vereinigung Geburten außerhalb von Ehen eher zum Normal- als zum Ausnahmefall geworden: Seit 1991 hat sich der Anteil der nicht ehelichen Geburten mehr als verdoppelt. Im Jahr 2010 wurden in den ostdeutschen Ländern 61 Prozent und in den westdeutschen Ländern 27 Prozent nicht eheliche Geburten gezählt. Selbst von den zweiten Kindern wurden in den ostdeutschen Ländern noch 49 Prozent außerhalb einer Ehe geboren; in den westdeutschen Ländern betrug dieser Anteil dagegen nur 17 Prozent.

Resümee

Blickt man im Bewusstsein der soeben beschriebenen historischen Veränderungen auf die oben stehende Übersicht zurück, so ließe sich ein Trend einzeichnen, der von links oben nach rechts unten weist. Ein solcher diagonal verlaufender Pfeil entspricht praktisch dem Ergebnis

  1. eines Trends weg von Gewalt und Zwang ausübenden Modi sozialer Kontrolle hin zu Interventionen, die stärker auf Überzeugung und Anleitung beruhen, und

  2. einer Bewegung von oben nach unten, bedingt durch den wachsenden Stellenwert präventiver anstelle reaktiver Kontrollmodi und durch eine bereits längere Zeit anhaltende Tendenz, das Verhalten von Kontrollobjekten zu beeinflussen anstelle körperbezogene Sanktionen und Zwangsmaßnahmen einzusetzen.

Dem entspricht die These, dass eine Verwissenschaftlichung sozialer Kontrolle stattgefunden hat, in deren Gefolge Therapie- und andere "weiche" Behandlungsformen in das Repertoire von Kontrollaktivitäten Eingang gefunden haben.

Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass solche festgestellten Trends nicht unumkehrbar sind. Es wird im Zuge der zunehmenden gesellschaftlichen Fokussierung auf den Kinderschutz vom Personal der Jugendämter erwartet, dass sie in Fällen bedrohten Kindeswohls kontrollierend in Familien eingreifen und sogar mit Zwangsinstrumenten (Inobhutnahmen) Kinder aus diesen herausholen. Dies geschieht allerdings unabhängig davon, ob es sich bei den Eltern um Ehepaare, Unverheiratete oder Alleinerziehende handelt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Im Gefolge der intensiveren Befassung mit solchen spezialisierten Kontrollinstanzen (Polizei, Gefängnisse) bildete sich der Etikettierungs-Ansatz (labeling approach) heraus. Er unterstreicht, dass gerade die formellen Kontrollinstanzen als Verursacher von weiterem abweichenden Verhalten wirken können.

  2. Weite Teile dieses einführenden Abschnitts orientieren sich an: Peter Franz, Soziale Kontrolle ohne Kontrolleure? Veränderungstendenzen der Formen und des Konzepts sozialer Kontrolle, in: Soziale Probleme, 6 (1997) 1, S. 3–23.

  3. Vgl. John Griffiths, The division of labor in social control, in: Donald Black (ed.), Towards a general theory of social control, New York–London 1984.

  4. Vgl. Allan V. Horwitz, The logic of social control, New York–London 1990.

  5. Vgl. Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Frankfurt/M. 1976.

  6. Volker Eichener, Ratio, Emotion und Kognition, in: Zeitschrift für Soziologie, 18 (1989), S. 356.

  7. Sybille Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard, Göttingen 2004, S. 10.

  8. Ebd.

  9. Vgl. Max Taube, Der Schutz der unehelichen Kinder in Leipzig, Leipzig 1893; Othmar Spann, Die Stiefvaterfamilie unehelichen Ursprungs, Berlin 1904; ders., Untersuchungen über die uneheliche Bevölkerung in Frankfurt/M., Dresden 1905.

  10. Vgl. Eva Arnold, Familiengründung ohne Partner, Münster u.a. 1999, S. 14.

  11. Darin wurde unter anderem ausgeführt: "Das einfache fleischliche Vergehen, das heißt, der freiwillige Beischlaf einer ledigen Mannsperson mit einer unverheyratheten Weibsperson, soll künftig als ein gemeines Polizeyvergehen betrachtet und bestraft, und die Verhandlung der Untersuchung und die Bestrafung vor geistliche Gerichte nicht mehr gezogen, sondern beyde in Rücksicht auf die aus den Schwängerungen entstehenden civilrechtlichen Folgen (…) den treffenden Justizbehörden ausschließlich übertragen werden" (§1).

  12. Zahlenangaben zum Beruf nicht ehelicher Mütter um 1900 finden sich bei: O. Spann, 1905 (Anm. 9), S. 33; S. Buske (Anm. 7), S. 43.

  13. Dag Schölper, Disziplinierung der Geschlechter im Namen des Kindeswohls, Berlin 2010, S. 139.

  14. M. Taube (Anm. 9), S. 38.

  15. Vgl. E. Arnold (Anm. 10), S. 17.

  16. Adele Schreiber (Hrsg.), Mutterschaft, München 1912, zit. nach: Der Spiegel, Nr. 16 vom 15.4.1968, S. 41.

  17. Art. 6 Abs. 5 GG.

  18. Im Familiengesetzbuch der DDR wurde bereits seit 1950 nicht mehr zwischen ehelichen und nicht ehelichen Kindern unterschieden.

  19. Vgl. §§1706ff. BGB in der Fassung bis 30.6.1998.

  20. Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.), Familienreport 2011. Leistungen, Wirkungen, Trends, Berlin 2012, S. 17f.

  21. Vgl. Reinhard Kreißl, Soziologie und soziale Kontrolle, in: Ulrich Beck/Werner Bonß (Hrsg.), Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung?, Frankfurt/M. 1989.

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Dr. rer. pol., Dipl.-Sozialwirt, geb. 1948; Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftsforschung Halle, Kleine Märkerstraße 8, 06108 Halle. E-Mail Link: peter.franz@iwh-halle.de