Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Das Ringen um eine neue Weltordnung | US-Außenpolitik | bpb.de

US-Außenpolitik Editorial Das Ringen um eine neue Weltordnung Die USA und die transatlantischen Beziehungen nach dem 11. September 2001 Vom Kalten zum "Grauen Krieg" - Paradigmenwechsel in der amerikanischen Außenpolitik Zwischen Multilateralismus und Unilateralismus Eine Konstante amerikanischer Außenpolitik Irak und Iran in der Phase II des amerikanischen Krieges gegen den Terror China und die USA: Washingtons Fernostpolitik nach dem 11. September 2001

Das Ringen um eine neue Weltordnung Zum Verhältnis zwischen Europa und Amerika

Jochen Thies

/ 12 Minuten zu lesen

Die Entfremdung zwischen Amerika und Europa hat mit dem Ende des Kalten Krieges eingesetzt. Durch den 11. September 2001 und seine Folgen hat sie sich weiter verschärft.

I. Abschnitt

Die wachsende Entfremdung zwischen Europa und Amerika ist ursächlich nicht allein auf den 11. September 2001 und seine Folgen zurückzuführen. Die Kontinentaldrift hat schon früher eingesetzt - mit dem Ende des Kalten Krieges. Die Bekämpfung des Terrorismus, eine unterschiedliche Sicht der Lage und der daraus resultierende Kampf um eine Neue Weltordnung zwischen Europäern und Amerikanern sind seit den Anschlägen in New York und Washington hinzugekommen. Für das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu Amerika sind - anders als für andere westeuropäische Staaten, in denen die Erinnerung an die Befreiung vom Nazijoch durch Amerika lebendig ist und weiter wachgehalten werden wird - weitere Belastungsfaktoren zu nennen.

Da ist zunächst hinsichtlich des deutsch-amerikanischen Verhältnisses ein doppelter Generationsbruch zu konstatieren, der bereits den Scheitelpunkt passiert hat: Auf beiden Seiten des Atlantiks sterben die Mittler-Generationen allmählich aus. Sie wurden in den Vereinigten Staaten angeführt von Emigranten, die im Falle von Henry Kissinger außergewöhnliche politische Karrieren zurücklegten und dadurch bis heute wie "Leuchttürme" wirken konnten. Ihre "counter-parts" in einer Phase einer fünfzigjährigen sehr engen Beziehung waren Deutsche, die in jungen Jahren eine Ausbildung in Amerika erhalten hatten. Die USA waren da sehr weitsichtig: Re-education beinhaltete auch, kommenden Mitgliedern der deutschen demokratischen Führungselite Perspektiven zu eröffnen und sie dadurch lebenslang an die USA zu binden. Diese spezielle Amerika-Sozialisation kommt nun an ihr Ende. Viele junge deutsche Akademiker, die jetzt in den USA studieren, kehren in die Enge und das festgefahrene System der Bundesrepublik nicht zurück. Sie fallen dadurch - anders als ihre Väter - als Multiplikatoren für westliche, anglo-amerikanische Sichtweisen und Einstellungen aus. Wichtige Mittler-Organisationen wie die Atlantik-Brücke oder die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik haben an Einfluss eingebüßt, auch weil sie sich nicht für neue Generationen öffneten. Bei hochkarätigen deutsch-amerikanischen Konferenzen dominieren die 65 - bis 75-Jährigen. Das war in den sechziger und siebziger Jahren ganz anders.

Hinzu kommt der gewaltige Schrumpfungsprozess der Massenbasis durch den Abzug der GI's aus Europa. Über zwölf Millionen Amerikaner, Soldaten und Familienangehörige, haben zwischen 1949 und dem Fall der Berliner Mauer in Deutschland gelebt. Übrig geblieben ist lediglich ein kleines Expeditionskorps mit einigen Schwerpunkten im Rhein-Main-Gebiet, das jederzeit abberufen werden kann. Zu dieser Lage passt die peinliche Diskussion um die Errichtung der US-Botschaft am Pariser Platz in Berlin, die mit etwa zehnjähriger Verspätung jetzt gebaut wird. Dabei hatten die Amerikaner als treibende Kraft bei der deutschen Wiedervereinigung schon 1993 als erste an historischem Ort den Grundstein für den Neubau gelegt. Aber dann gab es zwei Regierungswechsel in Washington, Abstimmungsprobleme mit dem Berliner Senat und Anschläge auf US-Einrichtungen in Ostafrika. Washington schraubte seine Sicherheitsanforderungen an das Gebäude so hoch, dass es keine Kompromissmöglichkeit gab. Die USA sahen den Pariser Platz offenbar wie irgendeinen Ort in der (Dritten) Welt, bei dem Sicherheitsaspekte alle anderen Überlegungen dominieren. Es mangelte ebenfalls an Sensibilität, als Washington auf die Errichtung eines Pavillons bei der Weltausstellung in Hannover verzichtete. Schließlich plante der Regierende Bürgermeister von Berlin Auslandsreisen, wenn der amerikanische Präsident in der Stadt weilt.

Für weitere Instabilitäten in der Beziehung zwischen Deutschland und Amerika - und keine regierungsamtliche Pressepolitik kann dies verhindern - sorgt der latent vorhandene (alte) kulturelle Antiamerikanismus, für den sich die Straße leicht mobilisieren lässt. Es gibt ihn nicht nur bei den 68ern und ihren Kindern, sondern auch in konservativen Kreisen und erst recht bei den Ostdeutschen. Die starke Position der PDS in Ostdeutschland, ihr opportunistischer Kurs in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik - Schicksalsfragen einer Nation - zeigt an, dass das Ringen um die Westbindung Deutschlands noch längst nicht vorüber ist. Nicht von ungefähr ist es binnen weniger Jahre zu einer totalen Abkühlung im deutsch-französischen Verhältnis gekommen. Die Wiedervereinigung mit einer Verschiebung des Schwerpunkts des Landes nach Osten und Norden, die Zunahme protestantischer Einstellungen, nicht notwendigerweise Konfessionalität, die Verlagerung des Regierungssitzes und das Wählerverhalten zeigen an, dass um alle Fragen, um die in der Frühphase der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1955 gerungen werden musste, nochmals gekämpft werden muss. In der Außenpolitik gibt es keine Selbstverständlichkeiten. Wenn um die Köpfe und Emotionen der Massen nicht gerungen wird, stehen die Funktionseliten eines Tages allein da.

Die Bundesrepublik ist aufgrund ihrer Vorgeschichte hier auch deswegen ein Sonderfall, weil die Spielräume von Regierungen und Führungseliten in außen- und sicherheitspolitischen Fragen in Westeuropa in der Regel größer sind. Zudem gibt es dort große personelle Kontinuitäten in den Führungsgruppen. Das blinde Vertrauen der Deutschen in die Rolle und Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und die Überschätzung juristischer Aspekte in der Politik haben dazu geführt, dass Deutschland gegenwärtig bei Ausbruch einer großen Krise faktisch handlungsunfähig ist. Die Kanzlermehrheit, vor wenigen Jahren als Formalie gesehen, hat sich im Falle einer rot-grünen Regierungskoalition als Schwachstelle für das außenpolitische Handeln der Bundesrepublik erwiesen. Darüber hinaus muss jede Berliner Regierung damit rechnen, dass in einer großen internationalen Krise Großbritannien, aber auch Frankreich, aus Absprachen der Europäischen Union ausbrechen und eine Politik des nationalen Alleingangs - als Nuklearmächte, ständige Mitglieder im UN-Sicherheitsrat und als alte Kampfgefährten der USA - bestreiten. Die "Normandie-Koalition" von 1944 existiert weiterhin in den Köpfen und in den Emotionen. Und Deutschland und Westeuropa müssen sich auf weitere Überraschungen einstellen, wenn erst einmal die Mittel- und Osteuropäer in der NATO und EU angekommen sind. Als Westeuropa sich im letzten Sommer in Mazedonien engagierte, landeten tschechische Fallschirmjäger als erste NATO-Soldaten in Skopje. Wenn bei einer Krise im Mittleren Osten NATO-Staaten aus innenpolitischen Gründen den USA Überflug- oder Landerechte verweigern sollten, stehen nun Staaten wie Rumänien oder Bulgarien für Washington bereit. In der Kerngruppe Westeuropas sind schließlich auch Italien und Spanien Alleingänge zuzutrauen. Der 11. September - in jeder Hinsicht ein Katalysator und Beschleuniger von historischen Prozessen - hat offen gelegt, dass alte Allianzen leicht hinweggefegt werden können durch neue Notwendigkeiten. Angesichts der Stärke und Entschlossenheit der USA erscheint durchaus denkbar, dass die Welt nun in ein Zeitalter lockerer und sich rasch wandelnder Bündnisse zwischen der Supermacht und einzelnen Staaten eintritt.

Aber auch dieser Zustand könnte sich binnen weniger Jahrzehnte ändern, wenn es der Volksrepublik China gelingen sollte, zum ebenbürtigen Konkurrenten der USA aufzusteigen oder Amerika in der Weltführungsrolle sogar abzulösen. Denn der bisherige Verlauf der Weltgeschichte hat gezeigt, dass sich eine Weltvormacht auf Dauer nie hat halten können und dass jeder Versuch, die Weltherrschaft zu erringen - zuletzt haben es Hitler und Stalin versucht -, zum Scheitern verurteilt ist. Auf Franzosen, Spanier und Holländer sind die Briten mit ihrem Empire gefolgt. Die herausragende Stellung Amerikas hält nun ein knappes Jahrhundert an. Noch erscheint es kaum vorstellbar, dass in einer denkbaren Zeit eine andere Macht an die Stelle der USA treten wird. Aber dieser Zeitpunkt wird kommen. Daher müssen sich die Europäer zumindest gedanklich auf diese mögliche Konstellation vorbereiten und über Alternativen zum augenblicklichen Zustand der Weltpolitik nachdenken.

II. Abschnitt

Die wachsende Entfremdung zwischen Europa und Amerika - und dies hat der 11. September zweifellos nun verschärft - hat auch damit zu tun, dass der Supermacht die Fähigkeit abgeht, Tragisches anzuerkennen oder Tragischem einen Raum zu geben. Europa hat hier ganz andere Erfahrungen gemacht; kaum einer Nation ist die Erfahrung erspart geblieben, von anderen Ländern erobert oder besetzt und somit vom Willen eines anderen abhängig zu werden. Amerika huldigt dagegen einem naiven historischen Optimismus und hält selbst eine Lösung der Terrorismus-Problematik im Nahen und Mittleren Osten für möglich. Einen maßgeblichen Anteil daran hat das Vertrauen der Amerikaner in die Fähigkeit und Entwicklung von Waffen. So wie Washington darauf setzt, eine Raketenabwehr im Weltraum zu errichten, welche die Supermacht vor überraschenden Schlägen schützt, so vertraut es auch in der konventionellen Kriegführung auf die Technik. Beim Golf-Krieg vor zehn Jahren wurden noch eine halbe Million Soldaten viele tausend Kilometer von der Heimat entfernt eingesetzt, um den irakischen Diktator Saddam Hussein in die Schranken zu weisen. Bei einem erneuten Irak-Feldzug, über den in Washington weiterhin ernsthaft nachgedacht wird, würden nur noch 15 - 20 Prozent des Potenzials von 1991 benötigt werden. Sehr deutlich ist die neue amerikanische Kriegführung bereits in Afghanistan in Erscheinung getreten. Anstelle von Divisionen und Brigaden operieren in dem schwierigen Gelände Kompanien und Gruppen, die sehr eng vernetzt mit der gewaltigen Feuerkraft sind, welche die Amerikaner auf Flugzeugträgern oder Stützpunkten in der Nähe der Soldaten bereit halten. Das erinnert an die Kriegführung im Zweiten Weltkrieg, in dem Amerika im Westen nach den ersten äußerst verlustreichen Tagen an den Landungsstränden der Normandie Verluste an Menschen, soweit dies ging, vermied und die Luftwaffe und die Feuerkraft der Artillerie einsetzte. Das hat sich im Korea- und vor allem im Vietnam-Krieg fortgesetzt und ist nun neuer Perfektion zugeführt worden.

Europa nimmt die amerikanischen Rüstungsanstrengungen und den Zuwachs an Etatmitteln für die Verteidigung mit ungläubigem Erstaunen zur Kenntnis. Die Ausgaben für Verteidigung vor allem in Deutschland haben sich auf einem Niveau eingependelt, das illusionäre Erwartungen in der Bevölkerung über Verteidigungskosten geweckt hat. Die Schere zwischen Ist und Soll, um Anschluss an Amerika zu gewinnen, ist im Moment so groß, dass nur eine lang anhaltende Krise, ein größerer Konflikt oder eine große Koalition in Berlin eine Bundesregierung in die Lage versetzen können, umzusteuern. Der Fehlbedarf für die Bundeswehr ist mit etwa 50 Prozent der Jahresausgaben für Verteidigung anzusetzen, die derzeit bei 24 Milliarden Euro liegen.

Der einzige Ausweg neben moderaten Steigerungen der Ausgaben für Verteidigung ist vermutlich daher nur der, die Verteidigung Westeuropas so rasch wie möglich zu standardisieren, sowohl bei den Soldaten wie auch bei der Ausrüstung. Der neue Airbus ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber die Vorgehensweise der Bundesregierung bei der Finanzierung zeigt an, wie gering Rot-Grün die Akzeptanz von erhöhten Verteidigungsausgaben bei der Bevölkerung einschätzt, oder anders gesagt: mit wie wenig Druck der öffentlichen Meinung, weniger der veröffentlichten, in Verteidigungsfragen gerechnet wird. Die außen- und sicherheitspolitische Normalität, die im Laufe der UN-Einsätze und anderer militärischer Operationen, an denen Deutschland beteiligt war, in den letzten zehn Jahren eingetreten ist, ist weder in den Köpfen noch im Diskurs des Landes angekommen. Es triumphiert ein Primat der Innenpolitik.

Zur wachsenden Entfremdung zwischen Europa und Amerika leistet die Globalisierung einen wesentlichen Beitrag. Der ohnehin geringe Stellenwert nichtmaterieller Fragen, die Wertschätzung des Geistigen, des Beitrags der Geistes- und Kulturwissenschaften für die Gesellschaft, treten weiter zurück. Die Wirtschafts- und Rechtswissenschaften sowie eine technische Sicht der Dinge dominieren. Die amerikanische Aufrüstung wird diesen Prozess weiter beschleunigen und den Abstand zu Europa verschärfen, wo die Rüstungsindustrie als Innovationsfaktor bei weitem nicht den Stellenwert besitzt wie in Amerika.

Aber noch funktionieren einige europäische Instinkte. Die Menschen halten weiterhin an ihren Sprachen fest, in denen kollektive Erfahrungen von Nationen sichtbar und unsichtbar transportiert werden. Aber die USA erzielen zunehmend Einbrüche. Das europäische Topmanagement kommuniziert auf Englisch, der Wirtschafts- und Wissenschaftssprache. Die Massen werden von Amerika mit Hollywood-Filmen und Fernsehen, vielmehr: Fernsehserien, überzogen. Wenn Europa diesen Entwicklungen nicht Einhalt gebietet, wenn es sich medial nicht endlich selbst definiert, werden die Nationalstaaten und Gesellschaften zerstört werden. Sie sind schon jetzt durch die demographischen Prozesse und den Zuwanderungsdruck aus der Dritten Welt bedroht, auf die sie keine Antwort finden.

Die USA sind hier in einer ganz anderen Lage. Noch immer basiert die amerikanische Gesellschaft auf dem gewollten Konzept von Zuwanderung, hat sich längst zwischen Atlantik und Pazifik eine Art von Weltgesellschaft herausgebildet, die Europa nicht werden will oder werden kann. Zu ihr gehört in besonderem Maße das Optische. Anders gesagt: Fernsehen spielt in Amerika eine andere Rolle als in Europa. Während es dort zur raschen Eingewöhnung in die Gesellschaft und Annahme eines gesellschaftlichen Minimalkatalogs dient, ein großes Land zusammenhält und Identitäten schafft, beschleunigt das Fernsehen in Europa die gegenteilige Entwicklung: eine Entsolidarisierung, ein Auseinanderfallen der Gesellschaft, die Singularisierung der Menschen vor allem in den Großstädten.

Natürlich kann sich Europa nicht gegen Amerika stellen, und es sollte auch jederzeit vermeiden, in eine solche Lage zu geraten. Mehr denn je hängt es in bewegten Zeiten, die rasch auf die Illusion vom ewigen Frieden in den neunziger Jahren folgten, von der Sicherheitsgarantie der USA ab. Und selbst wenn Amerika gegenwärtig eine sehr selbstgerechte Supermacht sein sollte, die nur auf wenige Einwände hört, so hat es mit Sicherheit noch keine andere Macht in der Geschichte der Menschheit gegeben, welche die Interessenlage des anderen toleriert und ihn nach seiner Fa!!!!!!,con leben lässt. Gewiss gibt es im unmittelbaren "Vorhof" der USA besondere Regeln, die Kuba und andere Staaten Mittel- und Südamerikas zu spüren bekommen und die in Europa mit Verwunderung zur Kenntnis genommen werden. Für den Rest der Welt gilt jedoch, dass Amerika jederzeit akzeptieren würde, wenn ein auf demokratische Art und Weise zustande gekommenes Votum den sofortigen Abzug von US-Truppen verlangen würde. Andere große Mächte haben dafür ein halbes Jahrhundert gebraucht, wiederum andere hofften, für immer zu bleiben. Der Umgang mit der Weltmacht Amerika ist somit etwas grundsätzlich anderes, als die Erfahrungen, die Europa während der letzten acht Jahrhunderte auf seinem Kontinent unter jenen Vormächten gesammelt hat, die auf die Stauferkaiser folgten.

Trotz zahlreicher aktueller Krisen in der Medienbranche und unabsehbarer Konzentrationsprozesse spricht viel dafür, dass der Medien- und Kommunikationssektor neben dem Tourismus weiterhin zu den großen Wachstumsindustrien weltweit gehören wird. Wenn dies der Fall sein sollte, ist die französische Medienpolitik richtig, die auf Eigenständigkeit und europäische Identität abzielt. Statt sich unablässig mit Agrarfragen zu befassen, sollten die europäischen Politiker hier ihre Phantasie schweifen lassen und eine stärkere europäische Identität schaffen.

In allen anderen Wirtschaftsbereichen, zumal im Zuge der Globalisierung, wird das amerikanische Vorbild imitiert. Südamerika, Asien und Australien folgen amerikanischem Muster und sind bereit, ihre Gesellschaften entsprechend zu organisieren. Die Europäer sollten dagegen alles tun, das Bewahrenswerte des europäischen Sozialstaats- und Gesellschaftsmodells zu erhalten. Spätestens an dieser Stelle kommt Russland ins Spiel, das eines Tages das Zünglein an der Waage spielen kann, anders formuliert: von dem es abhängen kann, ob Europa seine Identität zu bewahren vermag oder nicht.

Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus hat binnen kürzester Zeit Russland zu einem begehrten Partner gemacht, der sowohl von Amerika als auch von Westeuropa umworben wird. Selbst eine NATO-Mitgliedschaft Moskaus scheint mittelfristig denkbar. Wenn die Dinge für die USA im Nahen und Mittleren Osten schlecht laufen, kann Russland mit seiner Ölförderung Saudi-Arabien als strategischen Partner Amerikas ablösen. Die Zusammenarbeit mit Amerika ist für Russland interessant, weil sie Präsident Putin erlaubt, mit allen Mitteln das auseinanderfallende Rest-Imperium zusammenzuhalten und zum geeigneten Zeitpunkt zu einer Sammlungspolitik verloren gegangener Territorien zurückzukehren. Die Zusammenarbeit mit Europa ist für den in Kategorien des 19. Jahrhunderts denkenden Präsidenten interessant, weil die EU die russischen Öl- und Gasvorkommen und die großen Märkte benötigt, um mit Produkten, die nicht mehr ganz weltmarktfähig sind, überleben zu können. In umgekehrter Sicht wird es nun aber für Westeuropa sehr wichtig, die Russen für ein europäisches Kapitalismus-Modell zu gewinnen und nicht für das amerikanische.

Es kann durchaus sein, dass Europa in Zeiten des Hightechs zu den "natürlichen" Verlierern auf der Welt gehört, nach dem Zeitalter der Industrialisierung, in dem Disziplin, Konzentration, Leidensfähigkeit und Organisationstalent die Europäer nach vorn katapultierten und sie in den Stand versetzten, überragende Mächte und Kulturnationen wie China für 150 Jahre zu domestizieren. Es kann sein, dass große Teile der amerikanischen Nation und einige asiatische Länder generell zu den Profiteuren des Fortschritts gehören, zumal sie es unter den heutigen Bedingungen der Industriegesellschaft verstehen, ihre Menschen besser vor "Kollateralschäden" zu schützen. Religiöse Bindungen, der familiäre Zusammenhalt und die Lerntradition scheinen dort nicht so gefährdet wie in Europa.

Noch ist offen, wie der Wettbewerb zwischen Amerika und Europa um die Ordnung der Welt, auch um die Inhalte, den Ablauf und das Mischungsverhältnis zwischen Arbeitswelt und Freizeit enden wird. Aber sicher scheint, dass China schon in wenigen Jahrzehnten Amerika herausfordern wird. Die wissenschaftliche Intelligenz Amerikas besteht schon heute zu großen Teilen aus Kindern asiatischer Einwanderer, die binnen einer Generation in die Mittelschicht und die obere Mittelschicht vorstoßen. Sollte es China gelingen, seinen Aufstieg zu einer Supermacht ohne größere kriegerische Verwicklungen fortzusetzen, werden sich Teile Amerikas noch stärker als bisher dem Pazifischen Raum zuwenden. Das Engagement Amerikas in Europa, beginnend im Ersten Weltkrieg, abgebrochen in der Weltwirtschaftskrise von 1929 und 1944 erneuert, stellt vermutlich nur einen zeitlich begrenzten Abschnitt in der Geschichte dar, der nun seinem Ende entgegengeht. Somit scheint der Zeitpunkt auch nicht mehr fern, an dem sich die USA vom Balkan verabschieden werden. Hier, wo die Selbstzerstörung Europas vor knapp 90 Jahren begann, liegen die wirklichen Herausforderungen für die Europäische Union, nicht in Afghanistan. Wenn es Westeuropa gelingt, diese Region in ihrem Vorhof zu stabilisieren, ist auch der zweite, sehr viel größere Schritt denkbar: Russland im europäischen Sinn zu verwestlichen. Nur auf diesem Weg kann das erforderliche Gegengewicht zu Amerika hergestellt werden.

Dr. phil., geb. 1944; studierte Politische Wissenschaft, Geschichte und Romanistik in Kiel, Freiburg und Köln; zurzeit Sonderkorrespondent beim DeutschlandRadio Berlin.

Anschrift: DeutschlandRadio Berlin, Hans-Rosenthal-Platz, 10825 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: jochen.thies@dradio.de

Veröffentlichungen u.a.: Helmut Schmidts Rückzug von der Macht. Das Ende der Ära Schmidt aus nächster Nähe, Stuttgart 1988; zahlreiche Beiträge zu zeitgeschichtlichen Themen und zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik.