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Editorial | Gesundheitspolitik | bpb.de

Gesundheitspolitik Editorial Gesundheit - kein Produkt wie jedes andere Rot-grüne Gesundheitspolitik 1998 - 2003 Chancen einer Gesundheitsreform in der Verhandlungsdemokratie Chronische Gesundheitsprobleme Was kann Deutschland lernen?

Editorial

Hans-Georg Golz

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Hauptverantwortlich für das Finanzdesaster des Gesundheitssystems sind neben der schlechten Wirtschaftslage die demographische Entwicklung und der medizinische Fortschritt. Um zu einem Reformkonsens zu gelangen, ist der Abbau von Blockaden notwendig.

Notoperation Gesundheitsreform: Am 21. Juli 2003 gaben Bundesministerin Ulla Schmidt (SPD) und Unions-Fachmann Horst Seehofer (CSU) die Ergebnisse wochenlanger Verhandlungen bekannt. Die informelle Allparteienkoalition verfolgte als oberstes Ziel die Senkung der Beiträge für die gesetzlichen Krankenkassen und damit der hohen Lohnnebenkosten. Der Beitragssatz soll bis 2006 von jetzt 14,4 auf 13 Prozent gesenkt werden.

Die 19-seitigen Kompromissvorschläge bedürfen in großen Teilen der Zustimmung des Bundesrates - daher war die Mitwirkung der Opposition bereits im Vorfeld nötig. Vorgesehen sind u.a. Gebühren für den Arztbesuch und die Ausgliederung des Zahnersatzes aus den Kassenleistungen. Flankiert werden die Kostendämpfungsversuche ab 2004 durch weitere Erhöhungen der Tabaksteuer. Ärzte, Apotheker und die Pharmaindustrie bleiben weitgehend verschont.

Der Katalog solle, so Schmidt, eine verbindliche Arbeitsgrundlage für alle Fraktionen darstellen. Dass er allerdings "ungerupft" Bundestag und Bundesrat passieren wird, ist nicht zu erwarten. Die von allen Experten geforderte "Systemdebatte" - etwa über das Gutachten der Rürup-Kommission (SPD), die Vorschläge der Herzog-Kommission (Union) oder eine Bürgerversicherung, wie sie nicht mehr nur die Bündnisgrünen fordern - steht weiterhin aus.

Verantwortlich für das Finanzdesaster des Gesundheitssystems sind neben der schlechten Wirtschaftslage vor allem die demographische Entwicklung und die erheblich verlängerte Lebenserwartung. An tief greifenden Reformen führt kein Weg vorbei. Trotz wachsenden Problemdrucks dürfe jedoch, so Jutta Hoffritz in ihrem Essay, nicht aus dem Blick geraten, dass Gesundheit kein Produkt wie jedes andere sei.

Eine Zwischenbilanz der rot-grünen Gesundheitspolitik zieht Thomas Gerlinger. Zunächst habe die Regierung Schröder vor allem die Ausgabenbegrenzung in der gesetzlichen Krankenversicherung unter Beibehaltung eines einheitlichen Leistungskatalogs angestrebt. Nach der Bundestagswahl 2002 kam es zu einem Kurswechsel: Aufgrund der notwendigen Zusammenarbeit mit der Opposition müsse künftig von stärkeren Belastungen für Versicherte und Patienten ausgegangen werden.

In einer politikwissenschaftlichen Analyse gelangt Nils C. Bandelow zu einem ermutigenden Befund: Auch wenn in unserer "Verhandlungsdemokratie" unzählige Interessen und Verbände an der Entscheidungsfindung mitwirkten, sei es doch möglich, zu einem Reformkonsens zu gelangen. Allerdings seien Gesundheitsreformen bisher nahezu ausschließlich auf dem Rücken der Versicherten ausgetragen worden. Der Autor hält die Auflösung von Blockaden für eine nachhaltige Systemveränderung für unabdingbar.

In einer zeithistorischen Skizze erläutert Ulrike Lindner die Genese eines Systems, das auf die Bismarck'schen Sozialreformen zurückgeht. Die überkommenen Strukturen des Gesundheitswesens hätten sich aufgrund der Beharrungskräfte seiner Akteure als außergewöhnlich reformresistent gegenüber politischen Steuerungsversuchen erwiesen.

Abschließend ziehen Annette Riesberg, Susanne Weinbrenner und Reinhard Busse einen europäischen Vergleich der Gesundheitssysteme. Ein konstruktives Aufnehmen der im Entwurf einer EU-Verfassung verankerten "Methode der offenen Koordinierung" im Gesundheitssystem böte einen Ansatz zur gemeinsamen Gestaltung eines künftigen Sozial- und Wirtschaftsmodells.