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Wie Zerrbilder der Demokratie entstehen - Essay

Martha Bayles

/ 18 Minuten zu lesen

Amerika exportiert nicht das, was es sollte: das amerikanische Ethos. Vielmehr versorgt die US-Unterhaltungsbranche die restliche Welt mit misslungenen Selfies der amerikanischen Politik und Gesellschaft.

Die zentrale Prämisse dieses Essays ist, dass es eine besorgniserregende Lücke gibt zwischen dem, was die Vereinigten Staaten von Amerika in den Rest der Welt exportieren sollten und dem, was sie tatsächlich exportieren. Was Amerika exportieren sollte, ist sein unverwechselbares Ethos der Hoffnung auf menschliches Gedeihen unter Bedingungen politischer Freiheit, das gleichwohl um die materiellen Grenzen und – noch wichtiger – um die Grenzen menschlichen Bemühens weiß. Und lassen Sie mich hinzufügen, dass das Ethos häufig einen gewissen Sinn für das Komische hat, das heißt die Fähigkeit, die absurde Seite der menschlichen Überheblichkeit, Ambitionen und Gier zu erkennen.

Was Amerika tatsächlich exportiert ist eine gegenwärtige populäre Kultur, die trotz ihres vielfältigen Charmes vulgärer, brutaler und gehässiger ist als je zuvor. Tatsächlich kreiert die heutige populäre Kultur ein Zerrbild, ein misslungenes Selfie, das die Laster und Fehler des Landes ohne – mit Blick auf seine Tugenden – jedes Gefühl für Verhältnismäßigkeit verherrlicht. Dieses Zerrbild mag Amerikanerinnen und Amerikaner amüsieren oder beleidigen, aber wir wissen, wie man das Bild scharf stellt. Und das wissen auch viele andere, die in den USA gelebt haben oder medienkompetent sind.

Leider bleiben dann noch ein paar Milliarden Menschen übrig, die die brutalen Filme, die sexbesessenen Fernsehshows und den kruden, unmäßigen öffentlichen Diskurs für eine akkurate Darstellung des Landes halten. Das ist sogar in Europa der Fall. Natürlich ist das Problem schlimmer in denjenigen Teilen der Welt, in denen die negativen Bilder auf dem Bildschirm von feindseliger Propaganda verstärkt werden – ob von gewalttätigen extremistischen Organisationen wie dem Islamischen Staat (IS) oder uns weniger wohlgesonnenen Regimes wie dem von Wladimir Putin in Russland.

Es gab einmal eine Zeit, da die US-Regierung erhebliche Ressourcen investiert hat, um solche feindselige Propaganda zurückzudrängen. Während des Kalten Krieges waren diese Bemühungen als "Public Diplomacy" bekannt. Der Ausgangspunkt für meine Untersuchungen war die Erkenntnis, dass die amerikanische Führung am Ende des Kalten Krieges entschied, sich aus der Public Diplomacy zurückzuziehen und dadurch der Unterhaltungsbranche erlaubte, de facto als Botschafter der Nation gegenüber einer turbulenten und skeptischen Welt aufzutreten.

Dieser Essay beginnt mit einer Erläuterung der Fehlentwicklungen der westlichen Public Diplomacy, definiert als die Kunst und das Handwerk, die Absichten, Interessen und Ideale einer Nation an die Öffentlichkeit im Ausland zu vermitteln. Dann wird der Unterschied zwischen dem amerikanischen Ethos und den von der heutigen populären Kultur gezeichneten Bildern herausgearbeitet. Schließlich wird dargelegt, warum eine Zensur der Kulturexporte der USA keine Lösung sein kann.

Krise der westlichen Public Diplomacy

Im Laufe des vergangenen Jahres hat die russische Propagandamaschinerie eine zweigleisige Strategie gegenüber ihrem inländischen Publikum verfolgt. Der erste Teil, der für die Rechtfertigung der Machtübernahme auf der Krim eingesetzt wird, greift auf, was Hitler die "Große Lüge" nannte: Ein falsches historisches Narrativ, in dem die demokratischen Kräfte in der Ukraine als von den USA unterstützte Faschisten dargestellt werden, deren Ziel ein Genozid an ethnischen Russinnen und Russen ist. Wenn man eine Geschichte oft genug wiederholt, so die Idee, wird die Mehrheit der Bevölkerung sie schon schlucken.

Den zweiten Teil der Strategie, der nach dem Absturz des Malaysia-Airlines-Flugzeugs eingeschlagen wurde, könnte man als Große Konfusion bezeichnen: Wenn ein Ereignis deine Große Lüge ins Wanken bringt, dann starte eine Desinformationskampagne. Fülle den Äther mit so vielen bizarren Gerüchten, Verschwörungstheorien und paranoiden Fantasien, dass einer zynischen Öffentlichkeit bald egal sein wird, was tatsächlich geschehen ist.

Diese Propaganda reicht weit über Russland hinaus. In den letzten Jahren hat der Kreml Russia Today (RT) lanciert, einen raffinierten, tempogeladenen Satellitenfernsehsender, der nichtrussischen Fernsehjournalisten Topgehälter dafür bezahlt, dieselben Botschaften auf Englisch, Arabisch, Mandarin und in anderen Weltsprachen zu wiederholen. Eine überraschende Zahl von Journalisten nimmt dieses Angebot an, und ein besorgniserregend großes Publikum schaltet ein.

Wie sollten westliche Regierungen reagieren? Sollten sie Feuer mit Feuer bekämpfen und Russland und die Ukraine mit Gegenpropaganda bombardieren? Oder sollten sie das tun, was demokratischen Gesellschaften, in denen die Meinungs- und Pressefreiheit sakrosankt ist, leicht fällt: Die Fakten zusammentragen, die auf dem Spiel stehenden Prinzipien benennen und beide so nachdrücklich wie möglich verbreiten, auch wenn einige Aspekte der Geschichte Europa und die Vereinigten Staaten in keinem guten Licht erscheinen lassen?

Diese zweite Option hat einen Namen: Public Diplomacy. Geprägt wurde der Begriff 1965 als aussagekräftige Alternative zu "Propaganda", dem bereits seit dem Ersten Weltkrieg ein Hautgout anhaftete, als die britische und amerikanische Regierung Berichte über von den "bösen Hunnen" begangene Gräueltaten fabrizierten. In den 1930er-Jahren wurde beiden Regierungen bewusst, wie viel Schaden ihre Hasspropaganda angerichtet hatte. Sie hat nicht nur Hitler inspiriert (wie es auch die sowjetische Propaganda getan hatte), sondern auch gegenüber frühen Berichten über Gräueltaten der Nazis Skepsis genährt, die auf der Annahme beruhte, auch diese Berichte seien fabriziert worden.

Während des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges haben Großbritannien und Amerika bei der Kommunikation mit der Bevölkerung im Ausland relativ gesehen den rechten Weg beschritten, nämlich sich geweigert, unverhohlene Lügen und Desinformation zu verbreiten. Verglichen mit der aggressiven Propaganda des "Dritten Reichs" und der KPdSU war dieser Ansatz ausgesprochen asymmetrisch. Aber er hat funktioniert.

Leider ist die wahrheitsbasierte Public Diplomacy bald nach Ende des Kalten Krieges dem politischen Wandel zum Opfer gefallen. In den Vereinigten Staaten, wo die Siegesstimmung groß war, wurde Public Diplomacy als Relikt der Vergangenheit betrachtet. Also strich der Kongress in den 1990er-Jahren die Finanzierung um ein Drittel zusammen, und 1999 wurde der US Information Service (USIS), der seit 1953 die Public Diplomacy koordiniert hatte, abgeschafft. In Deutschland wurden diese Kürzungen mit der Schließung von Bibliotheken und Kulturzentren, die zu den Amerika-Häusern der Nachkriegszeit gehört hatten, allzu offensichtlich. Dann kamen die Angriffe des 11. September 2001 und neuerliche Rufe nach einer wirksamen, nicht auf Zwang beruhenden Reaktion auf die antidemokratischen Ideologien des 21. Jahrhunderts. Diese Reaktion ist jedoch noch nicht formuliert worden.

Amerika verfügt immer noch über große Diplomaten. Während der US-Besetzung des Irak, als amerikanische Truppen einem erbitterten Aufstand gegenüberstanden, trat ein Diplomat namens Alberto Fernandez ins Kommunikationsvakuum. Mit seinem fließenden Arabisch war Fernandez mehr als 500-mal in Al Jazeera, al-Arabiya und anderen arabischen Fernsehkanälen zu sehen und ließ sich von prominenten Moderatoren ebenso wie von wutentbrannten Anrufern in die Mangel nehmen. Marc Lynch zufolge, einem Experten für arabische Medien, war diese "Einmannshow" wirksam, weil es sich eben nicht um einen "grimmigen, einen vorbereiteten Text ablesenden Diplomaten" handelte, sondern um einen Menschen aus Fleisch und Blut, der "bereit war zu argumentieren, wütend zu werden, Witze zu machen – kurzum, ein tatsächlich menschliches Antlitz zu zeigen".

2006 brachen die US-Medien wegen einer Bemerkung von Fernandez in Al-Jazeera in Wut aus: "Wir haben versucht, unser Bestes zu tun, aber ich denke, es gibt viel Raum für Kritik, denn es gab zweifellos Arroganz, und es gab Dummheit aufseiten der Vereinigten Staaten im Irak." Koryphäen aus von den Republikanern dominierten Bundesstaaten fielen über die Bemerkung her; Fernandez distanzierte sich schnell davon. Aber sie war Teil eines längeren Statements, das gegen al-Qaida eingestellte sunnitische Aufständische erreichen sollte, eine Strategie, die im Endeffekt zur als "Sunni Awakening" bekannt gewordenen Waffenruhe führte.

Selbstverständlich ist Public Diplomacy auf dieser Ebene ein Hochseilakt, der nicht nur wegen der Feinde im Ausland, sondern auch wegen geltungsbedürftigen Politikern daheim voller Risiken steckt. Manchmal jedoch ist ein Hochseil der einzig mögliche Weg über einen Abgrund des Misstrauens.

Jeder Regierung fällt es schwer, dem Prinzip, die Wahrheit zu sagen, zu folgen. Jede Regierung lügt in gewissem Maße. Aber nicht im selben Maße – und auf diesen Unterschied kommt es an. Das Putin-Regime versucht, diesen Unterschied auszuradieren, indem es jede Institution vernichtet, die davon ausgeht, dass objektive Wahrheit existiert. Wenn man mit dieser Herausforderung zu tun hat, genügt es nicht zu behaupten: "Die Fakten sprechen für sich." Fakten können nicht sprechen, nur Menschen können das. Und nach einem Jahrhundert jedermanns Intelligenz beleidigender Propaganda sind Russinnen und Russen konditioniert, die Augen zu rollen, wenn man sie mit Behauptungen von Objektivität konfrontiert.

Wenn Europa und Amerika diese Situation umkehren wollen, müssen wir zwei Dinge tun. Erstens müssen wir uns über Gemeinsamkeiten als Grundlage für die Kommunikation mit der nicht-westlichen Welt verständigen. Mit dieser Aufgabe dürfen wir nicht warten, bis wir unsere internen Differenzen beigelegt haben, denn diese Differenzen werden nie beigelegt werden. Aber das ist genau der Punkt. Die wichtigste Botschaft der liberalen Demokratie an den Rest der Welt lautet: Es ist möglich, politische Institutionen aufzubauen, die die Unumgänglichkeit von Meinungsverschiedenheiten anerkennen und es dadurch Menschen ermöglichen, dennoch zusammenzuleben.

Das amerikanische Ethos im Zerrspiegel

Jetzt sind wir bei dem Gegensatz angelangt zwischen dem, was die USA exportieren sollten und dem, was sie tatsächlich exportieren. Ich greife hier zum Teil auf mein eigenes Verständnis von amerikanischer Kultur und Geschichte zurück und zum Teil auf Dutzende eingehender Gespräche mit nachdenklichen Beobachtern in elf Ländern auf der ganzen Welt, darunter Diplomaten in den USA und Europa, Fernsehproduzenten in der Türkei, Studenten in Ägypten, Medienmogulen in den Arabischen Emiraten, Bollywood-Regisseuren in Indien, Akademikern und Medienfunktionären in China und ein paar CEOs, unter anderen dem Unternehmer, der McDonald’s nach Indonesien brachte.

Meine Gesprächspartner beschrieben mir mehrfach den Typ Amerikanerin und Amerikaner, den sie am stärksten bewunderten. Das Bild war bemerkenswert konsistent: Der schöne Amerikaner – im Gegensatz zum hässlichen – ist ein Mann oder eine Frau, unprätentiös, mit einem hoffnungsvollen und praktischen Problemlösungsansatz. Mit "hoffnungsvoll" meinten sie keine utopischen Träume davon, "die Welt zu retten". Stattdessen machten sie ihre Verachtung sehr deutlich für die amerikanische Neigung, überambitionierte Ziele blauäugig zu verfolgen (von "kurzfristig" und "auf die billige Tour" ganz zu schweigen).

Diese Tendenz geht zurück auf das Projekt des amerikanischen Protestantismus des 19. Jahrhunderts, Amerika als christliche Nation zu perfektionieren, um dann in Erwartung des Jüngsten Tages nach der Jahrtausendwende alle anderen Nationen zu missionieren und zu perfektionieren. Im 20. Jahrhundert nahm dieses Projekt eine säkulare Form an, als "Religion des Fortschritts", durch die Amerika das Muster für eine sich modernisierende und demokratisierende Welt vorgeben sollte. Von diesem Geist berauscht haben Amerikaner Erstaunliches getan. Wir haben jedoch auch Entsetzliches getan und haben häufiger bei unseren zahlreichen Bemühungen, Gutes zu tun, versagt.

Die Alternative ist das, was ich das amerikanische Ethos nenne: das klarsichtige Verfolgen von Zielen, die sowohl hoffnungsvoll als auch mit Bedacht gewählt sind. Anstatt von einer Zukunft zu träumen, in der ein für alle Mal aus Immanuel Kants "so krummen Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, (etwas) ganz Gerades gezimmert" werde, zielt dieses Ethos darauf ab, mit dem, was wir haben – nämlich die Schwachheit und den Eigensinn von Männern und Frauen, wie sie heute leben – etwas aufzubauen.

Die religiöse Wurzel dieses Ethos ist Spannung zwischen der arminianisch-protestantischen Vision, dass die Seele bei ihrer eigenen Erlösung eine Rolle spiele, und der calvinistischen Idee, dass nur "Gottes Gnade wunderbar" "einen armen Sünder wie mich erretten" könne, wie es im alten Kirchenlied "Amazing Grace" heißt. Die philosophische Wurzel ist die Spannung zwischen dem Liberalismus der Aufklärung mit seiner relativ sonnigen Meinung über die Natur des Menschen und der klassischen republikanischen Tradition mit ihrer düstereren Warnung, dass Selbstverwaltung ohne tugendhafte Bürger nicht möglich ist. Und schließlich liegt die ökonomische Wurzel in der Verteidigung des freien Marktes durch die schottischen Aufklärer David Hume und Adam Smith, eine Auffassung, die niemals von ihren umfassenderen Vorstellungen von Politik und Bürgertugenden losgelöst war. Keiner dieser Philosophen war wirtschaftsliberaler Utopist des freien Marktes.

Das amerikanische Ethos ist für alle Menschen gut, und nicht etwa deswegen, weil es amerikanisch ist, sondern weil es einen Weg zeichnet zwischen den beiden Extremen des naiven Optimismus und des zynischen Pessimismus. In den vergangenen Jahren ist dieser Weg jedoch nicht mehr zu erkennen. Unmittelbar nach den Anschlägen des 11. September 2001 waren sowohl die Reden der amerikanischen Führung als auch – tragischerweise – ihre Außenpolitik vom ersten Extrem dominiert: dem naiven Optimismus. In jüngerer Zeit hat sich die nationale Stimmung zum anderen Extrem hin verlagert: dem zynischen Pessimismus. Und leider hat die populäre Kultur diese Verlagerung nur verstärkt.

Wie oben ausgeführt, wurde nach dem Kalten Krieg Folgendes entschieden: anstatt dafür ausgebildete Diplomaten die Interessen, Intentionen und Ideale an ausländische Bevölkerungen kommunizieren zu lassen, könne diese Aufgabe dem privaten Sektor, insbesondere der Unterhaltungsbranche, überlassen werden. Was steckte hinter dieser Entscheidung? Ein Faktor war der Glaube, den damals beide politischen Parteien teilten, die beste Möglichkeit zur Lösung hartnäckiger gesellschaftlicher Probleme sei, auf den freien Markt zurückzugreifen. Ein anderer war die Erinnerung daran, wie amerikanische populäre Kultur Töne der Freiheit erklingen ließ, die mächtiger waren als jede politische Rhetorik. Diese Erinnerung wurde auch von den Bekundungen vieler Menschen im ehemaligen Sowjetblock bestätigt.

Zuweilen hatte die US-Regierung diese Klänge bewusst in die Welt hinausgeschickt, etwa in den frühen 1950er-Jahren, als der staatliche Auslandssender Voice of America (VOA) anfing, nach Osteuropa und in die Sowjetunion Jazz zu senden, oder ein Jahrzehnt später, als das US-Außenministerium Welttourneen der Jazzmeister Louis Armstrong, Duke Ellington, Benny Goodman und Dizzy Gillespie sponserte. Manchmal reisten Musiker auch auf eigene Faust, wie in den späten 1960er- und 1970er-Jahren, als der anarchische, rebellische Geist der Rockmusik junge Menschen in Moskau, Prag und vielen anderen Städten unter der kommunistischen Herrschaft in ihren Bann zog.

Aufgrund dieser Geschichte nehmen viele Amerikaner an, dass unsere populäre Kultur immer noch eine gute Möglichkeit, vielleicht sogar die beste ist, die am stärksten geschätzten Werte der Nation, nämlich Freiheit, repräsentative Demokratie und Rechtsstaat, zu kommunizieren. Aber stimmt das?

An dieser Stelle möchte ich betonen, dass ich nicht die gesamte populäre Kultur verdamme. Im Gegenteil, ich bin seit langem der Meinung, dass die besten amerikanischen Filme, Popmusik und sogar Fernsehsendungen das Niveau wahrer Kunst erreichen. Aber gleichzeitig mache ich mir über einige Entwicklungen der populären Kultur der vergangenen Jahre Sorgen.

Es kann keinen Zweifel geben, dass amerikanische populäre Kultur populär ist. Die meisten globalen Meinungsumfragen enthalten allerdings keine Fragen zum Thema Kultur. Die umfangreichste Umfrage, die Pew World Attitudes Survey 2007–2014, enthält zumindest ein paar. Und daraus ergibt sich ein uneinheitliches Bild.

Einerseits sagt eine Mehrheit der Befragten in den meisten Ländern laut Pew, dass sie "US-Musik, -Filme und -Fernsehen mögen". Die Ausnahmen: Länder mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit, Russland und Indien. Andererseits zeigt dieselbe Umfrage noch viel größere Mehrheiten, die folgendem Statement zustimmen: "Es ist nicht gut, dass amerikanische Ideen und Sitten sich hier ausbreiten." Warum sagen sie das? Diese Frage wird von Pew nicht gestellt, aber da sehr wenige Menschen die Vereinigten Staaten besucht oder auch nur einen Amerikaner kennengelernt haben, lautet die wahrscheinlichste Antwort, dass die negativen Eindrücke von "amerikanischen Ideen und Sitten" aus der populären Kultur stammen.

Diese Antwort wird von weiteren qualitativen Hinweisen verstärkt. Anfang 2001, mehrere Monate vor dem 11. September, hat das US-Außenministerium eine Nachfolgestudie über 60 Mexikanerinnen und Mexikanern, die mit dem International Visitors Program in die USA gekommen waren, in Auftrag gegeben. Der Bericht fasst zusammen, was die Gäste über den Unterschied zwischen den Amerikanern, die sie während ihres Besuchs kennengelernt hatten, und denen, die sie in der populären Kultur abgebildet gesehen hatten, zu sagen hatten:

"Wer US-Fernsehsendungen und Hollywood-Filme sieht und Popmusik hört, kommt nicht umhin, sich folgendes Bild unserer Nation zu machen: wir haben regelmäßig mit Fremden Sex, ziehen gut bewaffnet durch die Straßen, sind bereit, bei auch nur der kleinsten Provokation unsere Nachbarn zu erschießen, und wir streben einen von Reichtum, Dekadenz, Kokain und Hedonismus geprägten Lebensstil an. Dies ist keine akkurate Beschreibung der USA, und überdies ist sie für viele Menschen in der ganzen Welt nicht attraktiv. (…) Die mexikanischen Gäste sagten sehr deutlich, dass ihre von den kommerziellen Medien geprägten Bilder der USA ungenau und verzerrt waren, und dass sie dadurch die Vereinigten Staaten negativ wahrgenommen hätten."

Wenn Sie in Frage stellen, ob Hollywood Amerikaner wirklich so darstellt, dann empfehle ich, sich aus diesem Grund (und keinem anderen) Martin Scorseses Film "The Wolf of Wall Street" anzusehen. Er verzerrt nicht nur den Charakter und die Sehnsüchte reicher Amerikanerinnen und Amerikaner, sondern auch das Thema, das er vorgibt zu behandeln – nämlich gesetzeswidriges Finanzgebaren an der Börse. Zu den Ursachen der Finanzkrise von 2007/2008 gehören wohlmeinende staatliche Politiken, die den Erwerb von Wohneigentum förderten, die kollektive Verblendung, dass die Immobilienblase niemals platzen würde, sowie übermäßig komplexe und riskante Handels- und Finanzpraktiken, auch wenn sie damals legal waren. Die Gaunereien und Exzesse eines zweitklassigen Players wie Jordan Belfort spielten fast gar keine Rolle.

Noch besorgniserregender ist die atemberaubend zynische Darstellung von staatsbürgerlichem Leben und Institutionen in Amerika in der populären Kultur. Ein Paradebeispiel: "House of Cards", eine clevere Produktion des amerikanischen Online-Vertriebsunternehmens Netflix, die Zuschauer in der ganzen Welt in ihren Bann zieht. Die meisten Menschen würden behaupten, dass das politische System Amerikas heutzutage in Schwierigkeiten steckt. Und Netflix hat jedes Recht, diese Schwierigkeiten in unheimlicher und verschwörerischer Weise, die ein breites Publikum anspricht, darzustellen. Aber man sollte diese Darstellung nicht für die Wirklichkeit halten. Genauso wie die tatsächlichen Gründe für die Finanzkrise 2008 in "The Wolf of Wall Street" fehlen, sucht man die tatsächlichen Gründe für die Dysfunktionalität der heutigen Politik in "House of Cards" fast völlig vergebens.

Vergleicht man die frühere Fassung von "House of Cards" mit der neuen, sieht man den Unterschied zwischen einer brillanten schwarzen Komödie, die von Menschen mit intimer Kenntnis der Funktionsweise der britischen Regierung geschaffen wurde, und einer prätentiösen Pseudotragödie, deren Macher bestenfalls ein oberflächliches, klischeehaftes Verständnis der amerikanischen Politik haben. Beau Willimon, der "Schöpfer" der Netflix-Produktion – eine eigenartige Bezeichnung angesichts der Tatsache, dass sie auf einer anderen Fernsehserie basiert, die ihrerseits auf einer Romantrilogie beruht – ist ein Dramatiker, dessen politische Erfahrung aus der Tätigkeit als ehrenamtlicher Wahlhelfer für Charles Schumer und als bezahlter Praktikant bei Hillary Rodham Clinton und anderen bekannten Demokraten besteht. Michael Dobbs, der Autor der ursprünglichen Romane, hat 40 Jahre als Berater, Redenschreiber, Stabschef und stellvertretender Parteivorsitzender der Conservative Party unter Margaret Thatcher und John Major gearbeitet und ist jetzt ein Peer auf Lebenszeit im House of Lords.

Unter den Produzenten der US-Version von "House of Cards" gibt es einige sehr talentierte alte Hasen vom Planeten Hollywood. Leider bietet jener Planet jedoch keine besonders klare Sicht auf Washington D.C. Beispielsweise ignoriert diese Version den Unterschied zwischen dem amerikanischen politischen System, in dem Präsidentschaftskandidaten nicht nur andere Politiker für sich gewinnen müssen, sondern auch das Wahlvolk in den Vorwahlen in den einzelnen Bundesstaaten, und dem britischen System, in dem Kandidaten für das Premierministeramt im Parlament von Parteiinsidern auserkoren werden, bevor sie der Öffentlichkeit präsentiert werden.

Deshalb kann die britische Fassung zeigen, wie der Protagonist Francis Urquhart (Ian Richardson) nach einer erbitterten Schlacht innerhalb der Partei Premierminister wird – was mit einiger Vorstellungskraft mit den tödlichen Hofintrigen von Macbeth und Richard III. verglichen werden kann. (Tatsächlich hatte Andrew Davies, der Drehbuchautor der BBC-Serie, diese Bösewichte im Sinn, als er all die listigen beiseite gesprochenen Bemerkungen einbaute, in denen Urquhart dem Publikum seine wahren Absichten anvertraut.) Die amerikanische Fassung greift diesen und andere Kunstgriffe auf, geht jedoch am Kern vorbei, nämlich dass sich noch nicht einmal das ruchloseste Kongressmitglied ins Weiße Haus hineinmanövrieren kann, ohne an irgendeinem Punkt dem prüfenden Blick des Wahlvolks ausgesetzt worden zu sein. Gewiss: Die Drehbuchautoren verdrehen die Handlung und tun ihr Gewalt an, um ein solches Ergebnis möglich erscheinen zu lassen – es wird dadurch aber nicht plausibel.

Außer, vielleicht, einem Publikum in China. "So korrupt wie Washington heute sein mag", schreibt Bill Bishop, Herausgeber des einflussreichen Newsletters Sinocism, "es ist nicht annähernd so schlimm wie die Sendung es darstellt. Millionen Chinesen mögen daraus schließen, dass die Politik in den USA nicht viel sauberer ist als in den Systemen, die sie daheim kennen." Wenn die amerikanische Unterhaltungsbranche eine solche Botschaft aussendet, tut sie mehr als sich bloß zum Sklaven der politischen Malaise ihres Publikums in den USA zu machen. Sie spielt nämlich auch denjenigen in die Hände, die Frank Underwoods hingeworfener Bemerkung tatsächlich zustimmen: "Demokratie wird total überbewertet!"

"Nachdem ich ‚House of Cards‘ gesehen habe", schrieb ein chinesischer Blogger, "stelle ich fest, dass die USA auch sehr dunkel sind. Es ist überall dasselbe." Ich bin anderer Ansicht. "House of Cards" war in Amerika beliebt, weil Washington in schlechter Verfassung ist. Tatsächlich ist es ein Tummelplatz gieriger, ambitionierter Menschen, die eher davon besessen sind, einander zu ruinieren, als das Land zu regieren. Das ist aber wohl nichts Neues. Das amerikanische Regierungssystem fundiert auf einem Bewusstsein dieser Tatsache, kombiniert mit einer besonnenen Hoffnung, dass die Freiheit des Menschen trotzdem eine Möglichkeit finden kann zu gedeihen.

Zensur und Freiheit

Wenn das Problem so schlimm ist wie ich behaupte, warum sollte man sich nicht für eine Zensur der US-Kulturexporte durch die Regierung einsetzen? Das ist nicht meine Meinung, sowohl aus praktischen Gründen als auch aus Prinzip. Der erste praktische Grund ist, dass eine solche Strategie politisch betrachtet überhaupt nicht Fuß fassen könnte: Zwischen 80 und 90 Prozent der amerikanischen Öffentlichkeit sind gegen jegliche Form der Zensur. Ein weiterer praktischer Grund ist, dass es extrem schwierig ist, im Internet Zensur auszuüben. Sogar wenn Amerikaner den politischen Willen aufbrächten, gegen diese Exporte hart durchzugreifen, würde dies unglaublich hohe Kosten verursachen, sowohl in finanzieller Hinsicht als auch bezüglich der Bedrohungen unserer geschätzten Freiheiten, die dies nach sich ziehen würde.

Hier sollte angemerkt werden, dass die übergroße Mehrheit der Menschen die heute im Westen vorherrschende extreme Aversion gegenüber Zensur nicht teilt. Beispielsweise sagte mir ein junger Bollywood-Schauspieler, im eleganten Anzug und mit sehr hollywoodmäßigem Dreitagebart, im Interview in Mumbai, er fände es gut, dass das Indian Film Classification Board die Vorführung ultragewalttätiger Hollywoodfilme nicht erlaube. In seinen Worten: "Filtern ist nötig!"

Die meisten Inder befürworten eine freie Presse und die freie politische Meinungsäußerung. Aber sie unterscheiden zwischen dieser Art Freiheit und der Art, die drastische Darstellungen von Sex und Gewalt erlaubt, und sie halten letztere für eine Bedrohung der öffentlichen Moral. Es gab einmal eine Zeit, da die Menschen in Amerika und Europa dieselbe Unterscheidung vornahmen, aber das ist heute nicht mehr der Fall. Heute halten viele im Westen die Vorstellung, dass politische Meinungsäußerung stärkeren Schutz verdient als schockierende oder obszöne Äußerungen, für rückschrittlich. Diese Unterscheidung ist jedoch in vielen Gesellschaften noch wichtig, unter anderem in einigen, die darum kämpfen, autoritäre Herrschaft abzuschütteln.

Dies stellt uns vor eine ernsthafte Herausforderung. Moralische Zensur, die versucht, weitverbreitete Normen von Anstand und Schicklichkeit hochzuhalten, genießt häufig erhebliche öffentliche Unterstützung. Dies gilt weniger für politische Zensur, die darauf abzielt, Meinungsäußerungen von Kritikern eines Regimes zu ersticken. Die heutigen autoritären Regime wissen dies und wenden einen geschickten Kunstgriff an: Sie benutzen moralische Zensur als Deckmantel für die Unterdrückung politischer Meinungsäußerungen.

Die beste Antwort auf diesen Winkelzug wäre, Respekt für die moralischen Anliegen ausländischer Öffentlichkeiten zu zeigen und gleichzeitig ihr Recht auf freie politische Meinungsäußerung standhaft zu verteidigen. Dies wäre machbar, indem man die Debatte über amerikanische populäre Kultur exportiert und in anderen Ländern Foren für die öffentliche Diskussion über ihre Inhalte schafft. Dafür gäbe es verschiedene Möglichkeiten auf unterschiedlichen Medienplattformen, und die Diskussion müsste sich nicht nur auf die amerikanische populäre Kultur konzentrieren, sondern auch auf die anderer Länder.

Diese Überlegung führt zu meinem Prinzip, keine Zensur zu befürworten. Wenn Sie mit mir der Ansicht sind, dass Menschen weder Engel noch Teufel sind, sondern unvollkommene Geschöpfe, die Freiheit brauchen, um zu gedeihen, dann kann man nicht auf Zensur zurückgreifen, sondern nur auf öffentliches Anprangern. Die amerikanische Public Diplomacy ist dann am überzeugendsten, wenn sie die Leichtigkeit zur Geltung bringt, mit der Amerikanerinnen und Amerikaner sich freimütig über jedes erdenkliche Thema äußern. Im Gegensatz zu Zensur und Repression würde die Globalisierung einer Debatte nach amerikanischem Vorbild über die Stärken und Schwächen der populären Kultur die Macht und Wirksamkeit der freien Meinungsäußerung einschließlich des Rechts auf Kritik und des Rechts anzuprangern, aufzeigen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Martha Bayles, Through a Screen Darkly. Popular Culture, Public Diplomacy and America’s Image Abroad, New Haven 2014.

  2. Siehe Philip M. Taylor, Munitions of the Mind, Manchester 2003³, S. 195ff.

  3. Siehe "The Fernandez Problem", http://abuaardvark.type­pad.com, 22.10.2006 (15.11.2014).

  4. Vgl. ausführlich hierzu M. Bayles (Anm. 1).

  5. Christopher Lasch, The True and Only Heaven, Norton 1991, passim.

  6. Vgl. Herb Stein, Remembering Adam Smith, in: The Wall Street Journal vom 6.4.1994.

  7. Die Probanden in dieser Studie kamen aus Mexiko, und viele Mexikaner haben die Vereinigten Staaten bereits besucht. Und nicht nur das, sondern die Studie wurde einige Monate vor den Terroranschlägen des 11. September durchgeführt. Möglicherweise ist der Kontrast zwischen Bildschirm und Realität noch größer für Gäste aus ferneren Ländern und in Zeiten, in denen die Wahrnehmung vorherrscht, dass die USA gegen die konservativen sozialen und religiösen Werte nicht-westlicher Gesellschaften Krieg führt. Vgl. Jerrold Keilson, The Impact of the International Visitor Experience in Mexico, unveröffentlichtes Manuskript 2001, (Herv. M.B.).

  8. Der Kongressabgeordnete, der die Hauptrolle in "House of Cards" spielt (Anm. d. Red.).

  9. Siehe Support for Tougher Indecency Measures, but Worries About Government Intrusiveness, Pew Research Center, Washington, 19. April 2005, S. 2.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Martha Bayles für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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B.A., Harvard University, M.S. Ed., University of Pennsylvania; Kulturkritikerin, Autorin und Professorin im Arts & Sciences Honors Program, Stokes Hall, Boston College, 140 Commonwealth Ave., Chestnut Hill, MA 02458, USA. E-Mail Link: martha.bayles@bc.edu