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Das seltsame Erbe der Sünde - Essay | Sünde und Laster | bpb.de

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Das seltsame Erbe der Sünde - Essay

Gesine Palmer

/ 20 Minuten zu lesen

Die Idee der Erbsünde mutet an wie ein Exzess der Unfreiheit, wie eine Entwürdigung der menschlichen Natur. Doch wer genauer hinsieht, könnte bemerken, dass sie auf verständliche Weise mit der Idee der Eigenverantwortung jedes Einzelnen und also mit dem Gedanken universaler Menschenrechte verbunden ist.

Zu den eigenartigsten Ideen, die ausschließlich im westlichen (also nicht im östlich-orthodoxen) Christentum mit einigem Pomp ausgebildet worden sind und in allen möglichen Varianten dann auch dessen nicht mehr christliche Kulturen durchziehen, gehört die Idee der Erbsünde. Tertullian (ca. 160–220) sprach von vitium originalis, dem ursprünglichen "Laster"; und Augustinus von Hippo (354–430) entwickelte unter dem Begriff des peccatum originale die Vorstellung, dass die ursprüngliche Sünde Adams und Evas gegen Gottes Gebot sich auf alle Menschen vererbe. Diese Vorstellung ist für viele Menschen längst so befremdlich geworden, dass man sie in den Sachregistern einschlägiger religionswissenschaftlicher Werke vergeblich sucht. Schon die Schuld haben wir nicht so gern, um wie viel weniger eine ernsthafte Verwendung des Wortes "Sünde". Dabei ist ein entwickelter Sündenbegriff in der europäischen Geschichte eng mit der Idee von individueller Eigenverantwortung verbunden. Deren Entwicklung begann da, wo wir ihren Anfang am wenigsten vermuten: Im Konzept der Erbsünde, das aus griechischen und hebräischen Gedanken synthetisiert wurde. Sein Weg von Adam und Eva über Paulus und Luther bis zur postmodernen Paulusinterpretation von Alain Badiou soll in diesem Essay nachgezeichnet werden.

Insbesondere die Idee der Erbsünde mutet an wie ein Exzess der Unfreiheit, wie eine Entwürdigung der menschlichen Natur. Das ist sie auch – wenn wir sie naiv nehmen. Wer etwas genauer hinsieht, könnte aber bemerken, dass sie auf eine durchaus verständliche Weise mit der Idee der Eigenverantwortung jedes Einzelnen und also mit dem Gedanken der universalen Menschenrechte verbunden ist. Darum lohnt sich der Versuch, dieses seltsame Erbe etwas besser zu verstehen. Es könnte sich herausstellen, dass gerade das "Alleinstellungsmerkmal" der sogenannten westlichen Welt, die Verankerung der Rechte jedes Einzelnen in den allgemeinen Grundsätzen unserer Staaten, auf dem Zusammenhang der Begriffe von Sünde, Erbsünde und Freiheit beruht. Was wir in der biblischen Geschichte von der Erschaffung der ersten Menschen und ihrem Leben im Paradies als erste Sünde kennenlernen, deutet darauf hin: Adam und Eva eigneten sich im Verstoß gegen das Verbot ihres Schöpfers und Herrschers die Fähigkeit an, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden.

"Der Tod ist der Sünden Sold"

Wer sich den Tod dadurch erklärt, dass er die Folge der Sünde sei, möchte vor allem eines: das Ungeheuerliche in den Griff bekommen. Wer selbst schuld ist an seinem Tod, der hätte es also auch in der Hand, ihm zu entgehen. In diesem Sinne ist die Grundidee der Sünde schon in der frühesten Zeit ein Versuch der Selbstermächtigung durch Moral. Dass diese in ihr immer wieder für möglich gehalten wird, unterscheidet die hebräische Tradition von der griechischen. Die Griechen hielten moralische Verhängnisse für unausweichlich und suchten ihr Glück im Umgang mit den Schrecknissen der Natur in der Erforschung von deren Gesetzmäßigkeiten. Auch sie kannten eine Idee von Schuld – aber diese war von vornherein tragisch, und gegen sie halfen keine Entscheidungen und kein Vorwissen. Dort, wo griechische und hebräische Tradition schließlich zusammenkamen, entstand der Gedanke der Erbsünde.

Den Tod erleben wir immer als Zeugen des Todes der anderen. Der Anblick ihres Todes macht uns klar, dass wir ihn selbst auch einmal erleiden werden. Einerseits sind wir für diese Klarheit gemacht. Andererseits schreckt sie uns so sehr, dass wir ihretwegen an der Welt verzweifeln können. Der erste Impuls des Menschen ist also, die Überreizung durch volle Klarheit über die Situation abzuwehren. Und er stellt seinen Verstand in den Dienst des Reizschutzes, aber auch der Vorsorge. So sucht der schreckgeplagte frühe Mensch, wie die europäische Geistesgeschichte ihn sich gern vorstellt, in den natürlichen Abläufen nach Regeln, an die er sich halten kann, um sich vor der erschreckenden Willkür der Naturgewalten zu schützen, und er sucht nach Mitteln, die Ereignisse in seinem Sinne zu beeinflussen. Dabei dürften – angesichts der langwierigen Hilflosigkeit des menschlichen Nachwuchses – die ersten Gewalten, die ein jedes Menschenkind kennenlernt, die sozialen sein. Bevor der Held sich einsam durch den Dschungel schlägt oder das All erforscht, ist er zunächst ein paar Jahre den ersten Beziehungen zu den nächsten Erwachsenen und anderen Kindern ausgesetzt.

Schon in frühen Gemeinschaften wurde Zugehörigkeit durch Schutz und Gehorsam hergestellt: Der Mächtige, der schützt und versorgt, darf dafür Loyalität erwarten. Wer in so einer Konstellation seinen Gehorsamspflichten nicht genügt, gilt als schuldig und hat mit Strafen zu rechnen. Deswegen sagte der Erfinder der Psychoanalyse, Sigmund Freud, was Gewissen genannt werde, sei zuerst soziale Angst. Als "Sünde" gilt ihr alles, was mit dem bewussten Aufstand gegen den alleinmächtigen Vater verbunden ist. In diesem Sinne wird auch der Satz des Apostels Paulus aus seinem Brief an die Römer – "Der Tod ist der Sünde Sold" (Röm. 6,23) – zumeist verstanden: entweder "affirmativ" – also so, dass er mit der Aufforderung verbunden wird, sich von Sünde fernzuhalten, gehorsam zu bleiben und dann wenigstens, wenn schon nicht das diesseitige, so doch wenigstens das jenseitige Leben zu erlangen; oder "kritisch" – also mit der Aufforderung, sich von solchen "primitiven" Annahmen zu befreien und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen.

In der Zeit der Aufklärung – seit Immanuel Kant im Deutschen definiert als "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" – ist die Erbsünde als "unschicklich" verworfen worden. Aber der sogenannten Postmoderne ist das Aufklärungsprojekt selbst fraglich geworden – und manche Philosophen lesen Paulus neu als einen Kämpfer für einen neuen Universalismus – aber gegen Kant. Interessanterweise kann ihre Erklärung der Paulusbriefe tatsächlich erklären helfen, was "Sünde" in der Geschichte der westlichen Kultur bedeutet. Die Idee der Sünde kommt dabei als ein erster Abstraktionsversuch in den Blick, der aus den alten Einschüchterungen herausführen soll. Demnach könnte die Idee der Erbsünde zum Protest ermutigen: Wenn wir alle sündig sind, ist es auch der Gehorsam einfordernde Mächtige, der "Hordenvater" (Freud) – und späterhin vielleicht sogar seine Abstraktion, der "Vatergott".

Wenn wir aber ganz damit aufhören, den Tod als eine Folge von Schuld und Sünde gegen irgendeinen Herren aufzufassen, dann haben wir zwar den Vorteil, dass wir uns alle dem grausamen oder freundlichen Zufall ausgeliefert sehen. Wir haben andererseits jedoch den Nachteil, hinnehmen zu müssen, dass er uns genauso treffen kann wie den anderen, der "sündiger" gelebt hat als wir. Und wir müssen neue Motivationen für sozialverträgliche und freundliche Verhaltensweisen finden. In der Zeit der europäischen Aufklärung hatten auch deren Vorreiter oftmals Angst vor "gottlosen" Atheisten, die vermeintlich gefährlich zügellos würden, wenn die Furcht vor jenseitigen Strafen sie nicht mehr in Schach hielte. Doch diese Zeiten sind vorbei. Heute wissen wir sicher, dass gerade auch Menschen, die sich einem Gott stärker verpflichtet fühlen als ihren Mitmenschen, besonders brutal und menschenfeindlich handeln können.

"… dass man also sich gewöhne der Sünden Vergebung zu gläuben"

Ein Spezialgebiet der westlichen Religionsgeschichte bilden die Paradoxien um die Frage von Gesetz und Übertretung, von Sünde und Vergebung. Das Gesetz als solches hatte schon in der griechischen Philosophie zuweilen einen schweren Stand. Als das Christentum 312 unter Kaiser Konstantin zur Staatsreligion des römischen Reiches wurde, färbten sich römische und paulinische Gesetzesbegriffe gegenseitig ein. Dabei ist die Sünde als hebräisches Konzept schon in den sieben Briefen Paulus’, auf denen das christliche Glaubensbekenntnis wesentlich beruht, mit der tragischen Schuld der Griechen eine eigentümliche Verbindung eingegangen.

In beiden Kulturen, der griechischen wie der hebräischen, steht am Anfang ein Hindernis, eine Grenze. Aus der Nichtbeachtung des Hindernisses, aus der Überschreitung der Grenze, folgt alles Weitere – Fehden, Krisen und Kriege. In der Ursprungserzählung von Adam und Eva im Paradies hat der allmächtige Schöpfergott genau ein Verbot gesetzt. Und seine Geschöpfe übertreten es – darum werden sie aus dem Paradies vertrieben, der Sterblichkeit und allen möglichen mit ihr verbundenen Schwierigkeiten ausgesetzt. Auch wenn sie versuchen, die Verantwortung von sich zu weisen: Sie sind eindeutig schuld an dieser Vertreibung. Anders in den griechischen Tragödien: Hier werden tragische Konstellationen und unausweichliche Katastrophen angekündigt. Ödipus versucht alles, um seinem Schicksal zu entgehen – läuft aber umso sicherer hinein und akzeptiert die Strafe für die Schuld, die er unwissentlich auf sich lud. In beiden Fällen ist der Anlass klein, hat aber schwerwiegende Folgen. In der Tragödie ereignen sie sich unter den Augen von miteinander rivalisierenden, vom Göttervater nur unzureichend zusammengehaltenen Göttern und Göttinnen. In der hebräischen Tradition hat eine willentliche Entscheidung für die Sünde, die ebenso gut hätte unterbleiben können und deswegen hart gerichtet werden muss, dieselben Konsequenzen. Hier ist es freilich ein einziger eifersüchtiger Gott, der in erster Linie die Schändung seines heiligen Namens, aber auch soziales Unrecht aufs Fürchterlichste rächt.

Im Lichte der Aufklärung wurden diese beiden Strömungen unterschiedlich beurteilt. Freunde des griechischen Polytheismus sehen in der Tragödie etwa des Ödipus und in der Tatsache, dass mehrere Götter zum Zuge kommen, eine der hebräischen Tradition gegenüber größere Freiheit am Werke. Freunde des hebräischen Monotheismus dagegen sehen in der biblischen Behauptung des freien Willens und der klaren Korrelation zwischen Menschen und Gott die größeren Chancen zur Freiheit. Christen wiederum behaupten seit Paulus, sie wären von dem in beiden Traditionen als Strafe für Verfehlungen gegen eine heilige Ordnung verhängten Tod durch das Sühnopfer Jesu Christi ein für alle Mal befreit. Freilich sterben auch sie trotzdem noch. Und so sind Bibliotheken gefüllt mit den verschiedenen Auslegungen dieser Sühnopferlehre, der zufolge Gott seinen eigenen Sohn "nicht verschonte" und den einzigen sündlosen Menschen der Welt für die Sünden aller anderen hat töten lassen, um so den Tod selbst doch noch aus der Welt zu schaffen.

Auch wenn nicht immer nachvollziehbar ist, wieso für ein Detail des Glaubensbekenntnisses gemordet und gestorben wurde – etwas bleibt an dem Thema bis heute relevant. Die Auffassung von Sünde betrifft immer die Eigenverantwortung des einzelnen Menschen – und ihre Grenze. Nicht umsonst ist dort, wo Martin Luther die Lehren des Paulus von der Rechtfertigung des Sünders aus Glauben allein wieder ernsthaft zur Geltung brachte, der Begriff des individuellen Gewissens erheblich verstärkt worden. In seiner Predigt über die Buße betonte Luther gegen das Ablasswesen seiner Zeit: "Denn ohn Ablaß und Ablaßbrief mag man selig werden, und die Sünde bezahlen oder gnugthun durch den Tod; aber ohne fröhlich Gewissen und leichtes Herz zu GOtt (das ist, ohne Vergebung der Schuld) mag niemand selig werden." Zu Luthers Zeit war es fast eine Selbstverständlichkeit, dass Menschen sich unentrinnbar sündig fühlten. Eine verbreitete Möglichkeit war, sich einen "Ablassbrief" zu kaufen und damit zu beruhigen. Dies erkannte Luther jedoch nicht an: Was immer einen als Sünde drücken mochte – weder Ablass noch Priestersegen würde helfen. Nur Gott allein könne vergeben – der Mensch aber müsse glauben lernen, dass ihm vergeben sei. Damit wurde die Sache zugespitzt und Vergebung zu einer Angelegenheit zwischen Gott und Mensch. Sofern es sich um das Glauben oder Nichtglauben handelt, findet die Auseinandersetzung somit ganz im menschlichen Innenraum statt, in dem wir heute allgemein die menschliche Eigenverantwortung ansiedeln.

Diesen Innenraum hatte schon Paulus entdeckt. Er reduzierte die reiche hebräische Tradition auf ein einziges Verbot ("Du sollst nicht begehren") und drehte damit eine Entwicklung um, in deren Lauf aus dem einen paradiesischen Gebot der Ursprungserzählung eine Menge ausformulierter sozialer und ritueller Regeln geworden war. In frühen Lehren wurde immer wieder behauptet, wer die wesentlichen Gebote einhält, der werde lange auf der Erde leben, es werde ihm wohlergehen. In diesem Geist haben die Propheten nach jeder politischen Niederlage der Israeliten gegen überlegene Feinde das Volk dazu aufgerufen, die Schuld für die Niederlage bei sich selbst zu suchen: Das Volk und seine Regenten hätten gesündigt, die Feinde seien nur ein Instrument der Strafe Gottes.

Der Vorteil dieser Ermahnung liegt auf der Hand. Wer selbst für seinen Schaden verantwortlich ist, kann mit der Schadensbehebung auch bei dem anfangen, was ihm geblieben ist: bei sich selbst. Er kann umkehren. Heute sagen wir, er kann "seine Einstellung ändern"; damals sagte man, er könne aufhören zu sündigen. Aber die Niederlage des Volkes im Krieg traf alle gleichermaßen. Also auch die, die nicht "gesündigt" hatten. Dieses Problem löste man zunächst mit der Idee des eifernden Gottes, "der da heimsucht der Eltern Missetat an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied" (Ex. 20,5). Aber ausgerechnet im ersten babylonischen Exil nahm der Prophet Hesekiel diese Lehre ausdrücklich zurück: "Jeder, der sündigt, soll sterben" (Hesekiel 18,4). Gemeint ist: Jeder stirbt nur für die eigene Sünde. Und er ging noch weiter: Wer früher gerecht war und später sündigt, werde für seine Sünde gerichtet. Wer ungerecht war, sich aber bekehrt hat, werde wegen seiner Umkehr begnadigt. Das ist ein großer Fortschritt in der Individualisierung von Menschen und Handlungen. Er wurde gewonnen durch die Drohung mit dem Jüngsten Gericht. Luther nahm diese in der Rede von den "Hartmüthigen" auf, die man erst noch "mit dem schrecklichen Gerichte GOttes vor weich und zag machen (müsse), dass sie auch solches Trosts des Sacraments suchen und seufzen lernen". Wer daran glaubt, kann sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und sein Verhalten ändern – aber er tut dies unter der Androhung schwerer Strafen durch den Vatergott.

Die griechische Tradition ist demgegenüber (und nicht nur für Paulus) scheinbar vor allem eine naturwissenschaftlich-philosophische. Man erwirbt sich Wissen über die Welt und macht dieses zum Maßstab seines Handelns. Das ist die griechische Bedeutung dessen, was Paulus Gesetz nennt: ein kosmisches Gesetz. Diesem entrinnt man freilich nicht durch guten Willen oder Umkehr. Es ist gleichgültig gegen alles, was der Mensch tut. Also muss in Sachen Schuld und Sünde etwas passieren, das von beiden Gesetzen erlöst – vom kosmischen Gesetz der Griechen und vom Strafgesetz der Hebräer. Paulus und Luther behaupteten, das sei in Tod und Auferstehung Jesu geschehen.

"So ist der Säugling noch unschuldig, doch nicht sündenfrei"

Die Gesetze von Griechen und Hebräern mögen in vieler Hinsicht sehr verschieden sein – hier ein Gott als Gesetzgeber und Richter, der Gehorsam und Umkehr fordert, da eine vielgestaltige kosmische Macht, deren Gesetze erahnt werden müssen, an deren Verhalten der Mensch aber nicht viel ändern kann. Gemeinsam ist ihnen aber: Persönliches oder kollektives Unglück werden als Strafe für eine Schuld erfahren.

Paulus verschärfte das Problem zunächst: Im Römerbrief beschreibt er sich als einen Menschen, der sich an das Gesetz halten und nicht sündigen will. Aber er könne es nicht, denn er habe ein anderes (ein "natürliches") Gesetz in seinen Gliedern, das ihn zwinge, das zu tun, was er nicht will. Dieses Gesetz nennt er "Fleisch"; den Willen, dem Gesetz der Gemeinschaft oder dem "väterlichen Gesetz" zu folgen, nennt er "Geist". Üblicherweise wird das so interpretiert, als gäbe es einen Leib, der seinen unbesonnenen Trieben folgt, und einen Geist, der diesem Treiben Einhalt gebietet. "Gute Menschen" hätten demnach einen starken Geist und ihr Fleisch im Griff, "schlechte Menschen" ließen die Sünde der Fleischeslust übermächtig werden und ihr Leben bestimmen. Der Zorn des Vatergottes darüber könne nur durch den Tod eines sündlosen Menschen ein für alle Mal beschwichtigt werden. Wieder gibt es unzählige Varianten dieser Auslegung bis hin zu Freuds großartiger Erzählung vom unvermeidlichen Vatermord, der nur durch ein Sohnesopfer gesühnt werden könne – in ihr sieht er die "psychologische Wahrheit" der neutestamentlichen Gründungserzählung. Tatsächlich gibt es einen rebellischen Gestus bei Paulus: Das Neue an Paulus ist nämlich, dass er das Gesetz selbst für die Sünde verantwortlich macht. Zugleich erklärt er es für heilig, gerecht und gut. Es bleibt also ein Widerspruch – oder ein Paradox.

Dieses Paradox hat Heerscharen von insbesondere protestantischen Theologen beschäftigt, aber auch Christen anderer Konfessionen und Juden haben sich daran abgearbeitet. Unter den Philosophen der Postmoderne ist es seit einigen Jahren ebenfalls wieder im Schwange. Der Philosoph Alain Badiou hat in seiner Interpretation eine brillante Lösung insbesondere für den Gegensatz von Fleisch und Geist gefunden, von dem wir uns oft noch vergebens zu lösen versuchen. Paulus’ Brief an die Römer (Röm. 8,6) übersetzt er so: "Das Denken des Fleisches ist Tod, das Denken des Geistes ist Leben." Er bezieht den Gegensatz aber nicht auf den inneren Kampf eines einzelnen Menschen mit seinen Trieben, sondern auf die "objektivierenden Diskurse" des nomos (des Gesetzes). Die partikularen Gesetze sanktionieren Abweichungen von den jeweiligen Regeln und legitimieren das innere Regiment mit der Notwendigkeit der Verteidigung der äußeren Grenzen. Über solche Grenzen will der Universalismus – jenes merkwürdige Streben nach Aufklärung der Widersprüche – hinaus. Und dazu braucht er wiederum einen universalisierten Sündenbegriff. Damit der entstehen kann, muss der potenzielle individuelle Sünder der eigenen partikularen Kultur erst einmal entrissen werden. Nach Badiou ist es genau das, was Paulus tut, und zwar indem er den Einzelnen, "das Subjekt" spaltet. Die Spaltung bestehe aber nicht im Kampf zwischen sündiger Triebhaftigkeit und nach Schuldlosigkeit strebender Geistigkeit. "Geist" ist bei Badiou der Geist des schuldlosen Gottessohnes. Und das Gesetz, das den Menschen unter widersprüchliche – griechische oder hebräische – Forderungen und Verbote stellt, ist das "Fleisch".

Im Kampf mit den verschiedenen Anforderungen wurde ein innerer Raum eröffnet, in dem das bewusste und gewissenhafte Individuum mit sich allein ist. Erst aus der inneren Bewegung zwischen zwei als "Sünde" und "Gesetz" beschriebenen Polen kann etwas wie eine autonome Entscheidung folgen, die sich unabhängig macht von den alles bestimmenden Gesetzesdiskursen der jeweiligen kulturellen Umgebung. Damit ist die Bedeutung sowohl des sündigen "Automatismus des Begehrens" (Badiou), als auch der "Objekte" jener partikularen väterlichen "Diskurse" – im Griechischen der Kosmos, in dem man den richtigen Platz einnehmen oder untergehen muss, im Hebräischen die Zugehörigkeit zum Volk Gottes, dem man gehorchen muss – reduziert. Psychoanalytisch gesprochen: Das Ich würde weder vom "Über-Ich" (den Verboten der jeweiligen Gesetze) noch vom "Es" (den gegen diese opponierenden Begehrlichkeiten) noch von den verschiedenen unseligen Verbindungen beider restlos gesteuert. Erst so kann das Ich auch vom Verhängnis befreit werden, widerspruchslos seinen Platz in irgendeiner totalen Gemeinschaft einnehmen zu müssen – das Ich kann nun kritisch sein.

Etwas unklar bleibt in dieser Erklärung, warum dazu erst jemand zum Gottessohn ernannt, zwischen alle Stühle geraten und gekreuzigt werden musste. Tatsächlich ist diese Geschichte für Badiou deshalb nur eine "Fabel". Ihm kommt es allein auf die Wiederentdeckung jener inneren Instanz an. Seltsam bleibt, dass diese – das individuelle Gewissen – über Jahrhunderte trotz so vieler so scharfsinniger Theologen, die sich ihrer angenommen haben, ihre Identifikation mit der Sünde, und zwar mit einer ziemlich kleinlichen Variante von Sünde als Triebhaftigkeit, nicht los wird. Zwar hat es immer wieder politische Interpretationen gegeben. Aber offenbar kann erst die Postmoderne die Entwertung aller menschlichen Ordnungen denken. Der "Objektverlust" müsse "angenommen" werden, schreibt Badiou und meint damit den Bedeutungsverlust jener äußeren partikularen Gesetze gegenüber dem Gewissen des Einzelnen. Dies zu denken, ist den frommen Auslegern, auch wenn sie noch so zünftig gegen das Gesetz wetterten, immer als zu sündig erschienen. Schon Paulus selbst beeilte sich, zu versichern, dass die Christen nun gerade aus Freiheit das Gesetz nur umso konsequenter befolgen und nicht ernsthaft gegen das Gemeinwesen oder Gottvater sündigen würden. So blieb immerhin die Ordnungsfunktion der Gesetze in Kraft.

Aber dies konnte nicht beruhigen. Die verfolgten Christen Roms bezeugten ihre Lehre von Tod und Auferstehung des Gottessohnes so überzeugend, dass es ihnen gelang, einen weiteren "kleinen Paulus" hervorzubringen: den Juristen Tertullian. Er hatte an "Vernehmungen" von Christen teilgenommen. Das, woran diese friedlichen, aber den Mächtigen im Reich als gefährlich geltenden Menschen unter Folter und Todesdrohungen so standhaft festhielten, begann ihn zu interessieren. Er fand durch ihre Haltung die Ordnung, in deren Dienst er stand, der moralischen Schwäche überführt. Deswegen ließ er sich 197 taufen und versah in seinen nachfolgenden Schriften alles, was er von ihnen lernte, mit dem Sinn, der uns von diesem "Kirchenvater" überliefert ist. Demnach werde die Sünde wie ein Muttermal als Anlage vererbt. Aktuell schuldig werde ein Mensch zwar erst durch die jeweilige Tat – so viel Handlungssinn hatte der Jurist auch als Kirchenlehrer – aber sobald er als menschliche Seele in der Welt sei (bei Tertullian ist das vor der Geburt), sei er auch mit Sünde behaftet. Augustinus hat diese Lehre als Erbsündenlehre weiter entwickelt, und in der Folge entstand die Institution der Nottaufe. Denn nur durch die Taufe könne diese ursprüngliche Sünde vom Menschen entfernt und er für die Segnungen des jenseitigen Lebens gereinigt werden.

Damit war der griechische Gedanke vom unausweichlichen Schicksal der tragisch-schuldhaften Verstrickung in jener Religion verankert, die sich unter dem Namen Jesu Christi in der Folge zu einer einenden geistigen Ordnungsmacht entwickelte. Zugleich wacht aber über diesen Gedanken nun der hebräische Gottvater. Vermittelnd zwischen beiden Traditionen trieb das Bekenntnis zu Kreuz und Auferstehung seines Sohnes einen neuen, universalistischen und individualistischen Geist aus sich hervor.

Diejenigen, die sich auf ihn beriefen, maßen sich nun an, selbst zu einem Urteil darüber kommen zu können, was gut und was böse ist – unabhängig von der um sie herum geltenden Ordnung. Für die an allen Enden des Großreiches bröckelnde Ordnung und die eisern an ihren väterlichen Gesetzen festhaltenden unterworfenen Völker war das gleichermaßen herausfordernd. Überall konnte nun jemand auftauchen, der seine eigene Ordnung für besser hielt als die im Lande oder im Imperium geltende. Dies war vor allem deshalb überzeugend, weil die ethischen Vorstellungen, die im eigenen Innenraum etabliert sind – heute sprechen wir wie selbstverständlich vom "Verinnerlichen von Wertvorstellungen", damals war das ein neuer Gedanke – verlässlicher sein müssten als die bloß dem Druck der Ordnungshüter gehorchenden äußerlichen Verrichtungen. Aus der Feststellung, dass niemand (außer dem Gottessohn) ohne Sünde sei, wurde somit der Grundstein zu einer Lehre von der Eigenverantwortung.

"Das Reich der Freiheit aber ist das Reich der ethischen Erkenntnis"

Nicht allen gefiel es, dass diese nur um den Preis der Erbsündenlehre und auf dem Umweg über die "Fabel" von Kreuz und Auferstehung erreichbar sein sollte. In der Folge der rabbinischen Sammlungen haben die Juden einen anderen Weg zur Aufklärung eingeschlagen, der Eigenes beiträgt, sich aber von der Erbsündenlehre eher fernhält. Anders als die tragisch-griechische Formation erlaubte die hebräische Welt das Denken einer Art Unschuld. Diese entspricht der Unschuld vor dem Gesetz und, wenn man so will, einer unschuldigen Weise, das Gesetz zu denken. Sie hat Parallelen und Ausläufer in den östlichen Varianten des Christentums sowie später im Islam. Wer keine verbotenen Dinge getan hat, ist unschuldig im Sinne des Gesetzes. Das Gesetz selbst ist ebenfalls unschuldig und dient zur Markierung des richtigen Weges sowie zur genaueren Definition einzelner sündiger Verhaltensweisen. So kann es unter den Nachfahren der ersten Sünder, Adam und Eva, immer wieder Gerechte geben, die nicht als sündig gelten: Noah, Abraham und weitere. Sie bleiben nicht rein unschuldig – aber was sie sich zuschulden kommen lassen, ist "lässliche Verfehlung", sind kleine Verstöße gegen die göttliche Autorität, die schnell gebüßt und verziehen sind. Ein Leben nach dem Gesetz gilt als gutes Leben, und jeder, der sich von Sünden abkehrt, verdient nach dieser Ordnung einen Neuanfang.

Im Buch Hiob kippt die Sache ein erstes Mal. Hiob machte willentlich und wissentlich alles richtig. Es ging ihm gut. Trotzdem erlitt er unsägliches Leid. Ausdrücklich gingen diese Prüfungen von Gott aus, ausdrücklich hatte dessen Bote, Satan, Gott zur Prüfung seines treuesten Knechts angestiftet. In den großen Reden des Werkes klagt Hiob und behauptet seine Unschuld gegen seine Freunde, die eine Schuld bei ihm suchen, um ihren Glauben an den Zusammenhang von Tun und Ergehen zu retten. Im Hiobbuch bereut Gott schließlich und belohnt Hiobs Unschuld und Treue. Die meisten frommen Interpreten dieses Buches suchen bis heute den Fehler bei Hiob, weil sie glauben möchten, dass Gott auch in diesem Buch als allmächtig und gerecht erscheint. Hiob beruft sich gegen den Allmachtsgott auf dessen Gesetz.

Paulus geht weiter. Er wirft Gott nicht vor, dass der sich nicht an sein selbst gegebenes Gesetz halte. Er macht vielmehr das Gesetz selbst für die Sünde verantwortlich. Und er sieht in dem Gesetz nicht so sehr die Niederschrift einer sozialen und kultischen Ordnung, die festlegt, wie Übertretungen – Sünden – geahndet werden. Er definiert es vielmehr als allgemeines Verbot, zu begehren. Ein solches Verbot kommt in der Bibel gar nicht vor. Aber Paulus braucht diese allgemeine Struktur von Gesetz und Sünde, um den menschlichen Innenraum allgemeingültig zu definieren.

Zum Universalismus führt so nicht das Gesetz, sondern die Sünde: Die Gesetze unterscheiden – die Sünde macht gleich, denn alle begehren etwas, das sie nicht begehren sollen. Badiou spricht von einem im Gesetz benannten und gegebenen "Automatismus des Begehrens", der den Willen des Subjekts gerade deswegen außer Kraft setzt, weil es nun immer zwischen Verbot und Begehren eingespannt ist. In dieser Konfiguration sieht er eine erste Beschreibung des Unbewussten. So mit seinen falsch verstandenen Konflikten beschäftigt, bleibe der Mensch von seiner Umgebung abhängig, die ihm vordefiniert, was verboten und was erlaubt ist: "Im Grunde ist die Sünde weniger eine Verfehlung als eine Unfähigkeit des lebendigen Denkens, das Handeln zu bestimmen."

Wenn man die Lehre des Paulus versteht wie die Philosophen der Postmoderne, sind alle Traditionen, die unter Sünde Illoyalität gegenüber dem "Hordenvater", irgendeine sozial verbotene "Fleischeslust" oder so etwas Lächerliches wie die "Diätsünde" verstehen, Missverständnisse. Ebenso wären alle Versuche, bestimmte sogenannte Sünden durch Selbstkasteiungen und Inquisitionen auszumerzen, Rückfälle in "gesetzliche" Auffassungen von Sünde. Sie hatten oft große Macht, konnten aber den Kern der Lehre nicht antasten. Dieser besteht in der Feststellung, dass kein Gesetz – kein moralisches Gesetz und kein Naturgesetz – uns jemals ganz definieren kann.

Die Fähigkeit, zwischen gut und böse zu unterscheiden, ist als Sünde gegen das erste ausdrückliche Verbot des biblischen Gottes zum Schlüssel für die menschliche Verfasstheit geworden. Durch das Christentum in den griechisch geprägten Westen gelangt, besagt sie überdeutlich: Naturerkenntnis allein gibt uns keine Orientierung. Und andererseits garantiert kein menschliches Sittengesetz, dass es auch eingehalten wird. Wo andere natürliche Wesen ohne jeden Bruch mit etwas wie einer natürlichen Bestimmung zu leben scheinen, ist uns eine solche Bruchlosigkeit nicht gegeben. Aufgeklärt würden wir sagen: Unsere Natur selbst enthält ein offenes Moment. Wir können immer auch anders. Und der Mensch, der wirklich nicht anders kann – weil er nach einer bestimmten, ihm oder der Gemeinschaft, in der er lebt, schädlichen Sache süchtig ist – gilt uns als unfrei, krank und moralisch unzurechnungsfähig. Aber eben: Wer moralisch unzurechnungsfähig ist, kann auch nicht mehr wirklich sündigen. Er hat diese Freiheit gar nicht, weil er auch nicht die Freiheit hat, es nicht zu tun.

Worauf allerdings die Freiheit, zu sündigen oder nicht zu sündigen, gegründet ist, das kann uns – so denken wir seit Kant – allein die Ethik sagen. Sie lehrt uns, "dass der Grund der Freiheit, mithin der Grund des Guten wie der des Bösen, unerforschlich sein muss. Denn dieser Grund ist immer nur eine Kausalität. Diese aber beherrscht nur das Reich der Naturerkenntnis. Das Reich der Freiheit aber ist das Reich der ethischen Erkenntnis, und in diesem waltet anstatt der Kausalität das Prinzip des Zwecks." Vor dem abstrakten Sittengesetz wie vor seinem Vorläufer, dem Vatergott, ist niemand jemals vollkommen. In diesem Sinne bleibt die conditio humana mindestens die Fehlbarkeit – und die Annahme dieser in der westlich-christlichen Welt "Erbsünde" genannten Verfasstheit bleibt die Voraussetzung für individuelle Entscheidungskompetenz.

Man muss nicht so weit gehen wie die postmodernen Paulusleser und nun gleich das ganze Gesetz ablehnen. Aber wenn man versteht, dass die paulinische Relativierung der Definitionsmacht des Gesetzes erst den inneren Entscheidungsspielraum ermöglichte, aus dem heraus wir jederzeit neu und anders handeln können, ist die Debatte über die Sünde nicht umsonst gewesen.

Dr. phil., geb. 1960; Religionsphilosophin, Beraterin und Publizistin; Inhaberin des Büros für besondere Texte, Steinmetzstraße 31, 10783 Berlin. Externer Link: www.gesine-palmer.de, E-Mail Link: gesine.palmer@t-online.de