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Eine Sicherheits- und Verteidigungspolitik für Europa | Europa - Sicherheitspolitik | bpb.de

Europa - Sicherheitspolitik Editorial Braucht Europa einen Kern? Nationalstaat und transnationale Organisationen in der europäischen Sicherheitsstruktur Eine Sicherheits- und Verteidigungspolitik für Europa Finanzierungsprobleme der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik unter den Bedingungen der Währungsunion

Eine Sicherheits- und Verteidigungspolitik für Europa

Victor Mauer

/ 2 Minuten zu lesen

Eine Analyse der jüngsten Anstrengungen der EU zur Verwirklichung einer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik unter Berücksichtigung aller Interessen. Den Ausgangspunkt bildete dabei eine britisch-französische Initiative.

I. Die Europäische Union auf dem Weg zum sicherheitspolitischen Akteur

Im Anschluss an den revolutionären Wandel der Staatenwelt der Jahre 1989/91 und im Gefolge des ursächlich mit der Vereinigung Deutschlands zusammenhängenden Vertrags von Maastricht stellte sich dem Beobachter des europäischen Integrationsprozesses zunehmend die Frage, ob sich die Europäische Union über den wirtschafts- und währungspolitischen Bereich hinaus im Sinne Jean Monnets als force d'équilibre im internationalen System etablieren würde. Von der "Stunde Europas" war im Sommer 1991 häufig die Rede gewesen. Als aber der von Belgrad initiierte blutige Konflikt um politische Macht und ethnische Vorherrschaft im März 1998 an seinen Ausgangspunkt, das Kosovo, zurückkehrte, musste man in den Hauptstädten Europas endgültig erkennen, wie weit man davon entfernt war, in eigener Verantwortung auf die sicherheitspolitischen Risiken und Herausforderungen reagieren zu können und im Rahmen der transatlantischen Beziehungen eine ausgewogenere Verteilung der Lasten und Verantwortlichkeiten herzustellen. Im Kontext der Operation Allied Force dominierte die amerikanische Doktrin nicht nur die westliche Luftkriegsführung, sondern auch das Handeln auf der politischen Ebene .

Die sicherheitspolitischen Beschlüsse der EU-Gipfeltreffen von Köln (Juni 1999), Helsinki (Dezember 1999) und Feira (Juni 2000) sind jedoch ein klares Anzeichen dafür, dass Milosevic<'s vierter Krieg in Europas Hinterhof innerhalb von acht Jahren "die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen" (Karl Marx) gebracht hat. Mit beispielloser Geschlossenheit und Zielstrebigkeit haben sich die Staats- und Regierungschefs auf einen ehrgeizigen, institutionelle und operative Elemente verbindenden Stufenplan zur Verwirklichung einer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik geeinigt, der es ihnen gut zehn Jahre nach der Petersberger Erklärung bis Ende 2003 ermöglichen soll, Aufgaben von der Konfliktverhütung bis zur Krisenbewältigung in politischer Eigenverantwortung zu übernehmen. Dabei fühlen sie sich einem weitgefassten Sicherheitsbegriff verpflichtet, der unter Berücksichtigung internationaler Friedensmissionen der vergangenen Jahre zivile und militärische Aspekte des Krisenmanagements miteinander in Beziehung setzt. Ungeachtet der Tatsache, dass bislang weder strategische Interessen noch Ausmaß und Reichweite künftiger Missionen definiert sind, werden EU-geführte Operationen auf absehbare Zeit allerdings schon aufgrund unterfinanzierter Verteidigungshaushalte und des beträchtlichen Modernisierungsbedarfs von Streitkräften und Material im mittleren bis unteren Spektrum der Petersberg- Aufgaben verharren.

Wenn die Beschlüsse in praktische Politik umgesetzt werden, werden sie langfristig auch das Gesicht des internationalen Staatensystems verändern. Erstens: Als handlungsfähige Politische Union würde die EU über ein geeignetes institutionelles Instrumentarium verfügen, mit dem Operationen koordiniert und ausgeführt werden können. Auf der Grundlage gleicher Werte und politischer Überzeugungen sowie im Bewusstsein der finanziellen Anforderungen würde sich die Union zu einem sicherheitspolitischen Akteur entwickeln, der selbständig zur Krisenprävention und zur Krisenbewältigung beitragen kann. Zweitens: Gerade weil eine Gemeinsame Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik nur Teil eines größeren transatlantischen Projekts sein kann, würde damit auch eine Neudefinition der transatlantischen Beziehungen einhergehen. Dass Stabilität nur im Zusammenspiel mit der "europäischen Macht" USA zu gewährleisten ist und dass die vorhandene asymmetrische Beziehungsstruktur noch in den nächsten Jahren fortbestehen wird, ist unbestritten . Aus der Fähigkeit zu selbständigem europäischen Krisenmanagement, d. h. dem Aus- und Aufbau derzeit noch mangelhaft entwickelter Fähigkeiten, würde sich die von Washington seit Jahren geforderte Lastenteilung innerhalb der Allianz ergeben, die im Laufe der Zeit wiederum in der von den Europäern beanspruchten Teilung von Verantwortung, also in einer Stärkung des multipolaren Ansatzes und einer Transformation der hegemonialen Allianz in ein gleichgewichtigeres europäisch-amerikanisches Bündnis resultieren könnte. Drittens würde Deutschland als integrierte "europäische Mit-Führungsmacht" schließlich seiner Größe, seiner politischen und wirtschaftlichen Bedeutung, seinem eigenen Anspruch und nicht zuletzt den diesseits und jenseits des Atlantik geäußerten Erwartungen gerecht.

II. Die historische Entwicklung

Die Geschichte einer genuin europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist so alt wie die Geschichte der europäischen Integration selbst. In den ausgehenden vierziger Jahren, als die Hauptstädte Westeuropas von der Furcht vor einer den Kontinent überrollenden Sowjetunion ergriffen wurden, übernahm der britische Außenminister Ernest Bevin die Rolle des Wortführers für eine "Western Union". Da das westliche Europa aber kaum drei Jahre nach Kriegsende, erschöpft von zwei Weltkriegen, viel zu schwach war, um sich allein gegen Stalins Sowjetunion behaupten zu können, ging es Bevin in erster Linie darum, die Vereinigten Staaten für eine sicherheitspolitische Garantie des Kontinents zu gewinnen. Insofern war der im März 1948 von Großbritannien, Frankreich und den Benelux-Staaten unterzeichnete Brüsseler Vertrag Katalysator für das im April des folgenden Jahres abgeschlossene Nordatlantische Bündnis.

In den sich anschließenden Jahren gab es verschiedene Bestrebungen, sicherheits- und verteidigungspolitische Elemente in den sich langsam beschleunigenden europäischen Integrationsprozess einzubauen. Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) in der Pariser Nationalversammlung am 30. August 1954 bedeutete jedoch das Ende aller europäischen Bemühungen, eine eigenständige Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu gestalten. Daran konnte auch die Gründung der WEU - eine Modifizierung des Brüsseler Vertrags unter Einschluss Italiens und der Bundesrepublik Deutschland - im Oktober 1954 nichts ändern. Gedacht als westeuropäisches Militärbündnis mit einer engeren militärischen Beistandsgarantie als der des Atlantischen Bündnisses, wurde die WEU von Beginn an einer eigenständigen Rolle beraubt; indem ihre militärischen Funktionen in der NATO aufgingen, versank die neue Organisation WEU in einen dreißigjährigen Tiefschlaf, während das westliche Europa in Gestalt der Europäischen Gemeinschaften unter der externen amerikanischen Sicherheitsglocke kräftig gedieh, es der transatlantischen Gemeinschaft durch den Wiederaufbau demokratischer Gesellschaften und die Vertiefung der internen Integration Substanz verlieh und sich zu einer ernst zu nehmenden Zivilmacht auf der weltpolitischen Bühne entwickelte.

Sämtliche Versuche - vor allem französischer Staatspräsidenten und Regierungen, die sich allesamt mal mehr, mal weniger in der Tradition Charles de Gaulles als kühle Verfechter französischer Staatsräson begriffen -, den de facto inaktiven europäischen Sicherheitspfeiler wiederzubeleben, mussten am britischen Widerspruch scheitern. Die Briten, die sich - in Anlehnung an einen Ausspruch de Gaulles - seit ihrem verspäteten EG-Beitritt in der Rolle des zweiten Hahns auf dem europäischen Hühnerhof gefielen, befürchteten, ein Rütteln am Status quo könne das amerikanische Engagement und damit die Stabilität der Allianz leichtfertig untergraben. Darüber hinaus blieb ihr europäisches Engagement im Kern den Ideen verhaftet, die Winston Churchill bereits Anfang der dreißiger Jahre programmatisch vorgetragen und seither oft wiederholt hatte: "We are with Europe but not of it. We are linked but not comprised."

Angestoßen durch Zweifel an der amerikanischen Zuverlässigkeit, gewann die europäische Sicherheits- und Verteidigungsdebatte erst seit Oktober 1984 wieder langsam an Dynamik. Nachdem bereits die Einheitliche Europäische Akte im Februar 1986 eine engere Zusammenarbeit in sicherheitspolitischen Fragen als wesentlichen Beitrag zu der Ausformung einer europäischen Identität im außenpolitischen Bereich bezeichnet hatte, verband die Haager WEU-Plattform ein Jahr später das Schicksal der WEU erstmals explizit mit dem der EG: "Der Aufbau eines integrierten Europas bleibt ohne eine sicherheits- und verteidigungspolitische Komponente unvollständig . . . Wir beabsichtigten (daher) die Entwicklung einer . . . europäischen Verteidigungsidentität." Geboren war ein neuer Begriff, der sich sogleich anschickte, einen Triumphzug durch europäische und transatlantische Absichtserklärungen anzutreten. Aber nur wenige konnten sich etwas Konkretes unter einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität vorstellen, und noch wenigere waren dazu bereit, diese in praktisches politisches Handeln mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen umzusetzen. Hinzu kam, dass sich zahlreiche Regierungen im Labyrinth des mit unterschiedlichen Mitgliedstaaten ausgestatteten Institutionendreiecks EU/WEU/NATO geschickt zu verlaufen wussten.

Die durch den Vertrag von Maastricht eingeführte Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) blieb in der Praxis einem politischen und ökonomischen Sicherheitsbegriff verhaftet, der mit Verteidigungsaufgaben per se nichts zu tun hatte, auch wenn von der "Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik auf längere Sicht, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte", die Rede war (Art. J.4 EUV). Die britische Regierung unter Premierminister John Major blockierte während der zu den Verträgen von Maastricht und Amsterdam führenden Regierungskonferenzen französische, durch Instrumentalisierung der Sonderbeziehung zu Bonn verstärkte Bestrebungen einer eigenständigen EU-Verteidigungskomponente, die in Paris ganz selbstverständlich als Ausbalancierung amerikanischer Hegemonie verstanden wurde. Die Worthülsen von der "schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik" sowie der "Möglichkeit einer Integration der WEU in die Union, falls der Europäische Rat dies beschließt" (Art. 17 EUV), vermochten die zur Zeit des Vertragsabschlusses existierenden tief greifenden politischen Unterschiede nicht zu verdecken. Gleichzeitig aber identifizierte und definierte die WEU im Jahre 1992 neue Aufgaben der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung, für die sie aber weder im institutionellen noch im operativen Bereich hinreichend vorbereitet war. Mit dem sich anschließenden Aufbau neuer Strukturen und Instrumente begann jedoch ein neues Kapitel in der Geschichte der WEU. Außerhalb dieses Rahmens verständigten sich Frankreich und Deutschland auf bilateraler Ebene auf den Aufbau des Eurokorps, dem weitere multinationale Zusammenschlüsse folgten.

Parallel zu den europäischen Entwicklungen befürwortete die Allianz, wenn auch noch vage, bereits im Jahre 1990 in London und dann erneut in Brüssel (1994) und Berlin (1996) die Entwicklung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität innerhalb der NATO. Ziel dieser Initiativen war es, die Europäer in die Lage zu versetzen, auch ohne die Nordamerikaner zu handeln und dabei von den vorhandenen NATO-Kapazitäten Gebrauch machen zu können . Als Konsequenz dieser sich teilweise ergänzenden, nie aber nahtlos zusammenfügenden Erklärungen erschien die WEU sowohl als Verteidigungskomponente der EU als auch als Vehikel zur Stärkung eines europäischen Pfeilers innerhalb der NATO.

III. Die Defizite der Vergangenheit

Der Bedarf an politischen Absichtserklärungen war ein knappes Jahrzehnt nach den tektonischen Verschiebungen in Europa also gedeckt. Allein: Die EU war ein nach außen unverändert nur bedingt handlungsfähiger Akteur. Werner Weidenfeld hat jüngst darauf hingewiesen, dass "der Schlüssel zur Erklärung der Misere in der Schwäche europäischer Identität" liege. Jedes politische System bedürfe zu seiner Handlungsfähigkeit eines Rahmens, auf den sich die Begründungen für Prioritäten und Positionen beziehen. In keinem politischen System existiere eine politische Ratio gleichsam als Ding an sich, ohne Bezugnahme auf einen elementaren Konsens, auf gemeinsame Interessen und Perspektiven. "Identität bietet den Rahmen, in dem die Politik in Pro und Contra ihre Prioritäten setzen und begründen kann. Ohne einen solchen Kontext der europäischen Selbstverständigung gerät Politik bestenfalls zum situativen Krisenmanagement."

Misst man die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik an den Kriterien der Interessenkonvergenz sowie an weltweiter politischer und militärischer Handlungsfähigkeit, dann unterscheidet sie sich - trotz ungezählter außenpolitischer Stellungnahmen, zahlreicher gemeinsamer Standpunkte und gemeinsamer Aktionen zu meist unkontroversen außenpolitischen Fragen - bislang nur unwesentlich von ihrem Vorläufer, der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) der siebziger und achtziger Jahre: stark im Bereich der Außenwirtschaftspolitik und der Entwicklungshilfe, schwach, wenn es darum geht, schnell und effektiv auf außenpolitische Krisen zu reagieren. Amerikanische Führung geradezu selbstverständlich voraussetzend, haben sich die EU-Staaten seit langem in eine sicherheitspolitische Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten, dem "gütigen Hegemon" , begeben.

Bis in den Herbst des Jahres 1998 scheiterte ein rascherer Ausbau der europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht zuletzt daran, dass die Mächte, die - wie Deutschland - auf ein verstärktes Gemeinschaftshandeln drängten, erkennen mussten, dass ihre Ressourcen den Anforderungen nicht gerecht wurden; dass aber diejenigen Mitgliedstaaten, die - wie das Vereinigte Königreich - schon seit einigen Jahren ihre Streitkräfte auf die Herausforderungen der Zukunft eingestellt haben, kein Interesse an einer Stärkung des zweiten Pfeilers des Maastricht-Vertragswerks zeigten. Ohne militärischen Unterbau würde jedoch selbst bei politischer Übereinstimmung eine außenpolitische Glaubwürdigkeitslücke klaffen. Die europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität blieb ohne politische und institutionelle Verbindungen zur EU und ohne abgestimmte Arbeitsmethoden und Entscheidungsprozesse ein tot geborenes Kind. Die WEU selbst hat sich in fast allen Krisen der zurückliegenden Jahre, die nach der einen oder anderen Form eines militärischen Beitrags verlangten, als irrelevant erwiesen . Ganz abgesehen davon, dass die Organisation mit den ihr zur Verfügung stehenden Instrumenten und ohne permanente militärische Strukturen allenfalls Operationen am untersten Rand der Petersberg-Aufgaben durchführen konnte, gab es unter den europäischen Mächten nie den gemeinsamen Willen, die WEU sichtbar und effektiv in den europäischen Entscheidungsprozess einzubinden.

IV. Das Signal von Saint-Malo

Mit der in der nordwestfranzösischen Hafenstadt Saint-Malo unterzeichneten britisch-französischen "Erklärung zur Europäischen Verteidigung" vom 4. Dezember 1998 wurde jedoch ein neuer Prozess mit einer bemerkenswerten Eigendynamik eingeleitet. Im Mittelpunkt steht dabei die programmatisch formulierte Absicht, die autonome Handlungsfähigkeit der EU auf der internationalen Bühne sicherzustellen. Dazu ist der schrittweise Ausbau einer Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vorgesehen - auf intergouvernementaler Grundlage, d. h. im Rahmen des Europäischen Rats und des Rats "Allgemeiner Angelegenheiten" unter Beteiligung der Verteidigungsminister, jedoch unter Ausschluss der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments. Dadurch wird der Wunsch nach Beibehaltung nationaler Hoheitsrechte in Verteidigungsfragen mit der Notwendigkeit kollektiven Handelns kombiniert. Neben der Bereitschaft zu einem koordinierten, gemeinsamen außen- und sicherheitspolitischen Handeln geht es vor allem um den Auf- und Ausbau effektiver militärischer Kräfte sowie geeigneter Strukturen, die einen reibungslosen Entscheidungsprozess erleichtern. Implizit bereits in der Erklärung von Saint-Malo angelegt war die teilweise Einbeziehung der Aufgaben der WEU in die der EU.

Während die britisch-französische Vereinbarung vor allem von angloamerikanischen Kommentatoren und den beteiligten Akteuren selbst als historisches Abkommen bezeichnet wurde , nahm die deutsche Medienlandschaft - zugleich die Überraschung in Bonner Regierungskreisen widerspiegelnd - zunächst so gut wie keine Notiz von dem Dokument. Im Nordatlantischen Bündnis sowie in der WEU hingegen, deren Parlamentarische Versammlung just in jenen Dezembertagen in Paris tagte und sich plötzlich mit dem Gedanken an das eigene vorzeitige Ableben beschäftigen musste, erkannte man früh, dass die Erklärung den Hauch eines fundamentalen Neubeginns in sich trug. Die dem bilateralen Anstoß folgende Debatte hat vor allem drei Dinge deutlich gemacht. Erstens: Nur wenn die Großen Drei in Europa in den bedeutenden Fragen an einem Strang ziehen, kann das europäische Projekt auch in Zukunft erfolgreich vorangetrieben werden. Zweitens: Nur ein enger Abstimmungsprozess mit den USA, Kanada und den europäischen NATO-Partnern, die (noch) nicht Mitgliedstaaten der EU sind, kann unnötige Irritationen auf beiden Seiten verhindern. Und drittens: Für einen Zeitraum von mehreren Jahren kann es nur um Krisenmanagement in relativ kleinem Rahmen gehen.

1. Konstruktives Engagement und das Verlangen nach einem gleichgewichtigen transatlantischen Dialog

Noch 1983, als Tony Blair erstmals in das britische Unterhaus gewählt wurde, hatte die Arbeiterpartei unter Oppositionsführer Tony Benn radikal für einen Rückzug Großbritanniens aus der Europäischen Gemeinschaft plädiert. Spätestens seit der Wahl Blairs zum Parteichef im Mai 1994 lässt sich jedoch ein fundamentaler Politikwechsel der Labourpartei in Europafragen konstatieren. Das gilt ungeachtet des vor allem taktisch motivierten Verhaltens seit den verlorenen Europawahlen im Juni 1999, die die Konservativen zu einem Referendum gegen den Beitritt Londons zur Europäischen Währungsunion hochstilisierten. Blair hat wie nur wenige seiner Amtsvorgänger in den vergangenen vier Jahrzehnten eine reale Vorstellung von der Rolle Großbritanniens in Europa und der Welt. In einer Schlüsselrede vor dem Londoner Royal Institute of International Affairs im April 1995 warnte er davor, dass ein Festhalten an der Vorstellung vom europäischen Integrationsprozess als außenpolitisches Nullsummenspiel letztendlich in die außenpolitische Isolation und damit zu einem weiteren Macht- und Einflussverlust des Vereinigten Königreichs führen werde. Stattdessen plädierte er für eine Politik des "konstruktiven Engagements" innerhalb der europäischen Institutionen. Nur wer sich der Teilnahme am europäischen Integrationsprozess nicht verweigere und nach Bündnispartnern in Europa suche, könne diesen Prozess auch mitgestalten und die Richtung maßgeblich beeinflussen .

Angestoßen durch Gedankenspiele im Foreign Office, wurden im Sommer 1998 in britischen Regierungskreisen deshalb Überlegungen angestellt, wie der befürchteten außenpolitischen Marginalisierung als Konsequenz des Euro-Beitrittsverzichts mit Initiativen in anderen Politikfeldern entgegengewirkt werden könne. Zeitgleich veröffentlichte der Direktor des der Labourpartei nahe stehenden Centre for European Reform unter dem programmatischen Titel "Can Britain Lead in Europe?" eine Schrift, in der eine führende britische Rolle im Bereich der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik angemahnt wurde . Blair selbst, der sich im Klaren darüber war, dass Großbritannien im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich seinen stärksten Trumpf ausspielen konnte, da dieser den Aspekt der Glaubwürdigkeit mit der Aussicht auf Einfluss und Führungsanspruch verband, nutzte trotz einiger Bedenken in Whitehall das informelle EU-Gipfeltreffen im österreichischen Pörtschach Ende Oktober 1998 zu der Anregung, in diesem Bereich über neue Konzepte nachzudenken.

Für die erfolgreiche Lancierung eines offiziellen Programms erschien das Frankreich Chiracs in vielfacher Hinsicht als der ideale Bündnispartner, hatte doch der französische Präsident selbst unmittelbar nach seinem Wahlsieg im Juli 1995 Hoffnungen auf engere bilaterale Beziehungen geweckt. Als einzige europäische Atommächte und UN-Sicherheitsratsmitglieder, deren Stimme in den EU-Gremien stets besonderes Gehör findet, verfügen beide Staaten über moderne, schnell über große Entfernungen verlegbare, erfahrene und über einen längeren Zeitraum stationierbare Streitkräfte, die in allen Teilbereichen den meisten europäischen Partnern überlegen sind. Darüber hinaus versprach die Kooperation zweier Staaten, deren Regierungen im Bereich der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik über Jahre hinweg mit Argumenten an den entgegengesetzten Enden der Skala operiert hatten, die Entwicklung einer positiven Eigendynamik, die andere Staaten mitziehen würde - auch wenn sich beide Regierungen durch ihre diplomatischen Vertreter in den informellen Gremien um die Vermeidung des Eindrucks eines Fait accompli bemühten.

Amerikanischen Bestrebungen, die eigene Weltmachtposition hegemonial zu nutzen, hatte Frankreich über viele Jahre das Verlangen nach einem gleichgewichtigen transatlantischen Dialog entgegengesetzt, aber auch vermehrt die Bereitschaft erkennen lassen, der NATO bei der Ausformung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität eine wichtige Rolle zuzugestehen. Obwohl die Rückkehr in die integrierten militärischen Strukturen der NATO nicht zuletzt an der fehlenden französisch-amerikanischen Einigung über die Besetzung des AFSOUTH-Kommandos (AFSOUTH = Allied Forces Southern Europe) in Neapel scheiterte, ist Paris weit davon entfernt, im Bündnis eine Politik des leeren Stuhls zu betreiben. Die verteidigungspolitische Annäherung zwischen Großbritannien und Frankreich ist aber auch durch das Ende des Kalten Krieges und die Kriege auf dem Balkan gefördert worden. Beide Staaten haben erkannt, dass interne Stabilität und Integration innerhalb EU-Europas als Beitrag zu den transatlantischen Beziehungen nicht länger ausreichen, will Europa nicht zum Kontinent "with no trumps, no luck, no will" (Stanley Hoffmann) herabsinken.

2. Die skeptische Supermacht

Washington reagierte zunächst mit Skepsis auf die europäische Initiative. Weil die USA seit dem Ende der Blockkonfrontation ein wachsendes Interesse an einer Verminderung der eigenen Verteidigungslasten in Europa haben, wurde die Aussicht auf ein verstärktes europäisches Engagement begrüßt, soweit es sich um den Ausbau militärischer Fähigkeiten und finanzieller Anstrengungen handelte. Als sich die EU-Regierungen aber anschickten, zunächst den Aufbau neuer Entscheidungsstrukturen voranzutreiben und damit institutionellen Veränderungen scheinbar den Vorrang vor einer Stärkung des militärischen Dispositivs gaben, interpretierte die Hegemonialmacht das Verhalten der EU als Versuch - wann immer möglich -, außerhalb der Atlantischen Allianz zu handeln, und sah darin langfristig eine gegen die eigene Führungsposition gerichtete Herausforderung. Gefördert durch das gespannte Verhältnis Paris - Washington, bestand somit die Gefahr einer Neuauflage der unergiebigen Debatten vergangener Jahre: Während die eine Seite ein höheres Maß an Mitsprache begehrte, ihren Anspruch aber nicht durch entsprechende Leistungen einlöste, forderte die andere Seite verstärkte Bemühungen, ohne im Gegenzug die Teilung von Verantwortung in Aussicht zu stellen. Die von US-Außenministerin Albright frühzeitig aufgestellten "3-D-Warntafeln" ("no decoupling, no duplication, no discrimination" ) trugen entscheidend dazu bei, dass die Europäer sich nicht nur mit den berechtigten US-Bedenken auseinandersetzen, sondern auch an die im Februar 1991 mit ungewöhnlicher Deutlichkeit vorgetragenen Warnungen Washingtons vor rein europäischen Sicherheitsarrangements erinnert wurden.

Als wenig hilfreich erwies sich die vom State Department geäußerte, auf Anhörungen in Senat und Repräsentantenhaus zurückgehende Erwartung, der NATO beim Krisenmanagement ein right of first refusal einzuräumen, weil sie auf einer Vorstellung beruht, die auch den Befürwortern eines kooperativen Gleichgewichts fremd ist. Diese wünschen sich die Allianz als Fundament euro-atlantischer Stabilität und wissen, dass es unklug wäre, europäische Sicherheit auf dem Prinzip transatlantischer Rivalität statt auf Partnerschaft aufzubauen. Bei europäischen Krisen mit hohem Konfliktrisiko und großem Eskalationspotential werden sich die Amerikaner an einem Einsatz beteiligen wollen, und keine europäische Regierung wird sich dem verschließen - auf absehbare Zeit aufgrund unterentwickelter Fähigkeiten auch nicht verschließen können.

Auch wenn Washingtons Haltung nach wie vor von Skepsis geprägt ist, mehren sich seit den den Ausbau militärischer Fähigkeiten betonenden Beschlüssen von Helsinki und Feira sowie den auf eine Bündelung der Kräfte zielenden bi- und multilateralen Vereinbarungen sowohl im demokratischen als auch im republikanischen Lager die Stimmen derer, die eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik als Chance begreifen. Ein Anwachsen der militärtechnologischen Lücke würde die Neigung der USA zum Unilateralismus oder gar Isolationismus eher noch verstärken. Zu einer Zeit, da der Stellenwert Europas für die USA relativ an Bedeutung verliert, liegt es im amerikanischen Interesse, dass die Europäer sich selbst so organisieren, dass sie zum Krisenmanagement an der eigenen Peripherie imstande sind, zumal dann, wenn die USA keine unmittelbaren eigenen strategischen und/oder ökonomischen Interessen verfolgen. "Capabilities for Influence" lautet daher die Losung für die transatlantische Partnerschaft der Zukunft . Die Herausbildung eines militärischen Dispositivs, das den Anforderungen der Zukunft gerecht wird, gehört deshalb zu den vorrangigen Aufgaben der Europäer.

V. Stärkung der operativen Fähigkeiten

Für viele Regierungen ergibt sich dabei jedoch ein Ziel-Mittel-Konflikt, da autonome politische Handlungsfähigkeit nicht nur effizienter Entscheidungsstrukturen und der Bereitschaft zur Übernahme von Führungsaufgaben bedarf, sondern vor allem eines verstärkten militärischen und finanziellen Engagements - was denen, die zehn Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ein unvermindertes Ansteigen der bereits beträchtlichen Friedensdividende einfordern, nicht leicht fallen wird.

Die veränderte Sicherheits- und Bedrohungslage sowie die damit einhergehenden vielfältigen strategischen Erfordernisse, die im Neuen Strategischen Konzept der Allianz vom April 1999 ihren Niederschlag gefunden haben, spiegeln sich bei fast allen europäischen Armeen bisher nur unzureichend in der Streitkräftestruktur und -ausrüstung wider. Die Truppenstärke der EU-Streitkräfte, die mit insgesamt zwei Millionen die der USA um ein Drittel übersteigt, steht in einem unverhältnismäßigen Widerspruch zu den mit einer Interventionsfähigkeit verbundenen Erfordernissen: Flexibilität, Mobilität, Dislozierung, Interoperabilität und Durchhaltevermögen. Mit 60 Prozent der US-Verteidigungsausgaben liegen die europäischen Verteidigungsausgaben zwar deutlich unter denen der weltweit engagierten Supermacht; entscheidender aber ist die Tatsache, dass Europa weniger als 20 Prozent der operativen Fähigkeiten der US-Einsatzkräfte mobilisieren kann. Auch wenn die Europäer über Krisenreaktionskräfte (KRK) mit Abstufungen in der Bereitschaft und Präsenz verfügen, blieb das Denken in Bonn und Brüssel bis zum Ende der neunziger Jahre "nicht frei von der überkommenden Fixierung nach Osten auf einen kontinentalen Landkrieg mit großen Panzerverbänden, massivem Artilleriefeuer und Luftunterstützung für eine Defensive" .

Wie die Einsätze in Südosteuropa zeigen, reicht die vorhandene Zahl der KRK mittel- und langfristig bei weitem nicht aus. Der Europäische Rat von Helsinki hat deshalb beschlossen, dass die EU bis Ende 2003 in der Lage sein soll, binnen 60 Tagen eine schnelle Eingreiftruppe mit einer Stärke von 50 000-60 000 Soldaten zur internationalen Krisenbewältigung zu verlegen und mindestens ein Jahr im Einsatz zu halten. In der Praxis bedeutet das eine Verfügungstruppe von 150 000-180 000 Mann: eine Gruppe im Einsatz, eine trainierte Reserve in Bereitstellung zur Ablösung und eine in der Erholungsphase nach dem Einsatz . Zusätzlich mangelt es an Fähigkeiten in den Bereichen Kommunikation, Führung, strategischer Lufttransport und strategische Aufklärung zur Früherkennung von Krisen. Mit den jüngsten deutsch-französischen Beschlüssen zum Aufbau eines Lufttransportkommandos und eines militärischen Satellitenaufklärungssystems gibt es hier jedoch Fortschritte. Ob der politische Wille zur Bereitstellung der benötigten Gelder für die Umsetzung der sowohl terminlich als auch finanziell ambitionierten Programme vorhanden ist, bleibt abzuwarten.

Zahlreiche europäische Regierungen - allen voran die britische - haben in den vergangenen Jahren verteidigungspolitische Reformprogramme vorgestellt. In Berlin sind die Grundentscheidungen für die Zukunft der Bundeswehr inzwischen vom Kabinett verabschiedet worden. Zum 1. April 2001 soll mit dem Umbau der Streitkräfte begonnen werden, deren Gesamtumfang bei einer Erhöhung des Anteils an Zeit- und Berufssoldaten auf 282 000 sinken wird. Deutschland investiert prozentual seit Jahren nicht nur deutlich weniger als die französischen und britischen Partner in seine Streitkräfte, sondern liegt damit auch deutlich unter dem NATO-Durchschnitt. Darüber hinaus wird ein unverhältnismäßig hoher Anteil für Personalkosten benötigt. Bei gestiegenen Unterhalts- und Reparaturkosten für zum Teil völlig veraltete Ausrüstung wird der ohnehin geringe investive Anteil in den kommenden Jahren durch die leicht verbesserten Eckdaten im Verteidigungsetat nicht in dem notwendigen Ausmaß vergrößert . Das hat Auswirkungen nicht nur auf die militärische Substanz und die Beschaffungsplanung, sondern auch auf die von den Partnern immer lauter gestellte Frage nach der Handlungs- und Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik - selbst wenn sich manche Schwierigkeiten, das hat das britische Beispiel gezeigt , durch Restrukturierung und Reorganisation - wie etwa eine engere Zusammenarbeit zwischen den Truppenteilen - überbrücken lassen.

In Anbetracht des vielfach unnötigen Wettbewerbs ungezählter Organisationen um die ohnehin begrenzten finanziellen Ressourcen ergibt sich im Kontext einer europäischen Verteidigungspolitik die Notwendigkeit zu einer engeren Koordinierung und Kooperation. Die von der WEU durchgeführte Bestandsaufnahme hinsichtlich militärischer Kapazitäten für die Krisenbewältigung sowie die auf dem Washingtoner Gipfeltreffen lancierte Defence Capabilities Initiative sind auch vor diesem Hintergrund zu interpretieren. Die Fusion der deutschen Dasa, der französischen Aérospatiale Matra und der spanischen Casa zum drittgrößten Luft- und Raumfahrtunternehmen der Welt (EADS) ist deshalb ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer effizienteren europäischen Luft-, Raumfahrt- und Rüstungsindustrie. Synergieeffekte allein werden jedoch nicht zur Umsetzung der Beschlüsse ausreichen.

VI. Aufbau neuer Entscheidungsstrukturen

Neben die grundlegende Stärkung der operativen Fähigkeiten tritt der Aufbau geeigneter institutioneller Strukturen, die den Mitgliedstaaten im Krisenfall einen effektiven Entscheidungsablauf ermöglichen sollen. Dem Wunsch nach bürokratischer und institutioneller Geradlinigkeit stehen dabei nicht unerhebliche Probleme bei der Umsetzung gegenüber - geht es doch darum, mit einer europäischen Verteidigungspolitik nicht die Atlantische Allianz zu schwächen und die Konformität im Hinblick auf verschiedene Verpflichtungen in der NATO ebenso zu berücksichtigen wie die unterschiedliche Mitgliedschaft der europäischen Staaten im existierenden Organisationsdreieck. Der Aufbau neuer Entscheidungsstrukturen ist in den vergangenen Monaten zügig vorangeschritten. Seit dem 1. März 2000 verfügt die EU interimistisch über einen sicherheitspolitischen Ausschuss, dem ein Militärausschuss und ein Militärstab zur Seite gestellt werden. Eine wichtige Funktion bei der Formulierung, Vorbereitung und Durchführung politischer Entscheidungen kommt dem Hohen Vertreter der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu, dem ehemaligen NATO-Generalsekretär Javier Solana. Zu erwägen wäre, ob der Hohe Repräsentant im Bereich der GASP die koordinierenden und vermittelnden Aufgaben der bisherigen Ratspräsidentschaft übernimmt. Die im Vertrag von Amsterdam vorgesehene Möglichkeit der vollständigen Integration der WEU in die EU kommt nicht zum Zuge. Einige Komponenten werden sich in der EU wiederfinden; die Überführung anderer in einen abtrennbaren, aber nicht getrennten europäischen Pfeiler der NATO liegt schon deshalb nahe, weil der Aufbau paralleler militärischer Strukturen einen politisch gefährlichen und wirtschaftlich kostspieligen Wettbewerb um knappe Ressourcen eröffnen würde.

Die politische Aufsicht über EU-geführte Operationen wird bei den Außen- und Verteidigungsministern liegen, während die militärische Durchführung - sofern es sich nicht um Operationen ohne Rückgriff auf Strukturen und Fähigkeiten der NATO handelt - Aufgabe herauszulösender europäischer Militärstäbe und designierter Streitkräfte sein wird unter Hinzuziehung weiterer europäischer Kontingente, die nicht in den NATO-Kommandostrukturen repräsentiert sind, sich aber an EU-geführten Operationen beteiligten wollen. Vor allem in den Bereichen der militärischen und der Streitkräfteplanung, der gemeinsamen Streitkräftekommandos (CJTF), der neuen Führungsleitlinien und des Austauschs von Informationen wird die EU sich auf die in den vergangenen Jahren intensivierten Beziehungen zwischen WEU und NATO stützen können, einen verbindlichen EU-NATO-Koordinierungsmechanismus festlegen wollen und auf der Grundlage eines Abkommens, das die Prinzipien und Modalitäten für den Transfer, die Überwachung und die Rückführung von NATO-Kapazitäten regelt, mit der Allianz zusammenarbeiten.

Interessenkonflikte können sich dann ergeben, wenn beide Organisationen zeitgleich den Zugriff auf Schlüsselkapazitäten für sich beanspruchen. Schon weil zahlreiche der so genannten NATO-Fähigkeiten de facto US-Fähigkeiten sind, wird eine enge politisch-diplomatische Abstimmung zwischen der EU und den USA von großer Bedeutung sein, um das Aufkommen von Misstrauen und die Versuchung der gegenseitigen Blockade auf ein Minimum zu reduzieren. Das bedeutet nicht, dass die USA in Brüssel mit "am Kabinettstisch" sitzen. Koordination heißt vielmehr, dass die Absichten der Europäer "vorab in ihren Auswirkungen auf den wichtigsten Partner der Union kalkuliert und in der Perspektive einer gleichberechtigten Kooperation mit den USA konzipiert werden" . Die Amerikaner werden ihrerseits die Abhängigkeit der EU von US-Fähigkeiten nicht ausnutzen wollen, weil eine solche Politik als Aufforderung zu einem europäischen Alleingang missverstanden werden könnte.

Der Europäische Rat hat sich darüber hinaus darauf verständigt, die von der WEU in den letzten Jahren entwickelten Konsultationsmechanismen zwischen Vollmitgliedern, assoziierten Mitgliedern, Beobachtern und assoziierten Partnern auch im Rahmen einer neustrukturierten Zusammenarbeit sicherzustellen. Dabei soll der kritische Unterschied zwischen Verteidigungsgarantie einerseits und politischer Solidarität andererseits nicht verwischt werden. Die vier neutralen EU-Mitgliedstaaten können nicht als Quasialliierte behandelt werden. Vorstellbar ist, dass die zehn WEU-Mitglieder einen inneren verteidigungspolitischen Kern bilden. Darum herum ließe sich ein Kreis der neutralen Staaten sowie, wenn es daran teilzunehmen wünscht, Dänemarks bilden. Kein Staat wird verpflichtet, sich an Militäroperationen zu beteiligen. Andererseits sollte aber über die Möglichkeit der konstruktiven Enthaltung auch in verteidigungspolitischen Fragen nachgedacht werden. Schließlich werden auch die europäischen NATO-Staaten, die nicht der EU angehören, sowie die weiteren EU-Beitrittskandidaten an Konsultationen, bei der Bereitstellung von Truppenkontingenten zu EU-geführten Operationen auch am detaillierten militärischen Planungsprozess, beteiligt werden. Vor allem durch die auch unter strategischen Gesichtspunkten unentbehrliche sicherheitspolitische Anbindung der Türkei kann die EU erneut ihr Interesse an engeren Beziehungen zum Ausdruck bringen.

VII. Ausblick

Die sicherheits- und verteidigungspolitischen Initiativen der vergangenen zwei Jahre deuten darauf hin, dass sich die Europäische Union nicht länger mit Schritten pragmatischer Anpassung bescheiden, sondern die Entwicklung zu einer außenpolitisch voll handlungsfähigen Politischen Union entschlossen vorantreiben will. Den Begriff der "Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität" auf den Transformationsprozess der NATO zu einem ausgewogenen europäisch-amerikanischen Bündnis zu beschränken ist schon deshalb irreführend, weil gerade die kollektive Einsicht der Europäer, dass gemeinsame Interessen und Ziele den Bezugsrahmen für politische Handlungsfähigkeit bilden, den Anstoß zu den jüngsten, im institutionellen Rahmen der EU vorangetriebenen Entwicklungen gegeben hat. Die neu formulierten Aufgaben des zivilen und militärischen Krisenmanagements sind dabei Teil einer umfassenden, erst in ihrer Gesamtheit den Charakter des Modernen gewinnenden Strategie, die von der Krisenvorbeugung bis hin zur Krisenbewältigung reicht; im recht verstandenen Sinne stehen die einzelnen Aspekte also nicht in Konkurrenz zueinander.

Die Umsetzung der Absichtserklärungen wird einen langen Zeitraum in Anspruch nehmen. Während die neu geschaffenen institutionellen Instrumente bei entsprechender Bereitschaft zur Übernahme von Führungsaufgaben schon in wenigen Jahren einen reibungslosen Entscheidungsprozess ermöglichen werden, wird die Anpassung des militärischen Dispositivs an die neuen Herausforderungen nur dann gelingen, wenn erstens die vorhandenen Mittel besser eingesetzt werden, zweitens die militärische Effizienz durch europäische Zusammenarbeit deutlich erhöht wird und drittens über das dadurch gewonnene Einsparpotenzial hinaus zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden. Von Deutschland wird erwartet, dass es zusammen mit Frankreich und Großbritannien eine führende Rolle übernimmt. Neben die Bereitschaft zur Übernahme entsprechender Verantwortung muss deshalb die Führungsfähigkeit treten. Wenn die entstandene Eigendynamik in den kommenden Jahren entschlossen genutzt wird, wird eine erweiterte EU am Ende des Jahrzehnts als sicherheitspolitischer Akteur in Erscheinung treten. Anderenfalls würde sich der gesamte Prozess als militärisch bedeutungslos und politisch schädlich erweisen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die USA flogen mehr als 70 Prozent aller Einsätze, mehr als 80 Prozent der benutzten Munition kam aus US-Beständen; vgl. The Military Balance 1999/2000, London 1999, S. 30, 289. Umgekehrt gilt: Im Kosovo bilden europäische Kontingente mit 80 Prozent der Gesamttruppenstärke das Rückgrat der unter NATO-Kommando stehenden Friedenstruppe KFOR; mehr als 70 Prozent der Kosten des zivilen Wiederaufbaus tragen die Europäer. Auf den begrenzten Handlungsspielraum verwies Außenminister Fischer: "Der Kontinent werde ,immer fremdbestimmt' bleiben, wenn die Europäer nicht zu einer gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik fänden", in: Externer Link: http://www.eu-praesidentschaft.de/03/0314/01041/index.html.

  2. Die Petersberg-Aufgaben, 1992 im Rahmen der Westeuropäischen Union (WEU) formuliert und inzwischen Bestandteil des Amsterdamer Vertrags, umfassen humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung, einschließlich friedensschaffender Maßnahmen. Zur Geschichte der WEU vgl. Anne Deighton (Hrsg.), Western European Union 1954-1997: Defence, Security, Integration, Oxford 1997; Erklärungen der WEU: Externer Link: http://www.weu.int, der EU: Externer Link: http://www.eu.int, der NATO: Externer Link: http://www.nato.int.

  3. Vgl. Michael Rühle, Transatlantische Dissonanzen, in: Internationale Politik, 55 (2000) 4, S. 43-46.

  4. Werner Link, Deutschland im multipolaren Gleichgewicht der großen Mächte und Regionen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 24/2000, S. 30; ders., Die Neuordnung der Weltpolitik. Grundprobleme globaler Politik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, München 1998, S. 136 ff.

  5. Zit. in: Hugo Young, This Blessed Plot. Britain and Europe from Churchill to Blair, London 1998, S. 13.

  6. Vgl. Klaus Naumann, Europa in der NATO, in: Internationale Politik, 54 (1999) 4, S. 55-60.

  7. Werner Weidenfeld, Die Bedrohung Europas, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 12. 5. 1999; vgl. auch Philip H. Gordon, Europe's Uncommon Foreign Policy, in: International Security, 22 (1997) 3, S. 74-100.

  8. Helga Haftendorn, Der gütige Hegemon und die unsichere Mittelmacht: deutsch-amerikanische Beziehungen im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29-30/99, S. 3-11.

  9. Vgl. Geoffrey van Orden, A European Union Perspective on the European Security and Defence Identity, in: A. Deighton (Anm. 2), S. 119-133. WEU-Aktionen der letzten Jahre haben sich auf Embargo-Überwachungen sowie auf Polizeiaufgaben beschränkt.

  10. In der deutschen Fassung in: Internationale Politik, 54 (1999) 2-3, S. 127-128.

  11. Vgl. Paris Joins London on a Push for Defense, in: International Herald Tribune (IHT) vom 2. 12. 1998; Blair and Chirac Sketch Defense Pact, in: IHT vom 4. 12. 1998; Putting Europe in Uniform, in: Financial Times vom 7. 12. 1998.

  12. Vgl. H. Young (Anm. 5), S. 485.

  13. Vgl. Charles Grant, Can Britain Lead in Europe?, London 1998, S. 44-50.

  14. D. h. keine Abkoppelung europäischer von transatlantischen Entscheidungsprozessen, keine Verdoppelung von Streitkräfteplanungen, Kommandostrukturen und Beschaffungsmaßnahmen, keine Diskriminierung europäischer NATO-/Nicht-EU-Mitglieder; Madeleine Albright, The Right Balance Will Secure NATO's Future, in: Financial Times vom 7. 12. 1998.

  15. Vgl. Charles A. Kupchan, In Defence of European Defence: An American Perspective, in: Survival, 42 (2000) 2, S. 16-32; ders., After Pax Americana. Benign Power, Regional Integration, and the Sources of a Stable Multipolarity, in: International Security, 23 (1998) 2, S. 40-79; ders./Robert B. Zoellick, It can be lonely at the top, in: Financial Times vom 13. 12. 1999. Zur amerikanischen Debatte vgl. Stanley R. Sloan, The United States and European Defence, Chaillot Paper 39, Paris 2000.

  16. So hat sich z. B. der Anteil des deutschen Verteidigungsetats am Gesamthaushalt in den letzten zehn Jahren halbiert. Der Streitkräfteumfang ist in den letzten acht Jahren um 125 000 auf 333 000 gesunken und wird weiter auf ca. 282 000 reduziert.

  17. Lothar Rühl, Die Optionen sind begrenzt, in: FAZ vom 28. 8. 1999; vgl. ferner Franz-Josef Meiers, Obsolet, überdimensioniert, unterfinanziert, in: FAZ vom 14. 8. 1998.

  18. Vgl. Lothar Rühl, Die Kräfte müssen konzentriert werden, in: FAZ vom 28. 12. 1999; ders., Die Bundeswehr-Reform aus bündnispolitischer Sicht. Die gewandelten politischen und strategischen Rahmenbedingungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 43/2000, S. 7; François Heisbourg, Europe's Strategic Ambitions: The Limitis of Ambiguity, in: Survival, 42 (2000) 2, S. 11.

  19. Der Verteidigungshaushalt 2000 umfasst einen Gesamtbetrag von 45,3 Mrd.; davon verschlingen die Personalkosten 52,5 Prozent, während 24,7 Prozent für Neuinvestitionen verbleiben. Die USA investieren dreimal soviel in militärische Forschung und Entwicklung wie die Europäer; vgl. The Military Balance (Anm. 1), S. 37. Vgl. ferner "Scharping: Bundeswehr nicht voll bündnisfähig", in: FAZ vom 28. 3. 2000; François Heisbourg, Trittbrettfahrer? Keine europäische Verteidigung ohne Deutschland, in: Internationale Politik, 55 (2000) 4, S. 35-42.

  20. Vgl. Colin McInnes, Labour's Strategic Defence Review, in: International Affairs, 74 (1998) 4, S. 823-845.

  21. Werner Weidenfeld, Kulturbruch mit Amerika? Das Ende transatlantischer Selbstverständlichkeit, Gütersloh 1996, S. 100.

M. Phil. (Cambridge), geb. 1968; Studium u.a. der Politikwissenschaft an den Universitäten Bonn, Oxford und Cambridge; wissenschaftlicher Mitarbeiter im Internationalen Sekretariat der NATO Parliamentary Assembly, Brüssel.

Anschrift: 30 rue Jacques Jansen, B-1030 Brüssel.

Veröffentlichungen in deutschen und internationalen Fachzeitschriften, u. a.: Harold Macmillan und die Berlin-Krise 1958/59, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 44 (1996).