zurück
9.9.2014
Auszug: Minderheitenrechte in der 18. Wahlperiode
Erläuterungen zur Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages am 3. 4. 2014
"Minderheitenrechte"? Worum geht es eigentlich?
Um die wichtige Frage, was die zwergenhafte Opposition im Bundestag noch zu sagen hat. Also: um gelebte
Demokratie.
Entscheidende Rechte der parlamentarischen Opposition – etwa das, einen Untersuchungsausschuss einzurichten
– hängen an einem Quorum. Bisher ist ein Viertel der Stimmen des Bundestages nötig, um einen
solchen Ausschuss einzusetzen. Grüne und Linke verfügen aber nur über 20 Prozent der Mandate. Solche
ungewollten Effekte der erdrückenden GroKo-Mehrheit wollten alle Fraktionen gemeinsam ausgleichen.
Die Verhandlungen verliefen zäh und dauerten fast vier Monate.
Ist ihnen das mit der Einigung gelungen?
Union, SPD und Grüne sagen: Ja, grandios sogar. SPD-Fraktionsgeschäftsführerin Christine Lambrecht
nennt den Kompromiss am Mittwoch einen "Durchbruch". Der Beschluss sein "ein gelungener Schritt zur
Sicherung der Demokratie." Die Fraktionen von Linken und Grünen erhielten künftig "wesentlich mehr
Rechte, als ihnen die Wählerinnen und Wähler zugestanden haben". stimmt Unions-Fraktionsgeschäftsführer
Bernhard Kaster in den Jubel ein. Und seine Grünen-Kollegin Britta Haßelmann findet, der Kompromiss
sichere "einen umfassenden Katalog von Minderheitenrechten für diese Legislaturperiode". Alles
tipp-topp also, zumindest aus Sicht dieser drei Fraktionen.
Klar. Und nur die Linken meckern mal wieder?
"Meckern" ist das falsche Wort. Sie haben Einwände. Der wichtigste Punkt: Das Dreierbündnis hat sich darauf
verständigt, lediglich die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags anzupassen. Die Fraktion der
Linken hätte die Minderheitenrechte lieber in Gesetzen und in der Verfassung neu geregelt. Und die Linke
bezweifelt, dass der Kompromiss auch vor Gerichten Bestand hat.
"Der Bundestag selbst hat als Gesetzgeber die Pflicht, Regelungen dort zu verankern, wo sie hingehören",
sagt Linke-Fraktionsgeschäftsführerin Petra Sitte. Ihre Fraktion will sich bei der Abstimmung an diesem
Donnerstag deshalb enthalten. Mehrere Verfassungsjuristen argumentieren ähnlich wie die Vertreter der
Linken. Aber Union und SPD wollten partout keine Gesetze anpassen. Anfangs bevorzugten sie gar einen
Vorschlag von Parlamentspräsident Norbert Lammert (CDU), der vorsah, nur einen einfachen Parlamentsbeschluss
zu fassen.
Zur Sache: Was ändert sich denn jetzt?
Ganz wichtig: Die Opposition darf mit ihren wenigen Stimmen einen Untersuchungsausschuss beantragen.
Wenn 120 Abgeordnete einen solchen fordern, muss ihn der Bundestag künftig beschließen. Dabei ist
egal, welcher Fraktion sie angehören. Um diese Zahl gab es heftige Gefechte. Grüne und Linke haben zusammen
127 Abgeordnete. Union und SPD wollten erst die Anwesenheit aller Oppositionsabgeordneten
vorschreiben, jetzt dürfen ein paar krank sein – und der Beschluss gilt trotzdem. Schnupfen in der Opposition
wird also künftig keinen Untersuchungsausschuss verhindern.
Sind U-Ausschüsse wirklich so wichtig?
Ja. Ein Beispiel: Heute konstituiert sich der NSA-Untersuchungsausschuss. Er wird versuchen, den Abhörskandal
der US-amerikanischen und britischen Geheimdienste aufzuklären. Und hoffentlich erhellen,
warum und wie Telefondaten von Millionen Deutschen erfasst wurden und werden. Dass das in Gänze
klappt, ist unwahrscheinlich, aber wichtig ist es trotzdem.
Untersuchungsausschüsse gelten als wichtigste Waffe der Opposition. Wenn eine Regierung in einen Skandal
verwickelt ist, hat sie kein gesteigertes Interesse an Aufklärung. Der Ausschuss bietet der Opposition
diese Möglichkeit. Die Abgeordneten bekommen Akteneinsicht, sie dürfen wichtige Zeugen vorladen,
diese sagen unter Eid aus. Was Oppositionsleute ungern zugeben: Der Ausschuss hilft immens, ein Thema
am Köcheln zu halten, weil er lange Zeit das mediale Interesse bedient.
Eine weitere Änderung gibt es beim Verteidigungsausschuss. Er kontrolliert und überwacht die Streitkräfte.
Als einziger Bundestagsausschuss hat er das Recht, sich in einen Untersuchungsausschuss umzuwandeln
– auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder. Linke und Grüne können dieses Quorum nicht
erreichen. Deshalb kann die Umwandlung des Verteidigungsausschusses künftig auch mit lediglich den
Stimmen der Ausschussmitglieder der Oppositionsfraktionen beantragt werden.
Ändert sich etwas in Bundestagsdebatten?
Die Mini-Opposition darf in Plenardebatten ein bisschen länger reden. Bisher gibt die sogenannte Berliner
Stunde die Redezeiten für die Fraktionen vor, dabei entscheidet die Stärke der jeweiligen Fraktion. Union
und SPD bieten in ihrem Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung Redezeitaufschläge für die Opposition
an, allerdings nur wenige Minuten. Der Entwurf sortiert die Debatten in Längenformate von XS (kurz),
über S (Standard) bis XXL (extralang).
Ein Beispiel für eine in der Praxis häufige Länge: Bei einer Debatte von 96 Minuten (Typ L) bekommen
CDU und CSU zusammen 44 Minuten Redezeit. Auf die Sozialdemokraten entfallen 28 Minuten, auf
Linke und Grüne jeweils nur 12 Minuten. Auf diese Tabelle haben sich Union, SPD und Linke geeinigt,
während die Grünen ein anderes Modell bevorzugen. Der Ältestenrat des Bundestags wird die Tabelle jedoch
offiziell beschließen, die dann für die ganze laufende Legislaturperiode gilt. Die Kleidergrößen als
Maßeinheit werde man allerdings weglassen, hieß es aus Koalitionskreisen – das sei der Würde des Hohen
Hauses nicht angemessen.
12 Minuten. Ist das nicht sehr wenig für eine Rede?
Es ist sogar noch weniger. Oft splitten die kleinen Fraktionen ihre Redezeit und schicken etwa zwei Rednerinnen.
Dahinter steckt Taktik: Einer kann zu Beginn der Debatte einen Aufschlag machen, einer kann
am Ende auf das reagieren, was zwischendurch von Rednern der Koalition gesagt wurde. Bleiben also im
Schnitt ganze 6 Minuten. Viel ist das nicht.
Zugegeben: Die Qualität mancher Reden ist so fürchterlich, dass jede Minute weniger ein Gewinn ist. Und
die Aufmerksamkeit der Medien fokussiert sich ohnehin auf die prominenten, ersten Redner. Beide Argumente
sind aber unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten vernachlässigbar. Das Parlament lebt
schließlich von Rede und Gegenrede. Und die Selbstgespräche der Koalition, in den ersten 100 Tagen mehrfach
zu beobachten, sind totlangweilig.
Ist damit jetzt alles geklärt im Parlament?
Nicht ganz. Offen bleibt die Frage der sogenannten Normenkontrollklage. Durch sie kann das Parlament
in Karlsruhe prüfen lassen, ob ein Gesetz verfassungsgemäß ist. Eine Normenkontrollklage kann ebenfalls
nur mit mindestens einem Viertel der Stimmen erzwungen werden. Der Mini-Opposition ist dieser Weg
deshalb verbaut.
Die Linke verweigert auch deshalb ihre Zustimmung, weil sich Union und SPD konsequent gegen einen
Kompromiss bei der Normenkontrollklage gesperrt haben. "Das ist kein klassisches Minderheitsrecht",
sagte die Sozialdemokratin Lambrecht stellvertretend für die Koalition. Die Linke prüft nun, ob sie wegen
des Beschlusses vors Verfassungsgericht zieht. In der Praxis spielt die Normenkontrollklage allerdings
keine große Rolle. Die Streitfragen finden auf anderen Wegen nach Karlsruhe, meist durch Verfassungsbeschwerden
der betroffenen Bürger.
Ulrich Schulte, 12 Minuten für die Oppositionszwerge, in: TAZ. Die Tagezeitung vom 3.4.2014, S. 3.
zurueck
weiter