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Zehn Jahre deutsche Einheit Editorial Bürgerinnen und Bürger der Einheit Zehn Jahre deutsche Einheit: Von Häusern und Utopien Neues Deutschland Zehn Jahre deutsche Einheit Deutschland an der Jahrtausendwende

Zehn Jahre deutsche Einheit: Eine kritische Bilanz

Rita Süssmuth

/ 18 Minuten zu lesen

Vor mehr als einem Jahrzehnt fiel in Berlin die Mauer und feierte anschließend Deutschland seine Wiedervereinigung. Wie hat sich im Laufe der Zeit das Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschen verändert?

Einleitung

Auch zehn Jahre nach dem Fall der Mauer reißt die Debatte um den Stand der deutschen Einheit, um Fortschritt und Rückschritt nicht ab. In immer kürzeren Abständen wird gefragt, inwieweit sich Ost- und Westdeutsche in Bezug auf Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit, in ihren Einstellungen zur Demokratie, ihrer Zugehörigkeit zu Deutschland einander angeglichen oder voneinander entfernt haben. Das Vermessen nimmt kein Ende. Und offen bleibt, wie viel Unterschiedlichkeit, wie viel Pluralität akzeptiert, ja erwünscht ist.

I. Abschnitt

Warum, so frage ich zu Beginn meines Beitrages, sind uns unsere Befindlichkeiten so wichtig, warum reden wir so viel und meistens negativ darüber? Aussagen über unser Befinden resultieren aus momentanen oder auch anhaltenden Empfindungen, aus Stimmungen, Reflexionen, aber auch aus situationsgebundenen Bewertungen der individuellen Wünsche und Defizite. Befindlichkeit ist ein zusammengefasstes Urteil über die Situation, in der sich Individuen existentiell aufhalten. Befindlichkeiten sind schwierig zu fassen - und wie wir Menschen selbst selten eindeutig in der Aussage, vielmehr komplex und wechselnd, je nach subjektiver Lage und öffentlichem Trend. Daneben zeigen sich tendenzielle Verstetigungen. Zwischen Deutschen in Ost und West gibt es Mentalitätsunterschiede ebenso wie zwischen Deutschen in Nord und Süd, trotzdem gibt es viele Gemeinsamkeiten in den persönlichen Wertorientierungen. Aber es gibt Unterschiede, die für unsere politische Ordnung von Bedeutung sind: der Grad der Zustimmung zur oder Ablehnung der bundesrepublikanischen Demokratie, die Bewertung von Freiheit im Verhältnis zur Gleichheit, die Bewertung der Planwirtschaft im Verhältnis zur sozialen Marktwirtschaft oder die persönliche Empfindung der Zugehörigkeit als Bürger bzw. Bürgerin zur Bundesrepublik Deutschland. Wenn nur 29 Prozent der Ostdeutschen im Vergleich zu 70 Prozent der Westdeutschen der Demokratie, so wie sie in der Bundesrepublik politisch praktiziert wird, zustimmen, so muss sowohl nach den Ursachen als auch nach Konsequenzen und Folgerungen gefragt werden. Das gilt ebenso für erhebliche Abweichungen in den politischen Wertorientierungen von Freiheit im Verhältnis zu Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit. Ostdeutsche halten Gleichheit und soziale Gerechtigkeit gegenwärtig für wichtiger als individuelle Freiheitsrechte. Planwirtschaft wird als das ,,menschlichere" System bewertet, besser geeignet, soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen. Deutliche Unterschiede bestehen auch in dem Zugehörigkeitsgefühl zur Bundesrepublik Deutschland. 50 Prozent der befragten Ostdeutschen fühlen sich in erster Linie als Ostdeutsche und haben zugleich das Gefühl, Bürger ,,zweiter Klasse" zu sein. Sie sind - bei hoher Akzeptanz der demokratischen Prinzipien - entsprechend unzufrieden mit der praktizierten Demokratie der Bundesrepublik. Befindlichkeiten sind ausschlaggebend für unser Denken und Handeln, für unsere Motivation. Sie sind relevant für unsere innere Einigungsfähigkeit. Wenn es um die Zukunftsfähigkeit aller Deutschen geht, dann reichen ,,Ost-West-Vergleiche" allein aber nicht aus, dann ist doch zu fragen, in welcher Verfassung wir Deutschen insgesamt sind, um den Herausforderungen der Zukunft entsprechen zu können. Unser Zusammenwachsen ist wichtig, aber wir haben zehn Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung gemeinsame Herausforderungen zur Transformation Deutschlands in einem veränderten Europa und einer globalisierten Welt zu meistern. Dabei haben es die Ostdeutschen gleichzeitig mit einer doppelten Transformation zu tun: Systemwechsel auf nationaler Ebene und Umstellung auf den globalen Wettbewerb auf weltweiten Märkten. Um diesen Herausforderungen entsprechen zu können, bedarf es der inneren Bereitschaft zu Veränderungen des Bestehenden; es bedarf des Selbst- und Fremdvertrauens, der Eigeninitiative, der Risikobereitschaft, es bedarf unternehmerischer Menschen. Menschen sind nur bereit, sich auf Neues einzulassen, wenn das Ziel und damit die Anstrengung lohnt, wenn es bei der Verteilung der Lasten sozial gerecht zugeht. Gegenwärtig reicht unsere Befindlichkeit, unsere mentale Verfassung offenbar nicht aus, um gemeinsam die notwendigen Veränderungen tatkräftig vorzunehmen. Die Angst vor Verlusten ist größer als das Vertrauen in die Zugewinne. Wir konzentrieren uns zu einseitig auf die Fragen der gerechten Verteilung, vernachlässigen darüber die Frage, wie wir das erwirtschaften, was wir verteilen wollen. Die Wohlfahrt vermindert sich in dem Maße, wie wir unsere Anteile auf dem Weltmarkt durch wettbewerbsfähige Produkte verlieren. Wir täuschen uns, wenn wir annehmen, wir könnten unsere soziale Marktwirtschaft traditionellen Typs auf Europa und die ganze Welt übertragen. Wir müssen sie vielmehr umgestalten, um ihre wichtigsten Elemente und Prinzipien zu erhalten. Wir sind ferner allzu sehr geneigt, unsere aktuellen Probleme auf dem Arbeitsmarkt vor allem auf die deutsche Einheit zurückzuführen. Die enormen Investitionen in Ostdeutschland, die großartigen Leistungen der Menschen zur äußeren Veränderung des Landes in so kurzer Zeit sollen dabei in keiner Weise geringgeschätzt oder gar abgewertet werden. Aber es kann doch kein Zweifel darüber bestehen, dass die anfängliche Vorstellung, in Ostdeutschland müsse sich alles ändern, in Westdeutschland hingegen könne alles bleiben, wie es ist, sich als unhaltbar erwiesen hat. Ganz Deutschland steht in einem einschneidenden Transformationsprozess im Berufs- und Arbeitsleben, in Wirtschaft und Sozialstaat, in Bildung und Wissenschaft, im Kommunikations- und Verkehrswesen, letztlich in allen Lebensbereichen. Das hat tiefgreifende Veränderungen auch in den privaten Beziehungen, im Zusammenleben der Menschen zur Folge. Für solche Herausforderungen bedarf es besonderer Befindlichkeiten, mentaler Voraussetzungen: Das bedeutet nicht, sich von der Tradition, von Bestehendem radikal zu trennen. Aber notwendig ist, sich einzulassen auf Varianten und Alternativen. Das ist anstrengend, setzt Verzicht und Durchhaltevermögen, Phantasie für neue Lösungen, neue Erfindungen und Produkte, neue Formen sozialer Absicherung und die Bereitschaft zu lernen voraus. Es braucht Erfindungs- und Gründergeist, Austausch und Zusammenarbeit. Es fällt schwer, sich vorzustellen, nicht einen, sondern mehrere Berufe erlernen, ständig weiterlernen zu müssen, aber auch zu können. Alte Arbeitsformen und Arbeitszeiten sind längst überholt. Computer sind unverzichtbar für Information und Kommunikation. Diese Zukunft ist nicht fertig, sondern von uns Menschen zu gestalten. Zur Zeit liegt Deutschland mit seinen Leistungen in Schule und Hochschule, mit seinen Erfindungen und neuen Produkten, mit seiner Reformarbeit meistens nur noch im Mittelfeld. Das kann nicht genügen, wenn wir auch in Zukunft unseren Lebensstandard halten wollen. Wenn wir weiterhin ein Beispiel geben wollen, dass wirtschaftlicher Erfolg, Arbeit und soziale Sicherheit zusammengehören, dann heißt es sich anzustrengen, um ins Spitzenfeld zurückzukehren. Unsere Menschen sind tüchtig. Sie brauchen die Chance, ihre Talente im eigenen Land zu entfalten. Die großen politischen Veränderungen ermöglichen und erzwingen Bewegung.

II. Abschnitt

Die Aufbruchstimmung von 1989/90 ist sehr rasch erlahmt. Aber wir brauchen Dynamik und Energie. Der Energiestrom muss durch ganz Deutschland fließen: Der deutsche wie der europäische Westen trifft hier auf den Osten, der Osten trifft auf den Westen. Dieser Energiestrom formt unser Bewusstsein, öffnet es, entfaltet neue Qualitäten. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer beginnen wir zu erfassen, welch große Chance uns durch die friedlichen Revolutionen in Ostdeutschland und in Ostmitteleuropa gegeben wurde. Heute geht es um die große ,,Transformations-Station Deutschland". Deutschland muss nach Westen und Osten offen sein, muss die Mentalitäten der lange Zeit getrennten Hemisphären Europas in sich aufnehmen und vereinen. Unsere Aufgabe ist es, ein Tor zu sein, durch das sowohl der Westen wie der Osten geht; Deutschland - ein Transferland der Gegenwart wie der Zukunft. Oft werden wir als Politiker gefragt, ob wir uns mit der Wiedervereinigung übernommen hätten, da wir weniger leistungs- und zukunftsfähig erscheinen. Eine andere Frage lautet: ,,Seid ihr so sehr mit euch selbst beschäftigt, mit eurer Einigungsaufgabe, dass ihr die Aufgaben in der Welt nicht mehr länger wahrnehmen könnt?" So fragen Afrikaner, Lateinamerikaner, aber auch osteuropäische Nachbarn. Die Leistungen für die deutsche Einheit werden hoch bewertet, aber kritische Fragen werden auch gestellt: Seid ihr überfordert, zu stark unter Stress, erschöpft, gedrückter bis depressiver Stimmung, eher bestimmt von Zukunftssorgen und Zukunftsängsten als von Zukunftszuversicht? Wir mögen diese Fragen und Wertungen nicht, möchten sie für Zerrbilder halten und als wirklichkeitsfremd ablehnen. Richtig ist dagegen auch: In Deutschland haben inzwischen viele Veränderungen begonnen, wenn auch verspätet und zu langsam. Die Menschen spüren die gewaltigen Umwälzungen tagtäglich. Ihnen wird immer bewusster, dass es nicht beim Alten, nicht bei den alten Sicherheiten und Gewissheiten bleiben kann. Aber je mehr und je schneller sich das Leben verändert, je unvorhersehbarer die Zukunft ist, umso wichtiger ist vielen - vor allem den Älteren und den Leistungsschwächeren - die soziale Sicherheit. Das erklärt zu einem Teil die geringe Zustimmung zum Umbau des Sozialstaates. Wir wissen zwar um die Notwendigkeit weitreichender Reformen im Gesundheitswesen, in der Alterssicherung, im Bildungs- und Hochschulwesen, aber wir vollziehen sie nur zögerlich. Die Suche nach Neuausrichtungen hält an, dauert aber zu lange. Wir haben mehr Wissen als Mut zu Entscheidungen. Das ist in hohem Maße Ausdruck wie auch Folge von Befindlichkeiten. Die Frage der Befindlichkeiten ist auch ausschlaggebend für das Mittun der Bürgerschaft. Denn Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen brauchen nicht nur die Mehrheit im Bundestag und - soweit zustimmungspflichtig - im Bundesrat, sondern vor allem die Zustimmung der Bevölkerung. Das erfordert überzeugende Sachentscheidungen und überzeugte Bürger und Bürgerinnen. Dabei fällt mir eines immer wieder auf: Die Stimmungen und Befindlichkeiten sind weitaus negativer als die tatsächlichen Leistungen. Die Leistungen in Ostdeutschland sind beeindruckend, die Stimmungen entsprechen ihnen jedoch in keiner Weise. Das veranlasst zu zwei Fragen: Erstens: Wie kam es, dass die Aufbruchsstimmung des Herbstes 1989 nicht anhielt und sich nicht auf ganz Deutschland übertrug? Zweitens: Was kann und muss geschehen, um diese Befindlichkeiten zu verändern?

III. Abschnitt

Die Zeitspanne 1989/90 war bestimmt von einer unvergleichbaren politischen Dynamik, von Aufbruch und Bewegung, die durch Deutschland, Europa und die Welt gingen. Das Volk stand auf, begab sich auf Straßen und Plätze. Das Volk setzte seine Stimme ein: ,,Freiheit", ,,Rechtsstaat", ,,Wir sind das Volk". Es organisierte sich selbst, verwandelte Ohnmacht in Macht, die autoritär Geführten führten sich selbst, organisierten sich selbst, übernahmen spontan Verantwortung. Sie organisierten nicht nur Demonstrationen, sondern auch Runde Tische. Sie praktizierten Demokratie. Wie schnell konnten Befindlichkeiten der Ohnmacht in Stärke verwandelt werden: 40 Jahre SED-Diktatur, mehr als fünf Jahrzehnte fernab jeder demokratischen Staatsform - und doch standen Menschen auf, eigenständig Freiheit und Rechtsstaatlichkeit einzufordern. Was habe ich in dieser bewegten und bewegenden Zeit - mit vielen Westdeutschen - erleben dürfen? Meine erste Antwort ist: Erlebt habe ich sehr komplexe und widersprüchliche Befindlichkeiten. In den Empfindungen des Herbstes 1989 drückten sich Freude, Jubel, Tränen, Sprachlosigkeit, Dankbarkeit, aber auch Unsicherheit aus. Es gab keine Fremdheit, keine Distanz, sondern eine Nähe, wie ich sie später nicht mehr erlebt habe. Sie drückte sich körperlich aus, wir umarmten einander, drückten uns wie miteinander vertraute Freunde. Alles, was uns jahrzehntelang getrennt hatte - Stacheldraht, Minen, Grenzposten, Todesstreifen -, all das existierte nicht mehr. In den ersten Tagen und Wochen haben wir nicht gefragt, welche Probleme auf uns zukommen, wie schwierig alles werden könnte. Nein, davon war nicht die Rede. Ganz im Gegenteil: Nach dem Fall der Mauer schien nichts mehr unmöglich. Wir alle fühlten uns stark genug. Und in den ersten Wochen und Monaten war es selbstverständlich, dass wir zu Krankenhäusern, Alten- und Behindertenheimen, Arztpraxen fuhren: Wir wollten helfen, und zwar sofort. Ich erinnere mich, dass keine Tages- oder Nachtfahrt uns zu viel war, um Gruppen wie ,,Demokratie jetzt", ,,Neues Forum" oder ,,Demokratischer Aufbruch" in Leipzig oder Halle zu treffen. Wittenberg und Eisenach - hinzuweisen zu den Wirkungsstätten Luthers, das war mir wichtig. Wir aus dem Westen sahen das Ausmaß des äußerlichen Verfalls in der DDR, Häuser und Straßen in einem verheerenden Zustand. Aber wichtiger waren uns die Menschen. Wie oft habe ich erlebt, dass die Tränen mächtiger waren als die Stimme, dass nicht gleich gesprochen werden konnte. Frauen und Männer wurden von ihren eigenen Gefühlen überwältigt, konnten nichts sagen. Es hat erhebliche Zeit gedauert, bis aus dem Stammeln, den Wortfetzen Gespräche wurden. Mitten im Freudenrausch brachen das Durchlittene, die Entbehrungen, die Unsicherheit und die Ängste durch. Der Herbst 1989 und der Jahresanfang 1990 waren bestimmt von unbefangener Offenheit und beeindruckender Hilfsbereitschaft. Intensivste Begegnungen erfolgten in meinem Wahlkreis, im Eichsfeld, zwischen dem Unter- und Obereichsfeld. Dort war getrennt worden, was aufs Engste zusammengehörte: Duderstadt und Heiligenstadt, Wernigerode und Leinefelde und viele andere Orte. Nie werde ich den 10. und 11. November entlang der Grenze bei Friedland vergessen. Tausende von Menschen strömten Tag und Nacht über die Grenze, die jahrzehntelang Todesstreifen war. Die menschliche Nähe bleibt unvergessen und unbeschreiblich. Von Januar bis März 1990 habe ich verstärkt erlebt, welche Empfindsamkeiten und Empfindlichkeiten in unserem Umgang miteinander eine Rolle spielten und zu beachten waren. Ostdeutsche wollten nicht ,,angenommen", sondern respektiert werden. Wir im Westen wussten zu wenig von ihrer Vergangenheit, ihren Empfindungen, ihren Beziehungen zu uns. Die Medien hatten uns das nicht vermittelt. Wir fühlten uns unsicher. Wir waren tatsächlich nicht vorbereitet auf die Wiedervereinigung und waren in vieler Hinsicht Unwissende. Während die Chancen zur Wiedervereinigung uns täglich neu in Aktion versetzten, wurde der unmittelbare menschliche Umgang komplizierter. Beide Seiten gingen nach der anfänglichen Offenheit und Nähe zunehmend vorsichtiger miteinander um. Wir wagten uns weit mehr an die äußeren Dinge, an den Abbau der äußeren Schäden als an die Seelen der Menschen. Wir ahnten vielleicht, wie aufgewühlt die meisten Ostdeutschen waren, befreit und unsicher zugleich. Ob sie bereits vor Augen hatten, dass nichts so bleiben würde, wie es war, dass sich alles verändern würde? Kaum vorstellbar. Sie ahnten, aber wussten es nicht. Wir Westdeutschen wussten es auch nicht. Ich weiß, wie unsicher ich mich selbst verhielt. Am liebsten war mir, zunächst zuzuhören, bevor ich selber redete. Ich kannte mich nicht aus in ihren Gefühlen, ihrem Denken, ihrem Wollen. Eines wusste ich allerdings: Wer die Identität des Anderen beschädigt, wer sie gar auslöscht, wer politisch die alten Kleider verbrennt und durch neue Kleider ,,neue" Menschen schaffen will, der kann letztlich die Menschen nicht erreichen. Denn ihr Leben, ihre Vergangenheit muss in ihrer Gegenwart und Zukunft Platz haben. Wenn wir zurückschauen, dann gilt es, auch daran zu erinnern: Die äußeren Veränderungen verliefen in einem Tempo, mit dem die Menschen kaum mitkommen konnten. Es brauchte Zeit, bis mit Gesprächen über den Alltag, über den persönlichen Umgang mit der SED-Diktatur begonnen werden konnte. Einige redeten über das, was sie aktuell bewegte und was sie erlebt hatten. Es war eindringlich und überzeugend. Es war eben authentisch. Es wurde konzentriert zugehört, politische Floskeln und die übliche politische Redeweise wurden vermieden. In diesen ersten Monaten des Jahres 1990 gab es bereits sehr ambivalente Befindlichkeiten: einerseits ein starkes Selbstwertgefühl, eine erstarkte Individualität bei allen, die auf die Straße gegangen waren. Sie wussten, sie hatten sich selbst befreit, die friedliche Revolution herbeigeführt. Andererseits machten sie sich mehr und mehr den wirtschaftlichen Zustand ihres Landes bewusst. Sie hatten Modrows Besuch in Bonn verfolgt, wussten um seine Erwartung, zweistellige Milliardenhilfe von dort zu erhalten, um das Land vor dem totalen Zusammenbruch zu bewahren. Tausende verließen weiterhin das Land, weil sie der Situation nicht trauten. Die offenen Grenzen nutzend suchten sie ihre Zukunft im Westen. Mit dem Fall der Mauer endete keineswegs der Exodus aus der DDR.

IV. Abschnitt

1989/1990: Das war ein Anfang - und zugleich das Ende des Kalten Krieges, des Ost-West-Konflikts, die Überwindung des Kommunismus; es war der Weg der Freiheit und der Demokratie. Das Interesse an Politik war so stark wie lange nicht mehr. Frauen und Männer in den ehemals kommunistischen Staaten hatten vermocht, was aussichtslos erschien. Sie hatten ein totalitäres System friedlich zum Einsturz gebracht. Dies war möglich, weil die Notwendigkeit zur Reform des Systems von einsichtigen Reformkommunisten - allen voran Gorbatschow - selbst erkannt worden war und nicht mit militärischer Gewalt eingegriffen wurde. Warum hielt diese Aufbruchsstimmung nicht an? Wie erklären wir die beeindruckenden äußeren Veränderungen in Ostdeutschland (Häuser, Straßen, Umwelt) angesichts einer Befindlichkeit, die häufig von Enttäuschung, von Zukunftsskepsis und Unzufriedenheit gekennzeichnet ist? In keinem ehemals kommunistischen Land hat sich das äußere Erscheinungsbild in so kurzer Zeit so grundlegend verändert wie in Ostdeutschland. Und doch ist die generelle Befindlichkeit hier eher schlechter als in den osteuropäischen Nachbarstaaten. Gewiss: Differenzierung tut Not. Wer arbeitslos ist, schaut stärker zurück auf alte soziale Sicherheiten als derjenige, der Arbeit hat. Was beunruhigt, ist das geringe Vertrauen in die Politik, in die Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie. Was beunruhigt, ist das fehlende Selbstvertrauen, die erneute Ohnmacht. Die schwindende Aufbruchsstimmung, die wachsende Distanz und Fremdheit haben mehr als eine Ursache. In der ersten Hälfte der achtziger Jahre war die Ablehnung des sozialistischen Systems in der DDR deutlich gewachsen: Nach einer Untersuchung von Hermann Weber lehnten 1978 22 Prozent der Befragten dieses System ab; 1989 waren es 44 Prozent. In dieser Ablehnung drückten sich Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Lage, über Versorgungsmängel, die verschärfte Überwachung der Bürger durch Partei und MfS sowie die Reisebeschränkungen aus. Kritik und Widerstand einer Minderheit wurden deutlich verstärkt. Vergessen wir nicht, 1990 sahen infolgedessen auch die Umfragen ganz anders aus als heute. In der Wendezeit hatten das westliche Demokratiemodell und die Marktwirtschaft hohe Akzeptanzwerte im Osten. Mit den realen Erfahrungen der Ostdeutschen sind diese Werte kontinuierlich gesunken. Die Gründe liegen nicht primär in der Sozialisation der Ostdeutschen in den zurückliegenden 40 Jahren, sondern von entscheidendem Einfluss sind die Erfahrungen nach der Wende. Das unmittelbare Erleben der so unterschiedlichen Verhältnisse im Westen und Osten überwältigte und schockierte viele. Die Erwartungen richteten sich auf schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse durch eine rasch herbeizuführende Einheit. Diese Erwartungen wurden enttäuscht. Die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich zunächst, die Unterschiede in den Lebensverhältnissen blieben. Nach den Volkskammerwahlen überschlugen sich die Ereignisse. Die SED-Diktatur war abgeschafft; aber auch die Zeit der Runden Tische, die politisch hoch aktive Zeit der Bürgerrechtler war beendet. In der Regierung Lothar de Maizière waren die Bürgerrechtler nur marginal vertreten. Die Parlaments- und Regierungsarbeit organisierte sich weitgehend anders in der ,,alten" Bundesrepublik. Aufgabe der Regierung Lothar de Maizière war es, die deutsche Einheit mit höchstem Tempo voranzutreiben. Darauf drängten die Bürger und Bürgerinnen der DDR, darauf drängte auch die Mehrheit in Bonn. Es wurde aus beiden Parlamenten ein deutsch-deutscher Ausschuss gebildet. Unser Auftrag war es, die vorbereiteten Vertragsarbeiten zur deutschen Einheit mit dem Ziel zu begleiten, eine einheitliche rechtsstaatliche Ordnung in ganz Deutschland zu erreichen. Das hieß: Ostdeutschland übernimmt die Verfassung und damit die Strukturen Westdeutschlands. Der Beitritt der ostdeutschen Länder sollte auf der Grundlage des Art. 23 unserer Verfassung erfolgen. Es ist immer wieder behauptet worden, die staatliche Einheit sei überstürzt und gegen den Willen der Bürger der DDR herbeigeführt worden. Diese Behauptungen lassen sich leicht widerlegen. Nach meiner Erfahrung gab es keine Alternative zu diesem schnellen Einigungsprozess. Die Mehrheit der Bürger der früheren DDR hätte jede Verzögerung als Abwehr verstanden. Die Ost-West-Wanderungen wären in noch größerer Zahl erfolgt. Der Einigungsvertrag ist einerseits ein exemplarisches Beispiel dafür, wie schnell die Demokratie sein kann, wenn ein großes gemeinsames Ziel beeindruckende Schaffens- und Gestaltungskräfte freisetzt, die Höchstleistungen bewirken. Diese rasche politische Gestaltung hat andererseits auch ihren Preis: Das Tempo der Veränderungen, der Transformation aller Lebensbereiche überforderte viele Menschen. Es ereignete sich mehr, als sie verarbeiten konnten, und zugleich betraf es ihren Alltag ganz unmittelbar. Die Verunsicherung verstärkte sich, die Kontraste zwischen Ost und West wurden überdeutlich. Die zeitlichen Vorstellungen zum Umbau der Wirtschaft und des Sozialsystems erwiesen sich als falsch. Der Umbau oder auch die Schließung maroder Industriebetriebe auf der Grundlage schneller Privatisierung ging einher mit dem Zusammenbruch der osteuropäischen Märkte. Mit der schnellen Einführung der Marktwirtschaft und der Währungsunion spitzte sich die wirtschaftliche Lage weiter zu. In dem Maße, wie die Arbeitslosigkeit anstieg, wuchs die Angst vor dem Verlust des eigenen Arbeitsplatzes, nahmen die Enttäuschung und Entfremdung zu. Die beginnende Massenarbeitslosigkeit hatte immense mentale Folgen. Selbstverständlich wurden die neuen Freiheiten begrüßt, gleichzeitig aber auch soziale Sicherheiten angemahnt. Viele befürchteten, im geeinten Deutschland Bürger und Bürgerinnen zweiter Klasse zu sein. Die Enttäuschung begünstigte DDR-Nostalgie, zumal angesichts der alltäglichen Belastungen keine Zeit blieb zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. 40 Jahre unterschiedlicher Lebensweise und zehn Jahre ungleicher Erfahrungen nach dem Ende der Mauer hinterlassen Spuren. Trotz erfolgter Veränderungen sind gravierende Unterschiede geblieben, etwa beim Eigentums- und Geldvermögen, bei den Löhnen. Was liegt z. B. näher, als dass sich die Arbeitslosen ausgegrenzt fühlen. Zu den enttäuschten Hoffnungen, zur Verunsicherung, zu dem Gefühl, im vereinten Deutschland kein gleichberechtigter Partner zu sein, kamen Wut und Ratlosigkeit über den Bruch in der eigenen Biographie. Diese unterteilte sich unwiderruflich nach der Wende in ein Vorher - erklärungsbedürftige Vergangenheit mit Rechtfertigung, Verteidigung und Abgrenzung - und ein Nachher. Es ging und geht nicht nur um den beruflichen Positionsverlust, um den Verlust des Arbeitsplatzes. Es geht zentral um die eigene Biographie, um die Auseinandersetzung mit verlorenen Lebensjahren, um die persönliche Lebensperspektive. Ich habe viele Frauen getroffen, die große Hoffnungen in die Wende gesetzt hatten. Sie ordneten sich selbst nicht als Verliererinnen der Einheit ein. Verloren haben sie ihren Arbeitsplatz, ihre berufliche Gleichberechtigung, ihren bisherigen Platz in der Gesellschaft. Sie suchen ihre neue Identität. Sie sind nicht gegen Freiheit, aber gegen Ausgrenzung. Viele Frauen haben inzwischen ihr Selbstbewusstsein zurückgewonnen, nehmen ihr Leben mit viel Eigeninitiative in die Hand. Aber wer immer wieder arbeitslos ist, wird mutlos.

V. Abschnitt

Auch im parlamentarischen Prozess des Zusammenwachsens sind Licht- und Schattenseiten zu benennen. Viele kamen aus Ostdeutschland ins Parlament, die vorher nie mit Politik zu tun hatten. Sie wollten lernen und den ,,Aufbau Ost" voranbringen. Sie sprachen von sich als Laien, fühlten sich zunächst unterlegen. Sehr rasch begriffen sie, dass sie sich organisieren müssen. Sie bildeten eine eigene Gruppierung und legten ein rasantes Lerntempo vor. Sie kämpften sehr darum, als Gleichberechtigte anerkannt zu werden. Förmlich geschah das auch, aber gedacht und gehandelt wurde vielfach anders. Die westdeutschen Kollegen und Kolleginnen erwarteten, dass sie sich anpassten und übernahmen, was wir im Westen für ,,gut" hielten. Die Ostdeutschen mussten schon persönlich stark sein, um sich zur Wehr zu setzen. Zwar wurde immer wieder angemahnt, aufeinander zu hören, voneinander zu lernen, aber die anfängliche Praxis vollzog sich anders. Die ostdeutschen Parlamentarier hatten es oft schwer, ihre Sicht der Dinge zu vermitteln. Einige Gruppen schotteten sich ab, andere suchten verstärkt die Integration. Letztere ist erst in der zweiten gemeinsamen Wahlperiode gelungen. Geholfen hat aber auch die Erfahrung, dass ganz Deutschland grundlegende Reformen braucht. Verändern mussten und müssen sich nicht allein die Ostdeutschen, sondern ebenso die Westdeutschen - auch wenn die Einsicht in diese Notwendigkeit mitunter schwer zu vermitteln ist. In der letzten Wahlperiode blieb das beherrschende Thema die Arbeitslosigkeit in Ost und West; es dominierte zugleich das gemeinsame Thema der notwendigen Reformen im Steuer- und Sozialsystem. Dabei forderten die ostdeutschen Parlamentarier die Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse für die ostdeutschen Regionen nachdrücklich ein. Im Parlament ist die Integration weitgehend gelungen. Parlamentarier fühlen sich nicht mehr als Bürger oder Bürgerinnen zweiter Klasse, weder im Plenum noch in den Ausschüssen. Aber sie wissen sehr wohl, dass es schwieriger geworden ist, besonders Investitionen oder Vorzugsregelungen für Ostdeutschland durchzusetzen. Die westlichen Bundesländer treten wieder verstärkt für ihre Interessen ein, für Standorte West, für Verkehrsprojekte West, für Forschungsmittel oder Arbeitsmarktpolitik. Die Solidarität muss stärker als in den ersten Jahren immer wieder neu eingefordert werden. Über Befindlichkeiten in Ost und West ist unter Parlamentariern und Parlamentarierinnen wenig die Rede. Was zusammenführt, sind die gemeinsamen Vorhaben und Herausforderungen. Unterschiedlich werden in Ost und West die Erfordernisse der Arbeitsmarktpolitik bewertet. Aber sehr oft tritt ein, was viele nicht vermuten: Die Bereitschaft zu Reformen, auch zum Umbau des Sozialstaats mit schwierigen Einschnitten findet bei Parlamentariern aus Ostdeutschland mehr Zustimmung als im Westen. Parlamentarisch wurde gelernt, dass wir den Ostdeutschen manches übergestülpt haben, ohne Spielraum zu lassen für eigene Erfahrungen und Vorstellungen. Das gilt für die ostdeutsche Übernahme unserer Bürokratie wie unseres Bildungs- und Hochschulwesens, um nur wenige Beispiele zu nennen. Die heutigen Befindlichkeiten gehen einher mit dem doppelten Transformationsprozess des politischen und sozioökonomischen Systems, der gewaltige Umstellungen von den Menschen verlangt. Insoweit sind sie zu einem wesentlichen Teil unvermeidbar. Aber gleichzeitig gilt es auch, Fehler einzugestehen und Aussagen zu korrigieren. Unterschätzt wurden die Schwierigkeiten, die Zeitfrage, die Kosten. Der hoffnungsvolle Vergleich mit dem Wirtschaftswunderaufstieg nach 1945 trug nicht, da die Situation und die Strukturen völlig anders waren. Der Aufbau damals und die Transformation heute erfolgten unter nicht vergleichbaren Ausgangslagen. Unterschätzt wurde das Ausmaß der Arbeitslosigkeit, der wegfallenden Industriebetriebe, der Ausfall der osteuropäischen Märkte. Wir haben die Kosten und die lang andauernden Anstrengungen, auch Opfer, anfangs nicht wahrhaben wollen. Befindlichkeiten sind einerseits das Ergebnis von Erfahrungen, von Ängsten und Wünschen. Sie sind andererseits nicht statisch. Wir können auf sie Einfluss nehmen. Wir können dem Transformationsprozess nicht entkommen. Es liegt an uns, ihn zu gestalten. Dabei können wir mehr von guten Beispielen anderer Länder lernen. Wir sind nicht ohnmächtig und nicht chancenlos, wenn wir wie beim Mauerfall Ohnmacht in Tatkraft und Selbstvertrauen verwandeln, wenn sich unternehmerischer Geist, Eigeninitiative, Selbstständigkeit und Risiko mit Solidarität verbinden. Unser Ziel lautet: Zukunft für unser Land ohne Ausgrenzung und Abgrenzung. Ein herausforderndes Ziel - eine lohnende Herausforderung!

Dr. phil., geb. 1937; Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Dortmund. Seit 1987 Mitglied des Deutschen Bundestags.

Veröffentlichungen u.a.: Was uns verbindet und trennt. Erfahrungen auf dem Weg zur Einheit, München 1996. (Hrsg. ) Das deutsche Parlament, Stuttgart 1997.