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Der deutsch-russische Nexus | Oktoberrevolution | bpb.de

Oktoberrevolution Editorial 1917 und 1991 - zwei Revolutionen im Vergleich - Essay Was war die Oktoberrevolution? Revolution, Stalinismus und Genozid 1917/1937 und das heutige Russland Der deutsch-russische Nexus Das revolutionäre Russland in der Welt

Der deutsch-russische Nexus

Gerd Koenen

/ 15 Minuten zu lesen

Bis heute ist unklar, wie die mit deutscher Hilfe (mit)ermöglichte Machteroberung der Bolschewiki zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen hat.

Einleitung

Im Bild vom "plombierten Waggon", mit dem Lenin im April 1917 vermittels der Deutschen Reichsbahn in das gärende Russland zurückexpediert wurde, hat sich ein historischer Erinnerungsrest an die besondere, intime Verklammerung des Deutschen und des Russischen Reiches in der Periode von Weltkrieg und Revolution erhalten.

Ein Ausweis Lenins während der Oktoberrevolution (© picture-alliance / AP-images)

Dabei war die Revolutionierungspolitik gegenüber Russland nur eine von vielen Karten des Deutschen Reiches beim Griff nach der Weltmacht. Aber es war diejenige, die im Jahr 1917 (so schien es zumindest) gestochen und die weltgeschichtliche Lage radikal verändert hatte.
Auf welche Weise hat die bolschewistische Revolution auf Deutschland zurückgeschlagen? Das ist in der Geschichtsforschung bis heute weithin unklar. Annahmen über eine tief verwurzelte Kontinuität deutscher Russlandfeindschaft und Slawophobie verbinden sich mit ungeprüften Hypothesen über einen dominanten Antibolschewismus als Grundströmung der Weimarer Politik, der durch die antisemitischen Invektiven Hitlers gegen den "jüdischen Bolschewismus" lediglich eine Zuspitzung oder Aufladung erfahren habe. Eine weiter ausgreifende Betrachtung des Verhältnisses beider Reiche und Gesellschaften in den Jahren vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg zeigt ein sehr viel widersprüchlicheres Bild.

Politik der Dekomposition

Wenn der Erste Weltkrieg mit der deutschen Kriegserklärung an das Zarenreich begann, dann ergab sich das weniger aus Konflikten zwischen Berlin und Petersburg oder einer virulenten deutschen "Russlandfeindschaft" als vielmehr aus der Konstellation der Großmächte. Tatsächlich war die Frontstellung gegen die Expansionspläne des Zarenreiches als "Hort der Despotie" nur die propagandistische Formel, die es im Juli 1914 ermöglichte, die SPD und das von Zerfallsängsten getriebene Österreich-Ungarn fest an den deutschen Kriegswagen zu ketten. Nachdem die "russische Dampfwalze" im August 1914 schon im Ansatz zum Stehen gebracht worden war, richtete sich die Wut der deutschen Öffentlichkeit mit umso größerer Intensität gegen den "Erzfeind" Frankreich und vor allem gegen das "falsche Albion". Hinter Großbritannien zeichnete sich bereits die mächtige Silhouette Amerikas ab.

Die deutsche Kriegsideologie drehte sich fast ausschließlich darum, einen fundamentalen Gegensatz zwischen dem idealistischen "deutschen Wesen" und dem materialistischen Ungeist des Westens zu konstruieren. Aber auch militärisch, politisch und wirtschaftlich entwickelte sich der Erste Weltkrieg zu einem Krieg Deutschlands gegen einen "Westen", der sich als politisch-ideologische Einheit seinerseits erst in diesem Krieg konstituierte. Umgekehrt erfand sich Deutschland in dieser Konfrontation noch einmal als ein europäisches "Reich der Mitte". Aber diese Mitte, zusammengefasst im Kriegsziel eines von Deutschland beherrschten "Mitteleuropa", war nun materiell und ideell weit nach Osten verschoben. Während im Westen kein Durchkommen war und die Kaiserworte vom "Platz an der Sonne" und von der Zukunft, die "auf dem Wasser" liege, immer hohler klangen, schien der Osten mit seinen von Zerfall bedrohten, riesigen Vielvölkerreichen für eine "Durchdringung" durch Deutschland weit offen zu liegen.

"Mitteleuropa wird im Kern deutsch sein, wird von selbst die deutsche Welt- und Vermittlungssprache gebrauchen", glaubte Friedrich Naumann in seiner programmatischen Beschreibung von 1915. Er untermauerte seine Sicht mit einer historischen Skizze, wonach der absinkende westliche Privatkapitalismus, dessen Welthauptstadt London sei, "den nach ihm kommenden Typ des Kapitalismus" mit seiner höher organisierten "Massenform des (...) Arbeitsmenschentums", dessen Zukunftswerkstatt Berlin sei, mit aller Gewalt am Aufstieg zu hindern suche. Auch der Sozialliberale Naumann nannte das einen "deutschen Sozialismus", den er dem westlichen Kapitalismus entgegenstellte.

Dass das Kriegsziel "Mitteleuropa" immer weiter nach Osten ausgedehnt und immer offensiver formuliert wurde, hatte auch mit Entwicklungen im Russischen Reich zu tun. Während in den Demokratien des Westens von einer mehr oder weniger festen Übereinstimmung zwischen Regierungen und Volksmassen ausgegangen werden musste, war bald offensichtlich, dass die beschworene "ewige" Einheit von Zar und rechtgläubigem Volk tief untergraben war. Die Rede von einer "russischen Revolution" war nach den Ereignissen des Jahres 1905 - in der Verknüpfung von äußerer Niederlage und inneren Unruhen - zur festen Größe geworden. So forderte der Staatssekretär des Äußeren Zimmermann im Herbst 1914 eine Forcierung der Entscheidung im Osten, wo eine kombinierte Politik von Krieg und Revolutionierung zu bedeutenden Erfolgen führen könne, um dann einen "Krieg bis zum äußersten" gegen Frankreich und England zu führen, wie ihn das deutsche "Volksempfinden" fordere.

Die deutsche Politik einer aktiven "Dekomposition" und Revolutionierung Russlands wurde, nachdem sich alle Pläne eines Sonderfriedens mit dem Zaren zerschlagen hatten, mit bemerkenswerter dynastischer Rücksichtslosigkeit formuliert. "Dieser schwache und unaufrichtige Herrscher, dessen Thron wankt (...), hat eine furchtbare Schuld vor der Geschichte auf sich geladen und das Recht auf Schonung von unserer Seite verwirkt", schrieb der deutsche Gesandte in Kopenhagen, Graf von Brockdorff-Rantzau, in einer Denkschrift vom 6. Dezember 1915 an den Reichskanzler. "Der Sieg und als Preis der erste Platz in der Welt ist aber unser, wenn es gelingt, Russland rechtzeitig zu revolutionieren und dadurch die Koalition zu sprengen." Brockdorff-Rantzau war (neben den Gesandten in Bern, Istanbul und Stockholm) für die diskreten Kontakte mit den im Exil lebenden Oppositionellen und Revolutionären Russlands verantwortlich. Unter diesen ragte der russische Sozialist Alexander Parvus-Helphand heraus, ein Führer des Petrograder Arbeiterrates von 1905, der es im Exil in der Türkei zum Millionär gebracht hatte, aber gleichzeitig marxistischer Großtheoretiker geblieben war. Helphand hatte sich der deutschen Sozialdemokratie angeschlossen und war zum Führer einer Fraktion rechter und linker Parteileute geworden, die sich um die Zeitschrift "Die Glocke" scharten. Sie alle sahen in einer Kombination "preußischer Bajonette und russischer Arbeiterfäuste" eine weltgeschichtliche Kombination, die nicht nur den Zarismus als "Hochburg der politischen Reaktion in Europa" zertrümmern, sondern mit vereinten Kräften auch die "alte" kapitalistische Welt des Westens aus den Angeln heben könne, um auf diese Weise einen Weg vom organisierten "Kriegssozialismus" zu einem entwickelten Sozialismus zu eröffnen.

Helphands Erwartungen und Versprechungen, durch die Finanzierung russischer Streik- und Parteikomitees aus dem "Spezialfonds für Propaganda und Sonderexpeditionen" des Auswärtigen Amtes bereits 1915/16 das Zarenreich zu unterminieren, erwiesen sich zwar als weit überzogen, angesichts der Entwicklungen des Frühjahrs 1917 aber doch als prophetisch. Es war Helphand, der im September 1915 (wenngleich nicht als einziger) die indirekte Verbindung zwischen dem in Zürich lebenden Führer der russischen Bolschewiki, Wladimir Uljanow alias Lenin, und Vertretern der deutschen Reichsleitung herstellte.

Zusammenspiel mit den Bolschewiki

Lenin vertrat unbeirrbar den Standpunkt eines "revolutionären Defätismus". Im Zentrum stand seine unzweideutige Feststellung, "dass vom Standpunkt der Arbeiterklasse und der werktätigen Massen aller Völker Russlands die Niederlage der Zarenmonarchie, der reaktionärsten und barbarischsten Regierung, (...) das kleinere Übel wäre". Es sei die Pflicht aller Revolutionäre, die Bajonette umzukehren und den Krieg in eine Revolution zu überführen.

So beunruhigend und extrem das klang, so wenig musste sich die deutsche Reichsleitung davon betroffen fühlen - zumal Lenin gegen nichts und niemanden so erbittert polemisierte wie gegen die "Pfaffenlosung" eines demokratischen Friedens ohne Annexionen und Kontributionen, die zum Feldzeichen der linken Sozialdemokraten und Kriegsgegner in Deutschland wie in Russland geworden war. Mit Helphand stimmte Lenin auch darin überein, dass der deutsche Imperialismus das avancierte Modell eines "organisierten Kapitalismus" vertrete und dieses gegen seine westlichen Rivalen England und Frankreich verteidige, "die in der kapitalistischen Technik rückständiger" seien und den "russischen Zarismus zum Angriffskrieg, d.h. zum Raub österreichischer und deutscher Gebiete, gedungen" hätten. Das kam der deutschen Kriegspropaganda weit entgegen. Die Hauptsubventionen erhielten Lenin und seine Parteigänger aber nicht aus Zuwendungen der deutschen Reichsleitung, sondern aus den Erlösen des von Helphand über Kopenhagen und Stockholm abgewickelten, lukrativen Blockadehandels. In Helphands Kopenhagener Kontor arbeiteten Georg Sklarz, ein Handelskommissionär des Berliner Reichskriegsamtes, und Jakub Fürstenberg-Hanecki, der für alle finanziellen Transaktionen zuständige Majordomus von Lenins Zürcher Hausstaat, als Geschäftsführer Hand in Hand.

Die deutschen Transferleistungen an die russischen Revolutionäre waren bis 1917 von keiner wesentlichen Bedeutung; so wenig wie die noch sehr viel höheren Subventionen, die zur "Dekomposition" und Unterminierung des britischen Empire ausgegeben wurden. Bedeutung gewann das Zusammenspiel mit den Leninisten erst nach der Februarrevolution und vor allem in der kurzen Ära der Provisorischen Regierung von Alexander Kerenski. In dieser Phase ab April/Mai 1917, also nach der Durchschleusung Lenins und seiner Exilgenossen im "plombierten Waggon", griffen die deutschen Zersetzungsbemühungen an der östlichen Front und die defätistische Propaganda der Bolschewiki mit ihrer "Schützengraben-Prawda" eng ineinander und trugen wesentlich zum Zusammenbruch der Armee des republikanischen Russland und zur "Involution" des Vielvölkerreiches bei. Nur inmitten dieses vollständigen Machtvakuums konnte die kleine, aber wohl organisierte, von charismatischen Führern wie Lenin und Leo Trotzki geleitete Kampfpartei der Bolschewiki im Oktober/November 1917 die Macht erobern.

Ein deutscher Agent?

Nach dem bolschewistisch inspirierten Umsturzversuch im Juli 1917 hatte die in Bedrängnis geratene Provisorische Regierung versucht, die führenden Bolschewiki, allen voran Lenin, als "deutsche Agenten" zu verhaften. Die Bolschewiki, die ihrerseits Alexander F. Kerenski und seine Regierung als "britisch-französische Agenten" denunzierten, gaben sich wenig Mühe, auf diese Beschuldigungen zu antworten, zumal das zusammengetragene Belastungsmaterial nur sehr bruchstückhaft war. Umso größer war die Hysterie auf Seiten der Alliierten. Im Sommer 1917 und erst recht nach der Machteroberung der Leninisten wurde die Vorstellung einer "deutsch-bolschewistischen Verschwörung" zur alptraumhaften Zwangsvorstellung. Dabei mischten sich - ähnlich wie in der Dreyfus-Affäre in Frankreich um die Jahrhundertwende - germanophobe mit antisemitischen Vorstellungen. Der Topos vom "jüdischen Bolschewismus" wurde nicht nur in den Milieus der russischen Rechten zum Dauerthema, sondern tauchte auch in der alliierten Publizistik auf. Robert Wilton, der Korrespondent der Londoner "Times", die als informelles Regierungsorgan galt, hatte schon kurz nach der Februarrevolution davon gesprochen, dass die "russische Sozialdemokratie ein Ableger des deutschen Marxismus", somit "ihrem Wesen nach unrussisch und weithin aus Angehörigen einer fremden Rasse zusammengesetzt" sei. In einem Leitartikel der "Times" vom 23. November hieß es: "Lenin und mehrere seiner Mitstreiter sind Abenteurer deutsch-jüdischer Herkunft und in deutschen Diensten."

Den sachlichen Hintergrund bot nicht allein die hohe Zahl und prominente Position jüdischer Bolschewiki (die es unter den eher westlich orientierten Menschewiki und Sozialrevolutionären schließlich auch gab), sondern mehr noch das systematische Spiel der deutschen Reichsleitung mit der "jüdischen Karte". Nicht nur unter den diskriminierten, von Pogromen bedrohten und im "Ansiedlungsrayon" eingesperrten Juden Russlands, sondern auch in der ostjüdischen Diaspora in den USA, Großbritannien und Frankreich war der Hass gegen das Zarentum so stark, dass er einer Parteinahme für die Mittelmächte nahe oder gleich kam. Die deutsche Politik war kaltblütig darum bemüht, diese Affekte für ihre Zwecke auszunutzen, wobei antisemitische Vorurteile über die Finanz- und Pressemacht des internationalen Judentums oder über die zersetzende Energie jüdischer Revolutionäre taktisch ins Positive gewendet wurden.

Die Machteroberung der Bolschewiki, die sich unter dem einhelligen Beifall der deutschen Öffentlichkeit vollzog, zumal sie an der Front Züge einer einseitigen Kapitulation trug und mit einem raschen Waffenstillstand in Brest gesichert wurde, löste unter den Alliierten einen Schock aus. Selbst Georges Clemenceau oder Winston Churchill erörterten ernsthaft die Frage, ob der deutsche Imperialismus dabei sei, mithilfe jüdischer Revolutionäre das Russische Reich unter seine Kontrolle zu bringen.

Trotz allen Widerwillens und eigener Besorgnisse war die deutsche Reichsleitung entschlossen, das auf die "moskowitischen" Kerngebiete Russlands zurückgeworfene Minderheitsregime der Bolschewiki an der Macht zu halten. Diese sahen sich nach der Landung alliierter Kontingente im Norden, Fernen Osten und Süden Russlands im Krieg mit den westlichen Alliierten und deklarierten den innerrussischen Bürgerkrieg zu einem "vaterländischen Krieg" gegen eine angebliche gegenrevolutionäre Intervention.

In dieser Situation suchte Lenin ein stilles, taktisches Bündnis mit dem deutschen Kaiserreich, trotz dessen weiträumiger Landnahmen in den ehemaligen westlichen Reichsgebieten vom Baltikum bis zur Ukraine. Für das eigene Land gab er im Mai 1918 die Parole aus: "Lerne vom Deutschen!" Deutschland vertrete eben nicht nur "den bestialischen Imperialismus, sondern auch das Prinzip der Disziplin, der Organisation, des harmonischen Zusammenwirkens auf dem Boden der modernsten maschinellen Industrie, der strengsten Rechnungsführung und Kontrolle". Die Aufgabe der Bolschewiki sei es, "vom Staatskapitalismus der Deutschen zu lernen, ihn mit aller Kraft zu übernehmen", so wie Peter der Große "die Übernahme der westlichen Kultur durch das barbarische Russland beschleunigte, ohne dabei vor barbarischen Methoden des Kampfes gegen die Barbarei zurückzuschrecken". Diese Generallinie spitzte er suggestiv zu: Deutschland und Russland repräsentierten "zwei getrennte Hälften des Sozialismus (...), wie zwei Kücken unter der einen Schale des Imperialismus". Diese beiden "Kücken" waren dazu bestimmt, gemeinsam die Schale des Imperialismus zu durchbrechen.

Irritierend war nicht nur, dass in dieser bolschewistischen Agitation nach Brest von einer prinzipiellen Politik des "revolutionären Defätismus" nicht mehr die Rede war. Stattdessen ergingen sich deutsche und sowjetrussische Unterhändler (federführend der frühere AEG-Ingenieur Leonid Krassin und der nationalliberale Sprecher des "Russlandkonsortiums der deutschen Industrie" Gustav Stresemann) bei ihren Verhandlungen zu den Berliner Zusatzverträgen im Juli/August 1918 in weiten Perspektiven einer strategischen Zusammenarbeit - auch als klar war, dass die Mittelmächte diesen Krieg nicht mehr gewinnen würden. Lenins Politik einer zielstrebigen Verklammerung der Potenziale Deutschlands und Russlands und seine kaltblütige Nutzung der maßlosen Ambitionen des preußisch-deutschen Imperialismus für die Umwandlung des Weltkriegs in einen Weltbürgerkrieg ist in ihrer herostratischen Kühnheit noch kaum wirklich gewürdigt worden. Es ist erstaunlich, dass alle maßgeblichen Arbeiten über das deutsch-bolschewistische Zusammenspiel in der Weltkriegsperiode drei bis vier Jahrzehnte alt sind.

Hysterien der Niederlage

Als Erich Ludendorff das Spiel um die Weltmacht Ende September 1918 verloren gab, spielten angesichts der aufflackernden Militärstreiks die Ängste vor einem Übergreifen revolutionärer Stimmungen auf die Truppe eine wesentliche Rolle. Auch für die sozialdemokratischen und bürgerlichen Konkursverwalter des Kaiserreichs stand bei der Ausrufung der demokratischen Republik im November und während der "spartakistischen" Unruhen im Dezember und Januar 1918/19 das Gespenst eines Übergreifens des Bolschewismus auf Deutschland beklemmend im Raum. Allerdings hatten die schrillen Alarmrufe auch die praktische Funktion, bei den westlichen Siegermächten im Vorfeld der Versailler Friedensverhandlungen möglichst milde Konditionen zu erwirken.

Eine Durchsicht der deutschen Russland-Literatur der Jahre 1917 bis 1924 - der heißen Phase von Krieg, Revolution und Nachkrieg also - bietet ein anderes Bild als jenes, das sich im Lichte späterer Entwicklungen festgesetzt hat. Inmitten aller Schreckensberichte, die aus dem russischen Bürgerkrieg mit dem Strom der Emigranten und Flüchtlinge nach Deutschland gelangten, findet sich ein Ton empathischer Anteilnahme, den Thomas Mann 1921 mit seiner Formel von der "Kameradschaft zweier großer, leidender und zukunftsvoller Völker" traf. Bolschewismus, vielfach übersetzt mit "Maximalismus", erschien als erzrussisches Phänomen, das eher mit den Romanfiguren und politisch-philosophischen Schriften Dostojewskis als in den Kategorien des Marxismus oder Leninismus zu erfassen war. Besonders Dostojewski stellte sich als Prophet einer "entzauberten" Welt und Kronzeuge gegen eine geist- und seelenlose Moderne derjenigen Nietzsches zur Seite. Man könnte von einer regelrechten "deutschen Dostojewtschina" reden. Herausgeber und Exeget Dostojewskis in Deutschland war nicht zufällig Arthur Moeller van den Bruck, der Vordenker der (später so genannten) "Konservativen Revolution", eines integristischen deutschen Nationalismus. Für Moeller war die "russische Geistigkeit", die in Dostojewski ihre vollkommene Verkörperung gefunden hatte, ein Antidotum gegen das in Deutschland schon tief ins Blut gedrungene, vergiftende Westlertum.

Schaut man die explizit antisemitische Literatur dieser Jahre durch, zeigt sich ein ähnliches Bild. Wenn die russische Revolution inmitten aller anderen Weltverhängnisse, vom Krieg bis zur Inflation, überhaupt besondere Beachtung fand, dann deshalb, weil die Russen als das neben den Deutschen antisemitischste Volk galten. Eben deshalb seien beide Völker erst aufeinander gehetzt und dann unter das jüdische Joch gezwungen worden. Das Kernsegment der deutschen Antisemiten setzte auf eine gemeinsame nationale Erhebung gegen die "rote Internationale" wie die "internationale Demokratie", die beide nur Werkzeuge der "goldenen Internationale" darstellten. Die Hauptsitze dieser finanzkapitalistischen jüdischen Weltenherrscher waren London, Paris und New York.

Noch überraschender ist ein Blick in die Literatur der deutschen Antibolschewisten der ersten Stunde, wie sie etwa in der "Antibolschewistischen Liga" von 1919 versammelt waren. Die Führer der Bolschewiki, allen voran der "Nationalrusse" Lenin, aber auch seine jüdischen Weggefährten wie Trotzki, Radek oder Sinowjew, wurden mit einem deutlichen Ton der Bewunderung beschrieben. Zwar galt es, ihren revolutionären Zugriff auf Deutschland mit aller Macht zurückzuschlagen. Aber schon in der Zeit des polnisch-russischen Krieges von 1920 wurde gegen das "Joch von Versailles" und die französisch-polnische Amputation und Umklammerung des Reiches die Option eines Eventualbündnisses mit Sowjetrussland drohend ins Feld geführt. 1922 sprach der Ex-Ligaführer Eduard Stadtler bewundernd vom "Sowjetfaschismus", den er dem des gerade zur Macht gekommenen Benito Mussolini an die Seite stellte. Es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass das revolutionäre Russland die deutsche Rechte mindestens ebenso intensiv beschäftigt und fasziniert hat wie die radikale Linke. Als Prototypus könnte der junge Joseph Goebbels dienen, der in seinem expressionistischen Jugendroman "Michael" von 1923 seinem deutschen Protagonisten den dostojewskihaften russischen Revolutionär Iwan zur Seite stellte. Noch 1925 verglich er Hitler als national-sozialistischen Erlöser Deutschlands mit Lenin als dem Retter Russlands.

Der deutsch-russische Nexus

Die Politik der Bolschewiki und der von ihnen gesteuerten Internationale, die in ihrer Agitation das geschlagene Deutschland als "Industriekolonie" der Westmächte beschrieb und von einer Fusion nationaler und sozialer Energien den revolutionären Durchbruch erwartete, kam diesen Stimmungen zumindest verbal entgegen. Nur auf der Grundlage eines zweifachen - deutschen wie sowjetrussischen - Revisionismus gegenüber der Versailler Weltordnung war es möglich, dass vor allem die Reichswehr, aber auch Teile der Industrie (speziell die Rüstungsfirmen) eine konspirative Nebenpolitik mit Sowjetrussland betrieben, die über die Vereinbarungen der Verträge von Rapallo (1922) und Berlin (1926) weit hinausgriff und in Krisensituationen wie der Ruhrbesetzung 1923 Züge eines potenziellen Kriegsbündnisses annahm. In der politischen Alltagspraxis und im Kleingedruckten blieben alle diese grandiosen deutsch-russischen Prospekte der 1920er Jahre freilich immer "potenziell" oder auch virtuell.

Hat der deutsch-russische Nexus in der Zeit von Revolution und Nachkrieg den Weg Hitlers zur Macht geebnet? Wohl eher durch die permanente Frustrierung übersteigerter Erwartungen. Erst diese Erfahrung gab der antibolschewistischen Wendung Hitlers einen Anschein von Realismus - auch wenn diese Agitation sich in der Phase seines Aufstiegs zur Macht fast ausschließlich gegen die KPD als Bürgerkriegspartei und kaum gegen das Sowjetrussland Josef Stalins richtete, der den "jüdischen Bolschewismus" eines Trotzki ja gerade erst auf seine Weise erledigt hatte und sich inmitten der Weltwirtschaftskrise zu einer gepanzerten Großmacht neuen Typs erhob. Weit entfernt, einen "neuen Germanenzug" gen Osten wie in "Mein Kampf" zu empfehlen, nutzte Hitler diesen Machtaufbau seines östlichen Rivalen, um sich den Westmächten als Bollwerk zu empfehlen und so die "Fesseln von Versailles" abzustreifen - nur um 1939 im Zeichen der flugs wieder beschworenen "traditionellen deutsch-russischen Freundschaft" den Weltkrieg zu eröffnen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Gerd Koenen, Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900 - 1945, München 2005.

  2. Vgl. Friedrich Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1915, S. 102 - 112.

  3. Zit. nach: Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918, Düsseldorf 1967 (dritte, vollständig neu bearbeitete Ausgabe), S. 157f.

  4. Brockdorff Rantzau an Bethmann Hollweg, 6.12. 1915, zit. nach: ebd., S. 129f.

  5. Zu Helphand vgl. die bis heute unübertroffene Biographie von Winfried Scharlau/Zbynek B. Zeman, Freibeuter der Revolution. Parvus-Helphand - Eine politische Biographie, Köln 1964.

  6. Lenin, Der Krieg und die russische Sozialdemokratie, in: Lenin, Werke, Bd. 21, S. 19.

  7. Ders., Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Krieg, in: ebd., S. 3f.

  8. Vgl. G. Koenen (Anm. 1), S. 94 - 97, sowie meine Darstellung der beiderseitigen Verflechtungen: Rom oder Moskau. Deutschland, der Westen und die Revolutionierung Russlands (Diss.), Tübingen 2002, S. 253ff; http://w210.ub.uni-tuebingen.de/dbt/voll texte/2003/1020/ (3.10. 2007)

  9. Vgl. ders (Anm. 1), S. 76f. Bis Januar 1918 waren von insgesamt 382 Millionen Reichsmark etwa 40,5 Millionen für die Revolutionierung Russlands aufgewendet worden.

  10. Vgl. ebd., S. 119f.

  11. "Russian social democracy is the offspring of German Marxism. It is essentially un-Russian and largely composed of men of alien race." The Times vom 30.3. 1917, zit. nach: Tania Rose, Aspects of Political Censorship 1914 - 1918, Hull 1995, S. 111.

  12. "Lenin and several of his confederates are adventurers of German-Jewish blood and in German pay." Zit. nach: ebd., S. 112.

  13. Vgl. Egmont Zechlin, Die Deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969.

  14. Vgl. Léon Poliakov, Geschichte des Antisemitismus, Bd. VIII, Frankfurt/M. 1988, S. 77ff., S. 150ff.

  15. Lenin, Die Hauptaufgabe unserer Tage, in: Lenin, Werke, Bd. 27, S. 150.

  16. Ders., Über ,linke` Kinderei und über Kleinbürgerlichkeit, in: ebd., S. 332.

  17. Vgl. neben den Arbeiten von Fischer (Anm. 3) und Scharlau/Zeman (Anm. 5): Werner Hahlweg, Der Diktatfrieden von Brest-Litowsk und die bolschewistische Weltrevolution, Münster 1960; Winfried Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918. Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, München 1966. Auch nach der Öffnung der sowjetischen Archive in den 1990er Jahren hat sich trotz der reichhaltigeren und mit Sicherheit nicht ausgeschöpften Quellenlage niemand an einer präziseren Gesamtdarstellung versucht. Fast alle neueren Arbeiten über das Zusammenspiel von Bolschewiki und deutschen Stellen tragen publizistischen, spekulativen Charakter oder sind Einzelstudien. Am substanziellsten: Gerhard Schiesser/Jochen Trauptmann, Russisch Roulette. Das deutsche Geld und die Oktoberrevolution, Berlin 1998.

  18. Vgl. Gerd Koenen, Blick nach Osten. Versuch einer Gesamt-Bibliographie der deutschsprachigen Literatur über Russland und den Bolschewismus 1917 - 1924, in: ders./Lew Kopelew (Hrsg.), Deutschland und die russische Revolution 1917 - 1924, München 1998, S. 827 - 916.

  19. Thomas Mann, Russische Dichtergalerie, in: ders., Aufsätze-Reden-Essays, Bd. 3, 1919 - 1925, Berlin (Ost) 1986, S. 284.

  20. Vgl. Gerd Koenen, Bilder mythischer Meister. Zur Aufnahme der russischen Literatur in Deutschland nach Weltkrieg und Revolution, in: ders./L. Kopelew (Anm. 18), S. 763 - 789, sowie das Kap. "Eine deutsche Dostojewtschina", in: ders. (Anm. 1), S. 348 - 371.

  21. Vgl. Arthur Moeller van den Bruck, Die politischen Voraussetzungen der Dostojewskischen Ideen. Vorwort zu F.M Dostojewski, Politische Schriften, München 1917, S. XVIII.

  22. Exemplarisch für diese Argumentationsfigur die Auslassungen des deutschen Herausgebers der "Protokolle der Weisen von Zion": vgl. Gottfried zur Beek (Ludwig Müller von Hausen), Die Geheimnisse der Weisen von Zion, Charlottenburg 1920.

  23. Zur Publizistik und Entwicklung Eduard Stadtlers und der deutschen Antibolschwisten vgl. die Kap. "Mussolini manqué" und "Konservative Revolutionäre" in G. Koenen (Anm. 1); Zitat auf S. 330.

  24. Joseph Goebbels, Nationalsozialismus und Bolschewismus, in: Nationalsozialistische Briefe, 15.10. 1925.

  25. Vgl. Manfred Zeidler, Reichswehr und Rote Armee 1920 - 1933. Wege und Stationen einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit, München 1993.

Dr. phil., geb. 1944; Historiker, Publizist und Autor, Schweizerstraße 90, 60594 Frankfurt/Main.
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