Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Friedrich Schiller in Deutschland und Europa | Schiller | bpb.de

Schiller Editorial Friedrich Schiller Die Aktualität eines Idealisten Ein Weltbürger, der keinem Fürsten dient Friedrich Schiller in Deutschland und Europa Mein Schiller-Jahr 1955

Friedrich Schiller in Deutschland und Europa

Otto Dann

/ 22 Minuten zu lesen

Nach dem Ende der deutschen Reichsnation wurde der Schiller-Mythus entkräftet. Es stellt sich die Frage, was Schiller jenseits der Nationalkulturen bedeuten kann.

Einleitung

Von dem Namen Schillers geht ein seltsamer Reiz aus. Nennt man ihn, meinen alle ihn zu kennen, auch wenn die meisten zugeben müssen, kaum etwas von ihm gelesen zu haben. Sind es die Straßen, Plätze und Schulen, die heute noch seinen Namen tragen, die Zeugen seiner früheren Popularität? Auch der "Schillerkragen" gehört dazu, das Wahrzeichen des Dichters der Freiheit, der sich auch von der Modepflicht befreite und das Hemd offen trug. Friedrich Schiller war im 19. Jahrhundert zu dem Dichter geworden, der in Deutschland allbekannt war und in ganz Europa bei den Gebildeten. Seine Verse und Stücke wurden in allen Volksschichten memoriert und zitiert, über Schillers Leben wurden einprägsame Geschichten vermittelt; sein Porträt, besonders die Büste von Heinrich Dannecker, war allgemein präsent.

Diese Tradition ist abgebrochen. Auch das "Schiller-Jahr" unserer Medien wird das nicht ändern können. Nur über eine Respektierung jenes Traditionsbruches ist es heute möglich, zu Schiller vorzustoßen. Dann aber wird der Blick frei auf den Schiller-Mythus des nationalen Zeitalters, der in unzähligen Zeugnissen heute noch greifbar ist. Ihn zu skizzieren ist das Anliegen dieses Beitrags. Es geht um den Schiller-Mythus in seiner öffentlichen Dimension; die vielfältige Rezeption des literarischen Werkes von Schiller, die eine eigene Tradition darstellt, kann nicht einbezogen werden. Die Darstellung ist analog zu den Epochendaten des nationalen Zeitalters gegliedert: 1770 - 1860 - 1945.

Literatur über den Schiller-Mythus ist heute reichlich vorhanden, bleibt jedoch begrenzt auf die nationalen Milieus. Sie hat genial eingesetzt mit Wilhelm Raabes "Dräumling". Ein Buch von Albert Ludwig hat die Erforschung der Schiller-Rezeption eröffnet, die jedoch erst nach 1945 an Intensität, kritischer Zuspitzung und Ausdehnung gewonnen hat. Einen Überblick über die bisherige Literatur vermitteln die Beiträge über "Schiller und seine Wirkung" im "Schiller-Handbuch". Hervorgehoben seien außerdem drei zeitübergreifende Textsammlungen: eine sorgfältig kommentierte sowie zwei speziellere.

Zeitgenosse des Aufbruchs der Nationen

Das Jahrhundert, in dem Schiller lebte und nachlebte (1759 - 1859), war in der Geschichte der europäischen Völker die Epoche, in der die bürgerlichen Gesellschaften sich als Nationen konstituierten und die führende Kraft der Modernisierung ihres Landes wurden: das Zeitalter der demokratischen Revolution. Vor diesem Hintergrund ist das Ansehen zu verstehen, das Schiller sich erwarb und das ihm folgte.

Schillers Lebensruhm

Eine Schiller-Legende entstand schon zu seinen Lebzeiten. Bereits das erste Jahr von Schillers öffentlicher Präsenz erregte Aufsehen: im Januar 1782 der überraschende Erfolg des Dramas "Die Räuber" in Mannheim und im Herbst Schillers Flucht aus dem Staat des Herzogs von Württemberg. Dieses ostentative Sichfreimachen eines jungen Dichters vom Absolutismus eines Fürsten wurde zu einer Sensation und Schillers weiteres Schicksal mit Anteilnahme verfolgt.

Es gelang Schiller, sein Ansehen zu festigen, indem er als Dramatiker und Geschichtsschreiber zentrale Anliegen seines Zeitalters thematisierte: die Kritik am Absolutismus ("Fiesko", "Don Karlos"), das Problem der Ständegesellschaft ("Kabale und Liebe"), die Durchsetzung der bürgerlichen Nation ("Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande", "Wilhelm Tell"), die Position der Frauen in der Gesellschaft (Frauenrollen in seinen Dramen, zahlreiche Gedichte).

Sein Ruf blieb begründet in seiner antiabsolutistischen Position, doch Schiller wurde nicht zum Jakobiner. Wie die Mehrheit seiner Zeitgenossen suchte er nach einem Kompromiss mit den Fürstenregierungen. Im Jahre 1803 ließ er jedoch im Weimarer Hofkalender neben das neu verliehene Adels-Prädikat "Bürger von Frankreich" drucken: Er bekannte sich zu einer doppelten Staatsbürgerschaft. Dem entsprach es, dass er in seinen Werken Ereignisse aus der Entstehungsgeschichte vieler europäischer Nationen thematisierte; die Nationenbildung war für ihn daszentrale Ereignis der europäischen Geschichte.

Schillers Ruf ging vor diesem Hintergrund bald über die Landesgrenzen hinaus. In Frankreich interessierte sich Sebastien de Mercier, der politisch engagierte Theaterdichter der Spätaufklärung, für seine Dramen und sorgte dafür, dass einige ins Französische übersetzt wurden. "Die Räuber" waren in den ersten Jahren der Revolution in Paris erfolgreich, und so bekam Schiller neben Klopstock und Campe von der Nationalversammlung der Ersten Republik die Ehrenbürgerschaft verliehen. Auch in Dänemark waren seine Dramen und die Legende über seine Person so verbreitet, dass es dem jungen Dichter Jens Baggesen im Jahre 1791 ohne Mühen gelang, ein dreijähriges Stipendium zu organisieren, um den schwer erkrankten Schiller vom Finanzdruck zu befreien.

Schillers späte Dramen und Balladen bewirkten eine neue, erhöhte Präsenz des Dichters beim lesenden Publikum. Vom Ausmaß seiner Anerkennung hat Schiller selbst noch einen Eindruck bekommen, als er im Mai 1804 für zwei Wochen mit seiner Familie nach Berlin kam. Bereits der Wachoffizier am Potsdamer Tor verwickelte ihn in ein Gespräch über seine Dichtung, und im Theater erhob sich das Publikum, wenn der Dichter die Loge betrat. Schiller hatte eine Sprache gefunden, die sich den Gebildeten ebenso vermittelte wie den lesenden Volksschichten, und so überbrückte er die auch in Deutschland zunehmende "Sprachdivergenz" zwischen Standardsprache und Literatursprache. Seine Verse wurden zu geflügelten Worten. Diese volkstümliche Rezeption, von Philologen als "falsche" Popularität belächelt, war vor allem an den ethisch-lebenspraktischen Aussagen interessiert - eine Schiller-Aneignung, von der wir kaum noch Kenntnisse und Vorstellungen haben.

Schillers Nachleben

Als im Mai 1805 die Nachricht seines Todes gemeldet wurde, gab es kaum jemanden, für den Schiller nicht ein Begriff war. Kondolenzbriefe kamen sowohl von der preußischen Königin wie von Frauen aus den Volksschichten. Der Historiker Leopold Ranke erinnert sich, dass ihm ein französischer Besatzungsoffizier Schillers Tod und dessen Bedeutung erklärte. Spontane Gedenkfeiern gingen von den Bühnen aus; Goethe bediente die Weimarer mit einem längeren Gedicht, dessen wiederholter Vers "Denn er war unser!" zu einer einprägsamen Formel für Schillers Nachleben als Zeitgenosse wurde. Einer der ersten Kommentare lautete: "Der Mann der Nation gehört nicht bloß der Zeit, worin sein Streben wirkte, er gehört der Nachwelt an, welcher die Frucht seiner Mühen als Vermächtnis anheimfällt." Schiller galt als "Mann der Nation". Die vielen Spenden, die zu einem "Denkmal der Nazionaldankbarkeit" eingingen, sollten ursprünglich der Errichtung eines Monuments dienen, wurden dann aber Schillers Witwe für die Ausbildung ihrer vier Kinder überwiesen.

Bereits die 1806 einsetzenden antinapoleonischen Kriege brachten mit der Konjunktur des Reiterliedes aus "Wallensteins Lager" einen neuen Beweis der Präsenz von Schillers Texten. Es ist vielfach bezeugt, dass dieses mobilisierende, sofort auch vertonte Lied ("Wohl auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd! Ins Feld, in die Freiheit gezogen. Im Felde, da ist der Mann noch was wert, da wird das Herz noch gewogen ...") bei den Soldaten, speziell denen aus bürgerlichem Hause, rasch zum Schlager wurde. Welche Rolle spielte es damit für das Bewusstsein einer neuen Männlichkeit und das Aufkommen eines patriotischen Militarismus im damaligen Bürgertum! Schiller wurde zum Idol einer patriotisch mobilisierten Jugend, einer ersten Jugendbewegung.

Bemerkenswert ist sodann ein erneutes Interesse an Schiller und seinen Werken im französischen und englischen Sprachbereich; es ist in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sogar stärker und ertragreicher gewesen als in Deutschland. Ein Werk steht hier als Impuls im Mittelpunkt: "De l'Allemagne" von Madame de Staël. Sie war Schiller im Januar 1804 mehrfach in Weimar begegnet und tief von ihm beeindruckt. In ihrem erstmals 1813 in London erschienenen Buch widmet sie Schiller ein sympathisches Portrait. Sie sieht in ihm eine ideale Verbindung von Dichter und Denker und bringt ausführliche Referate und Analysen seiner Dramen. Mit diesem Werk, das in seinem eleganten Französisch damals von allen Gebildeten Europas gelesen werden konnte, waren der Rezeption Schillers außerhalb Deutschlands ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Bereits 1809 hatte Benjamin Constant eine französische Nachdichtung des "Wallenstein" vorgelegt. Es folgten Übersetzungen und Nachdichtungen fast aller Dramen Schillers, die damit auch für Aufführungen in anderen Ländern zur Verfügung standen.

Auch in England war Schiller schon in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts entdeckt worden, vor allem von S. T. Coleridge, der Schiller romantisch feierte und seinen "Wallenstein" sofort übertrug. In dieser Tradition stand der Historiker Thomas Carlyle, der 1825 "The Life of Friedrich Schiller" herausgab, die erste europäische Schiller-Biographie, die mit Goethes Segen bald auch in Deutschland erschien. Sie steht am Beginn einer literarisch vermittelten Schiller-Verehrung breiter Volksschichten in den folgenden Jahrzehnten. Wie verschieden waren die Wege der Schiller-Rezeption in den europäischen Kulturen: Im Westen waren es meist die Romantiker, die Schiller entdeckten und vermittelten. Dazu ist auch der revolutionäre Burschenschafter Karl Follen zu rechnen, der als politischer Emigrant erster Professor für deutsche Literatur an der Harvard University wurde und die Einrichtung von Schiller-Seminaren an vielen Orten der USA anregte.

In Deutschland wurde erst zwei Jahrzehnte nach Schillers Tod ein erneutes Interesse an seiner Person wach, und es richtete sich auf das Nächstliegende: Schiller würdig zu bestatten, denn sein Sarg war im Jahre 1805 lediglich im städtischen Beinhaus deponiert worden. Nicht ohne Druck der öffentlichen Meinung und die Einschaltung Goethes erfolgte 1827 die offizielle Beisetzung der Gebeine Schillers in der Fürstengruft auf dem Neuen Friedhof in Weimar. Dann sorgten die Freunde durch Publikationen dafür, dass die Erinnerung an Schiller lebendig blieb und vertieft wurde. Wilhelm von Humboldt veröffentlichte seinen Briefwechsel mit Schiller und ergänzte ihn um den Essay "Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung" - bis heute eine der besten Charakteristiken Schillers. Auch Goethe gab 1828 seinen Briefwechsel mit Schiller heraus und verleitete damit zu einer beliebten epigonalen Beschäftigung: die "Dioskuren" Goethe und Schiller mit- und gegeneinander zu vergleichen.

Mit dem Erwachen der europäischen Demokratiebewegung seit 1830 zeigte sich, dass es in Deutschland auch politische Veranlassung gab, auf Schiller zurückzukommen. Der Hamburger Verleger Julius Campe, dem wegen der oppositionellen "Briefe aus Paris" der Prozess gemacht wurde, wehrte sich 1832 mit der Schrift "Schillers politisches Vermächtnis. Ein Seitenstück zu Börnes Briefen aus Paris". Im Vorwort schreibt Campe: "Kaum hatte der Schlaf seine Mohnkörner über mein Haupt gestreut, als Schiller selbst, einem Unsterblichen gleich, das Haupt von Strahlenglanz umgossen, leuchtenden Angesichts, vor mir stand und mich also anredete: 'Du sollst meine Werke poetisch und prosaisch durchgehen, aufzeichnen, was ich über Fürsten, Staaten und Völker, ihr Streben und ihr Treiben an vielen Stellen ausgesprochen und als mein politisches Vermächtnis herausgeben.`" Das tat Campe unter dem Schiller-Motto "Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht, vor dem freien Menschen erzittert nicht!" Alle Belege verwiesen auf die "Ausgabe in Einem Bande", die Cotta für breite Volksschichten damals auf den Markt gebracht hatte. So wurde Schiller aktualisiert für eine politische Bewegung, die bis zur Revolution von 1848 nicht mehr abreißen sollte. Der badische Liberale Karl von Rotteck schrieb in das "Schiller-Album" von 1837: "Du lebst in der Tat, denn Du wirkst fortwährend unter uns! Dein Geist lebt, und nimmer wird die Gewalt ihn ersticken."

Diese politische Inanspruchnahme stand in einem Bezug zu der organisierten Schiller-Verehrung im deutschen Bürgertum, die in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts aufkam. Der Stuttgarter Männergesangsverein "Liederkranz" schrieb 1824 in seine Satzung, jährlich an Schillers Todestag eine Feier zu veranstalten. Am 9. Mai 1825 fand, stark besucht von allen Volksschichten, ein erstes Schiller-Fest vor den Toren Stuttgarts statt. Vom Festredner wurde das Projekt eines Schiller-Denkmals angekündigt, für das sich 1826 ein "Verein für das Denkmal Schillers" konstituierte. Dieser wagte 1827 einen Aufruf "An die Verehrer unseres unsterblichen Schiller im gesamten deutschen Vaterland"; Schiller-Feiern kamen nun sehr in Mode.

Höhepunkt des Stuttgarter Projektes war das Schiller-Fest im Jahre 1839 zur Einweihung des von Thorwaldsen geschaffenen Denkmals. Die Beteiligung (man schätzte 30 000 Teilnehmer) und das Presseecho waren gewaltig. In den Berichten heißt es: "Fragen wir vorerst, wer dieses Fest gefeiert habe, so ist die Antwort: das Volk, und um es noch deutlicher zu sagen, der Dritte Stand, eben derjenige, welchen das 19. Jahrhundert zu seinem Rechte gebracht hat. (...) Seine wahre Bedeutung aber erhielt dieser Tag durch das Bewusstsein, das sich überall kund tat, dass ganz Deutschland dieses Fest mitfeierte, dass die dabei Handelnden und Genießenden nur die Stellvertreter des ganzen Volkes waren." Die Bedeutung des Festes ging über seinen konkreten Rahmen weit hinaus. Es war nach dem Hambacher von 1832 das erste Massenfest mit national-politischem Hintergrund und wurde auch spontan als "Nationalfest" bezeichnet. Im Unterschied zu jenem aber war es durchweg mit positiven Erfahrungen verbunden. Die Obrigkeit hielt sich zurück; mit einem eigenen Ordnungsdienst organisierte sich diese Festgesellschaft von Bürgern selbst. Man hatte erfahren, dass man im Namen Schillers Tausende mobilisieren konnte. Das Schiller-Fest einer Stadt war zum Nationalfest geworden. Der Nimbus Schillers war imstande, bisher getrennt lebende Stände, Konfessionen und Regionen zu einer nationalen Festgemeinschaft zu vereinigen, denn alle waren - mit Schiller, wie man überzeugt war - von gleichen Grundvorstellungen geprägt.

Vom Stuttgarter Fest führt eine direkte Linie zum hundertsten Geburtstag Schillers im November 1859. Er wurde in etwa 500 Orten Deutschlands, Europas und Amerikas begangen und war in Deutschland wahrscheinlich das größte Massenfest des 19. Jahrhunderts. Die Aktionsbereitschaft der Deutschen ist nur zu verstehen vor dem politischen Hintergrund des Jahres 1859 in Europa. Bereits im Sommer hatte sich innerhalb der bürgerlichen Elite ein Deutscher Nationalverein konstituiert, und nun sahen auch die Volksschichten eine Möglichkeit, sich nach 1848/49 wieder zu Wort zu melden. Sie taten es mit einem Bekenntnis zu Schiller, und jeder wusste, was damit gemeint war.

Den Schiller-Festen der national-demokratischen Bewegung, deren Ausdrucksformen uns heute fremd sind, kann man nur gerecht werden, wenn man sie als kreative, eigenständige Form des Erinnerns versteht und wenn man akzeptiert, dass auch eine politische Würdigung Schillers ihre Berechtigung hat, die nicht in der Kenntnis seiner Werke begründet ist, sondern sich auf den jeweils aktuellen Schiller-Mythus bezieht. Es spricht für Schiller, dass er für freiheitliche Demonstrationen zur Symbolfigur werden konnte. Schiller wurde zum Katalysator einer sich als Nation konstituierenden Gesellschaft. Wurde er damit politisch missbraucht? Ein Dichter sollte nicht "Nationaldichter" genannt werden (und seine Werke nicht "Nationalausgabe"), denn Dichtung ist wie jede Kunst national unspezifisch. Einer politischen Gesellschaft, einer Nation jedoch steht es frei, sich auf einen Dichter wie Schiller zu berufen, der politisch aussagekräftig ist.

Schiller im Zeitalter des Nationalismus

Ein Schiller-Fest wie das deutsche von 1859 konnte sich nicht wiederholen; es stand am Ende der Epoche der Nations- und Nationalstaatsbildung in West- und Zentraleuropa. Der Nationalstaat war nun die verbreitetste Staatsform. Er wurde zum Motor der Modernisierung, doch seine innenpolitische Gestaltung und außenpolitische Positionierung wurden zunehmend zum Problem. Die Konkurrenz der Nationalstaaten verführte zu Nationalismus und Imperialismus. Die europäischen Gesellschaften befanden sich in permanenter Krise und Transformation. Schiller war ihre kulturelle Tradition, und es war offen, wie sie unter gewandelten Umständen mit ihr umgehen.

Schiller-Kritik

"Wenn irgendetwas den jetzigen Deutschen zur Ehre gereicht, so ist es dies, dass sie die großen glänzenden glitzernden Schillerschen Worte nicht mehr aushalten, welche ihre Großväter begeisterten." Diese Notiz Friedrich Nietzsches aus den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts dokumentiert eine sich damals innerhalb der literarischen Intelligenz verbreitende Distanzierung von Schiller. Musste es nach der langen Dominanz des Schiller-Mythus und seiner Verfestigung in einer Festkultur nicht zu einer Revision kommen? Zudem wandelten sich die Stilformen der bürgerlichen Kulturgesellschaft; Realismus und Naturalismus wurden zu Trägern einer Kritik, die sich vor allem an der Sprache Schillers und ihrem Pathos festmachte.

Es ging hier um den erhabenen Ton einer republikanischen Moral: Er wird von den sozialen Schichten, die sich in einem Aufbruch befinden, intuitiv verstanden - nicht jedoch von solchen, die eine solche Situation nicht kennen oder sich über sie erhaben bzw. weit von ihr entfernt fühlen. Das waren zu Schillers Lebzeiten bereits Intelligenzkreise der deutschen Romantik und nun am wirkungsvollsten Nietzsche, der Exponent des europäischen Spätbürgertums. Mit seinem Diktum "Schiller: oder der Moral-Trompeter von Säckingen" wollte er auch für Schiller eine "Götzen-Dämmerung" einleiten. Er kultivierte zudem die Entgegenstellung von Schiller und Goethe, war also nicht mehr bereit, deren Verschiedenartigkeit zu tolerieren. Ein französischer Autor brachte es später auf den Punkt: "Goethe est Européen, Schiller est Allemand" - eine Nationalisierung Schillers mit negativem Vorzeichen: Schiller, der typisch Deutsche. Die Dominanz des Schiller-Mythus in der westlichen Intelligenz war gebrochen.

Nationalisierungen Schillers

Nachdem auch Deutschland seit 1870 ein Nationalstaat war, wurde das Erbe und das Erinnern Schillers zur öffentlichen Aufgabe. Im Deutschunterricht der Schulen wurde Schiller Pflicht. Er wurde zum "Großen Deutschen", die nationalen Repräsentanten und Institutionen fühlten sich ihm verpflichtet; Schiller wurde nationalisiert, und das bedeutete auch: Die deutsche Schiller-Rezeption unterschied sich nun von der anderer Nationen.

Angesichts der nationalen Inanspruchnahme Schillers ist zunächst festzuhalten: Es gab dafür kaum Aussagen Schillers, auf die man sich berufen konnte. Schiller war ein Zeitgenosse der finalen Krise des Heiligen Römischen Reiches; über eine Nationsbildung der Deutschen hat er sich meist skeptisch geäußert, so in dem heute wieder bedenkenswerten Vers: "Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens. Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus!" Wenn Schiller dennoch in Deutschland als "Nationaldichter" verstanden wurde, lag dem das affirmative Bekenntnis zu Grunde, wie es in Goethes Vers "Denn es war unser!" zum Ausdruck kommt. Obwohl Goethe nur die Weimarer gemeint hatte, lag es nahe, seine bündige Zueignungsformel mit ihrem betonten Possessivpronomen auf alle Deutschen zu beziehen. So wurde Goethes Vers zum beliebten Leitmotiv für die vielfältige Inanspruchnahme Schillers als "Nationaldichter", die verstärkt seit dem Schiller-Jahr 1905 in Mode kam.

Damals erlebte auch die Schiller-Forschung einen ersten Höhepunkt; sie war nach dem Schiller-Fest von 1859 in Gang gekommen. Die Publikation der Werke, Schriften und Briefe Schillers, bisher eine Angelegenheit Einzelner, wurde nun systematisiert und als nationales Projekt betrieben. Es erschienen bis zum Weltkrieg mehrere konkurrierende Editionen, und daneben entwickelte sich eine akademische Forschung, die im Zeichen von Positivismus und Historismus viele gründliche Beiträge erbrachte. Alle diese Untersuchungen sahen sich dem nationalen Interesse verpflichtet und brachten das vielfach zum Ausdruck: Das 1903 in Marbach eröffnete Museum des Schwäbischen Schiller-Vereins wurde 1922 zum "Schiller-Nationalmuseum", und noch im Kriegsjahr 1942 startete man eine Schiller-Gesamtausgabe als "Nationalausgabe".

War man sich darüber im Klaren, dass mit solchen Nationalisierungen der Wirkungsraum Schillers auf Deutschland begrenzt wurde? In den bürgerlichen Schichten von Bildung und Besitz verstrickte man sich in Abgrenzungen, man hatte den emanzipatorisch-freiheitlichen Bezug zu Schiller weitgehend verloren. Da brachte zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Nationalismus im Zeichen völkischen Denkens eine Mobilisierung mit sich. Seit 1906 wirkte ein "Schiller-Bund" darauf hin, Schüler nach Weimar zu bringen und aus der Schiller-Aneignung eine Jugendbewegung zu machen.

Als Massenmobilisierung gelang dies erst der NSDAP: Sie organisierte im Schiller-Jahr 1934 eine "Schiller-Verehrung der deutschen Jugend", zu der 25 000 Hitlerjungen in fünf Staffelläufen von weither zu einem Sonnenwendfeuer nach Marbach kamen. Am 10. November kamen Hitler und Goebbels nach Weimar, doch auf der Partei-Großkundgebung in Marbach blieb der Geist Schillers lebendig. Ans Mikrophon drängte sich ein SA-Mann: "An den Genius Schillers: Dein Geist tut Not! Dein Geist ist tot! Hilf, dass der Wahnsinn, der Nazi-Wahnsinn aus den Hirnen schwindet (...). Fürs heil'ge deutsche Vaterland, der Freiheit hohes Unterpfand, zünd ich die Todesfackel an." Hans Burrer wurde sofort verhaftet.

Seit 1940, dem ersten Kriegsjahr, war in Deutschland der Spielfilm "Friedrich Schiller" zu sehen, den man heute zur NS-Propaganda rechnet. Aus den Widerstandsgruppen der Arbeiterbewegung wird jedoch berichtet, dass man diesen Film empfahl, um oppositionelles Verhalten zu studieren. Man hatte den Regisseur Herbert Maisch offensichtlich verstanden. Er hatte als Titel "Rebellen" vorgeschlagen - was Goebbels verhinderte. Der Film blieb auch nach 1945 in den Kinos.

Schiller in der europäischen Linken

Als 1905 wieder ein Schiller-Jahr angesagt war, versammelten sich erstmals auch Vereine der Arbeiterbewegung und meldeten sich mit einer eigenständigen Position zu Wort. In Bremen wurde erklärt: "Keiner der bürgerlichen Festredner kann Schiller voll gerecht werden. Sie alle kennen den tiefen Gehalt des Schillerschen Wesens nicht oder schleichen scheu daran vorbei: Das ist seine glühende Liebe zur Freiheit, sein rebellischer Trotz gegen Unterdrückung und Willkür, sein Glaube an die Aufwärtsentwicklung der Menschheit (...). Nur dort, wo klassenbewusste Arbeiter zur Ehrung Schillers sich versammeln, nur dort wird Schiller gegeben, was ihm zukommt: das Gelöbnis zur Weiterarbeit in seinem Geiste." Selbstbewusst wird hier ein alternativer Schiller-Mythus zur Geltung gebracht, der im 20. Jahrhundert eine eigenständige Tradition bilden sollte. Die organisierte Arbeiterbewegung entdeckte Schiller als "Bundesgenossen des arbeitenden Volkes in seinem Ringen um eine bessere Zukunft". Verwiesen sei auf Franz Mehring, der 1905 ein viel verbreitetes Buch "Schiller - Ein Lebensbild für deutsche Arbeiter" vorlegte, und auf den bayerischen Sozialisten Kurt Eisner und seinen revolutionär-freiheitlichen Rückgriff auf Schillers Idealismus. Ihm verwandt ist die Schiller-Interpretation des französischen Sozialisten Jean Jaurès, die deutlich macht, dass Schiller auch international weiterhin eine Potenz darstellte.

Im Zusammenhang der Schiller-Verehrung innerhalb der sozialistischen Bewegung kam es auch zu einem Rückgriff auf Schillers "Ode an die Freude" in der Vertonung durch Beethoven. Es war die Schiller-Feier der Berliner Arbeiterbewegung im Jahre 1905, auf der Beethovens Neunte Sinfonie, deren Schluss die Ode bildet, erstmals in politischer Absicht aufgeführt wurde; seitdem stellt sie eine Festtradition des politischen Internationalismus dar. Mit den Leipziger Silvesterkonzerten des Gewandhaus-Orchesters unter Artur Nikisch wurde sie von 1918 an zu einer weltweiten Tradition. Die Beethoven'sche/Schiller'sche "Ode an die Freude" wurde wiederholt auch als Hymne in Anspruch genommen, so von Pierre de Coubertin und der Olympischen Bewegung sowie vom Europarat, der sie 1972 offiziell zur Europahymne erklärte.

Schiller im geteilten Europa

Mit dem Jahr 1945 war in Europa das Zeitalter des Nationalismus an ein Ende gekommen, doch die ideologisch fundierte Teilung des Kontinents bedingte eine kulturpolitische Konkurrenz, die im geteilten Deutschland besonders zum Ausdruck kam. In einer ersten Nachkriegspublikation über Schiller erläuterte der zwischen den Fronten stehende Reinhard Buchwald den heroischen Idealismus der Freiheit bei Schiller und Beethoven als den deutschen Typus moderner Weltanschauung. Er hoffte auf eine Renaissance dieses Idealismus beim Wiederaufbau Europas. In der Tat, in den Nachkriegsgesellschaften zeigte sich eine neue Zuwendung zu Schiller. Auf den deutschen Bühnen behaupteten seine Dramen bis in die sechziger Jahre den ersten Rang.

Mit der Etablierung zweier deutscher Staaten war latent eine kulturpolitische Konkurrenz im Verhalten zu Schiller gegeben. Die zwei wichtigsten Erinnerungsorte an Schiller lagen in Ost und West. Als das Jahr 1955 einen ersten Anlass zu öffentlicher Ehrung des Klassikers bot, verweigerte sich die Bundesregierung unter Konrad Adenauer einer gesamtdeutschen Feier. Beide Staaten luden Thomas Mann zu ihrer Schiller-Ehrung ein, und dieser reiste sowohl nach Stuttgart wie nach Weimar. Er erinnerte an das Schiller-Fest von 1859: "Es war ein nationales Fest, und das sei das unsrige auch!" Doch welch ein Unterschied zwischen den Situationen von 1859 und 1955: damals ein Massenfest aller Volksschichten, jetzt eine offizielle Feier vor geladenen Gästen in zwei nicht miteinander kommunizierende Staaten, die sich auch in ihrer Schiller-Ehrung signifikant voneinander unterschieden.

Die DDR hatte in Weimar eine Umgestaltung der Grabstätte vorgenommen. In der Fürstengruft auf dem Neuen Friedhof wurden die Särge des Hauses Wettin an die Seite geräumt, und die Särge der Klassiker erhielten eine Mittelposition; aus der "Fürstengruft" wurde die "Goethe-Schiller-Gruft". Auf dem Staatsakt in Weimar reklamierte Kulturminister Johannes R. Becher Schiller für die DDR: "Denn er ist unser! Das erste Mal in der Geschichte unseres Volkes ist 'auferstanden aus Ruinen` ein deutscher Staat, der die Grundlage geschaffen hat, um Schillers Vermächtnis zu erfüllen." Ministerpräsident Otto Grotewohl stellte seine Ansprache sogar unter die an Schiller angelehnte Parole "Wir sind ein Volk" - eine gesamtdeutsche Nationalisierung Schillers, die nicht mehr glaubwürdig war.

In der Bundesrepublik feierte man im regionalen Rahmen. In Württemberg wurde eine Volksausgabe der Werke Schillers in einem Band in 230 000 Exemplaren verbreitet. Ein politisches Signal gegenüber der DDR sollte der Schiller-Vortrag "Vom Reich der Freiheit" sein, den Carlo Schmid vor dem Kuratorium Unteilbares Deutschland hielt. Einen anderen Akzent setzte der französische Botschafter André François-Poncet: Unter dem Titel "Schiller - unser Mitbürger" erinnerte er an den Ehrenbürger der Ersten Republik, an die weltbürgerliche Dimension von Schillers Denken und an seine Nachwirkung in Europa. Es war ein Versuch, Schiller zu entnationalisieren, während die Deutschen damals in einer nationalen Applikation stecken blieben, deren Formelhaftigkeit nicht zu übersehen war.

Ein Redner aus der Schweiz setzte im Schiller-Jahr 1959 neue Akzente: Friedrich Dürrenmatt weigerte sich in seiner Mannheimer Schillerpreis-Rede, "Schiller ins Absolute, Endgültige, Vorbildliche aufzublähen, überhaupt mich so aufzuführen, als wären die Klassiker die heiligsten Güter der Nation - nicht, weil ich die Klassiker für kein Gut halte, sondern weil ich den Nationen in dieser Sache misstraue. Für den tätigen Schriftsteller kann nur ein menschliches Verhältnis zu den Klassikern von Nutzen sein. Er will keine Götzen in ihnen sehen, keine unerreichbaren Vorbilder, sondern Freunde, Anreger, Gesprächspartner." Dies wurde in Deutschland als "Absage" an Schiller verstanden, so in einem Beitrag Benno von Wieses, der sich heute wie das Vermächtnis einer ganzen Epoche nationaler Schiller-Erinnerung liest.

Schon 1955 hatte der Regisseur Rudolf Sellner auf der Frankfurter Schiller-Feier erklärt: "Dramen hängen nicht (wie Bilder) an der Wand. Sie sind veränderliche Werte und Größen (...). Sogar erschreckenden Eingriffen hält die Substanz einer großen dramatischen Dichtung nicht nur stand, sondern gewinnt oft erst jetzt ihre lebendige Kraft, um in eine veränderte Gegenwart hineinzuwirken." Das wurde von seinen jüngeren Kollegen als Aufforderung zum Handeln verstanden. In der "Wilhelm Tell"-Inszenierung von Hansgünther Heyme 1965 in Wiesbaden wurde die Rütli-Szene als Aktion von Nationalisten dargestellt, mit Nazimelodien auf den Lippen. Diese pervertierende Kritik an Schillers beliebtestem Nationaldrama blieb kein Einzelakt. Im zeitgeschichtlichen Zusammenhang der Studentenproteste folgten provokante "Räuber"-Inszenierungen von Peter Zadek und Egon Monk, eine Destruktion von "Kabale und Liebe" durch Peter Stein und Hans Hollmann - am Berliner Schiller-Theater! -, ein antimilitaristisches "Wallenstein"-Konzentrat von Heyme in Köln und andere Inszenierungen mehr. Diese unverhoffte und vom Publikum immer wieder als Provokation empfundene Destruktion des Bühnenklassikers war ein kulturrevolutionärer Akt mit damals unabsehbaren Folgen. In einem Interview setzte der im Zentrum dieser Bewegung stehende Heyme gegen das bisher gültige Regieprinzip der "Werktreue" "die Pflicht zu besserer Treue. Und diese Pflicht bedeutet (...), dass man alte Stücke nicht mehr vom Blatt, sondern gegen den Strich spielen muss. Stücke vom Blatt spielen hieße, sie im Sinne des Heute nicht ernst nehmen."

Diese Theaterrevolution konnte ihre "Botschaft" im Zusammenhang des Generationswechsels in der bürgerlichen Gesellschaft der Bundesrepublik letztlich durchsetzen. Es gab keine wirksamen Bedenken, als 1972 im Zuge der Oberstufenreform der Gymnasien auf einen Lektürekanon für das Fach Deutsch verzichtet wurde und damit auch Schiller nicht mehr verbindlich war. Es bestand kein Interesse mehr daran, Texte und Lebensdaten von Schiller der nächsten Generation zu vermitteln. Damit war das gemeinsame Erinnern Schillers in der Bundesrepublik an ein Ende gekommen. War es ein Zufall, dass in jenen Jahren sich auch der Deutschland-Begriff in der westdeutschen Gesellschaft fundamental veränderte? Schillers Haus in Weimar lag nun nicht mehr in dem Staat, den man in der Bundesrepublik als Deutschland bezeichnete.

In der DDR war das gesellschaftliche Erinnern Schillers andere Wege gegangen. Im ersten Jahr nach dem Mauerbau wurde das Deutsche Theater in Berlin mit einer "Wilhelm Tell"-Inszenierung von Wolfgang Langhoff wieder eröffnet. Schiller war weiterhin Lehrstoff in der Oberschule; seine Werke gehörten zum so genannten Kulturerbe. Anlässlich Schillers 225. Geburtstag wurde 1984 der Neubau eines Museums hinter dem Wohnhaus Schillers in Weimar in Angriff genommen, und der stellvertretende Kulturminister Klaus Höpcke erklärte: "Wir sind dabei, uns als sozialistische deutsche Nation herauszubilden in der DDR. Uns interessiert die Beziehung zwischen dieser sich herausbildenden sozialistischen deutschen Nation und dem Schillerschen Erbe." Dies war eine vorsichtige Beanspruchung Schillers - im Namen einer Nation, die sich nicht realisieren ließ. Noch unvergessen ist Leonard Bernsteins Aktualisierung von Schillers Ode im Rahmen der Feiern der deutschen Vereinigung im Oktober 1990.

Schiller jenseits der Nationalkulturen

Der Schiller-Mythus des 19. und 20. Jahrhunderts war der Ausdruck einer europäischen Nationalkultur, die sich im Zeichen von Nationsbildung und Nationalismus sehr verschieden entwickelte. Er wurde in Deutschland von jener Nation getragen und tradiert, die das Deutsche Reich als ihr Vaterland betrachtete. Nach der Auflösung des Reiches bestimmte diese Reichsnation noch bis etwa 1970 das öffentliche Leben, und so kamen in den Schiller-Erinnerungskulturen der beiden deutschen Staaten verschiedene Ausprägungen dieses Mythus noch einmal zum Tragen. Schon in den sechziger Jahren aber war in der Bundesrepublik die Schiller-Kultur von der jüngeren Theaterintelligenz kulturrevolutionär in Frage gestellt worden und dann generell an ihr Ende gekommen. Für die DDR-Bevölkerung geschah das nach der deutschen Vereinigung, als die eigene Bildungskultur vom Westen überformt wurde.

Die konfrontative Situation des ideologisch geteilten Europa hatte diese Entwicklung in Deutschland akzentuiert und beschleunigt. Doch inzwischen sind ähnliche Vorgänge auch in anderen Nationen der europäischen Kulturgemeinschaft zu beobachten: eine zunehmende Entkräftung der Nationalkulturen. Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung Schiller ohne den Rahmen von Nationalkulturen haben kann. Außerhalb Deutschlands war die Geltung Schillers weniger an die eigene Nationalkultur gebunden. Daher besteht hier - wie nun auch in Deutschland - für die Zukunft eine offene Situation: Kann innerhalb der Intelligenz ein neues Interesse an Schiller und seinem Werk entstehen? Die europäische Kulturgemeinschaft ist mehr denn je ein kultureller Wirkungsraum, dessen Klassiker und Traditionen sich immer wieder neu konstituieren.

Ein kontinuierliches Residuum des Schiller-Interesses ist die Forschung über ihn, die von politischen und kulturellen Konjunkturen scheinbar unabhängig ist. Sie wird von denen getragen, die sich als Spezialisten mit Schiller beschäftigen; diese sind heute in vielen Staaten ansässig, jedoch nicht international organisiert. Nur in Deutschland existiert eine nationale Schiller-Gesellschaft. Sie war aus der Vereinigung württembergischer Schiller-Vereine entstanden, wurde 1947 gesamtdeutsch neu konstituiert, hatte dann aber 1955 mit der Gründung des Deutschen Literaturarchivs eine die gesamte deutsche Sprachgemeinschaft umfassende Aufgabe übernommen. Ihrem Zentrum in Marbach wurde damit eine dauerhafte Konjunktur eröffnet, und das Engagement für die Rezeption Schillers wurde zu einer sekundären Aufgabe.

So hängt es in erster Linie von den Medien ab, ob ein neues Interesse an Schiller entsteht und wachgehalten wird. Wir erleben in diesem "Schiller-Jahr" ein erstaunliches Zusammenspiel vielfältiger Initiativen. Schiller wird erneut zu einem Begriff, und es bleibt abzuwarten, welche Institutionen des Kultur- und Bildungsbereiches diesen Impuls aufgreifen. Vielleicht entsteht einmal wieder ein Schiller-Spielfilm, der europäisch wirken könnte.

Schillers Genialität als Dramatiker war von jeher das Geheimnis seines Erfolges, und so sind die Theater weiterhin der öffentliche Ort, an dem seine Texte wirken können und wir auch in Zukunft Gelegenheiten erhalten, Schiller kennen zu lernen und ihn - warum nicht? - zu den europäischen Klassikern zu zählen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Dräumling, Mit Dokumenten zur Schillerfeier 1859, hrsg. von Anneliese Klingenberg, Berlin 1984.

  2. Albert Ludwig, Schiller und die deutsche Nachwelt, Berlin 1909.

  3. Helmut Koopmann (Hrsg.), Schiller-Handbuch, Stuttgart 1998, S. 758 - 808, Beiträge von Ute Gerhard, Claudia Albert und Peter Boerner; vgl. auch die umfassende Forschungsgeschichte des Herausgebers, ebd., S. 809 - 932.

  4. Norbert Oellers, Schiller - Zeitgenosse aller Epochen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland, Teil I, Frankfurt/M. 1970, Teil II, München 1976.

  5. Günther Dahlke, Der Menschheit Würde. Dokumente zum Schiller-Bild der deutschen Arbeiterklasse, Weimar 1959; Ferdinand Piemont, Schiller Spielen. Stimmen der Theaterkritik. 1946 - 1985. Eine Dokumentation, Darmstadt 1990.

  6. Einen Eindruck vermittelt Ute Gerhard, Schiller im 19. Jahrhundert, in: Schiller-Handbuch (Anm. 3), S. 760 - 772.

  7. Johann Wolfgang Goethe, Epilog zu Schillers "Glocke", Verse 17, 25 und 72.

  8. Zit. in: N. Oellers (Anm. 4), I, S. 181.

  9. Zu dem Aufruf des national engagierten Schriftstellers Rudolf Zacharias Becker vgl. Norbert Oellers, Schiller. Geschichte seiner Wirkung bis zu Goethes Tod, Bonn 1967, S. 75ff.

  10. Vgl. Karen Hagemann, Männlicher Muth und teutsche Ehre, Paderborn 2002.

  11. In Deutschland heute greifbar in der hölzernen Erst-Übersetzung von 1814, mit einem nicht befriedigenden Anhang, Frankfurt/M. 1985.

  12. Thomas Carlyle, Leben Schillers. Aus dem Englischen, eingeleitet durch Goethe, Frankfurt/M. 1830.

  13. Vgl. dazu jüngst: Albrecht Schöne, Schillers Schädel, München 2002.

  14. N. Oellers (Anm. 4), I, S. 287 - 309.

  15. Schiller's Album. Eigenthum des Denkmals Schiller's in Stuttgart, Stuttgart 1837, S. 187.

  16. Vgl. N. Oellers (Anm. 4), I, S. 239, und ders. (Anm. 9), S. 265ff. und S.411f.

  17. Das Schillerfest in Stuttgart am 8. Mai 1839, Stuttgart 1839, S. 7 und S. 20.

  18. Zit. in: N. Oellers (Anm. 4), I, S. 75, dort auch das Folgende.

  19. Robert d'Harcourt, La jeunesse de Schiller, Paris 1928, S. IV.

  20. Xenie "Deutscher Nationalcharakter", Musen-Almanach 1797.

  21. Helmut Koopmann gibt in seinem Handbuch (Anm. 3, S. 810 - 819) einen komprimierten Überblick über das erste Jahrhundert der Schiller-Forschung in Deutschland.

  22. Vgl. Marbach. Rückblick auf ein Jahrhundert. 1895 - 1995, Marbach 1996, S. 45f.

  23. Vgl. G. Dahlke (Anm. 5), S. 23.

  24. Wolfgang Hagen, Die Schillerverehrung in der Sozialdemokratie, Stuttgart 1977, S. 201.

  25. N. Oellers (Anm. 4), II, S. 237.

  26. Vgl. Reinhard Buchwald, Schiller und Beethoven. Zur Wesensgestalt deutscher Klassik, Waibstadt 1946, S. 12ff.

  27. Zit. in: N. Oellers (Anm. 4), II, S. 401.

  28. Zit. in: G. Dahlke (Anm. 5), S. 298.

  29. Vgl. Bernhard Zeller (Hrsg.), Schiller. Reden im Gedenkjahr 1955, Stuttgart 1955, S. 81.

  30. Zit. in: N. Oellers (Anm. 4) II, S. 431.

  31. Vgl. ebd., S. 439 - 466.

  32. Zit. in: F. Piemont (Anm. 5), S. 3.

  33. Zit. in: ebd.

  34. Zit. in: ebd., S. 284.

Dr. phil., geb. 1937; ehem. Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität zu Köln, 50923 Köln.
E-Mail: E-Mail Link: otto.dann@uni-koeln.de