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Psychologistischer Firlefanz oder Teil innovativer Politik? - Essay | Politische Psychologie | bpb.de

Politische Psychologie Editorial Psychologistischer Firlefanz oder Teil innovativer Politik? - Essay Demokratische Persönlichkeit Macht, Narzissmus und die Sehnsucht nach dem Führer Psychologie der Propaganda Politische Mythen Präventionsansätze gegen Rechtsextremismus

Psychologistischer Firlefanz oder Teil innovativer Politik? - Essay

Micha Hilgers

/ 9 Minuten zu lesen

Politische Psychologie ist weder Eskapismus, noch verspricht sie Erlösung für gesellschaftliche Konflikte, die der politischen Debatte bedürfen. Sie kann aber den Akteuren zu mehr Handlungskompetenz verhelfen.

Einleitung

"Dahaam statt Islam", empfahl sich der FPÖ-Vorsitzende Heinz-Christian Strache. Angesichts der österreichischen Nationalratswahlen 2006 bediente der Mann eine junge Wählerschaft obendrein mit flotten Raps ähnlichen Inhalts. Der knappe Komparativ zwischen einem Wohnort und einer Religionsgemeinschaft ist dabei ebenso bescheuert wie genial: Irrwitzig ist es zweifellos, eine Örtlichkeit, allenfalls eine ideelle Verortung mit einer Religion abzugleichen. Und genial ist dieser Vergleich, weil einem dazu erst einmal eine ähnlich bündige und doch differenzierte Antwort einfallen muss, mit der man jenseits von Empörungs- und Betroffenheitsritualen Wähler erreichen könnte. Was Strache tat, mag man demagogisch finden. Eine Strategie erwächst daraus noch nicht.



Erstaunlich ist allerdings das ambivalente Verhältnis von Politikern und manchen Politikwissenschaftlern zu Politischer Psychologie. Die nämlich rangiert noch stets in der Nähe eines verpönten Psychologismus, der Verkürzung alles Politischen auf das Psychologische. Seit Marx Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen behauptete, tut sich nicht nur die Linke mit dem autonomen (politischen) Bewusstsein schwer: Wer rechtsextrem orientiert ist oder kriminell handelt, hat dafür Gründe, und die haben allemal in den sozialen Verhältnissen zu liegen. So gesehen hätte man die Wahl zwischen Sozialromantik oder Psychologismus. Aber was ist mit Trends, die nur bedingt und zum Teil aus politischen und sozialen Verhältnissen entstehen?

Wo unerklärliche Taten von Amokläufern oder pädophilen Sadisten die Öffentlichkeit aufrütteln und politische Repräsentanten keine Antworten zu geben wissen, muss flugs die Psychologie herhalten: wegschließen, und zwar für immer, oder doch oder auch parallel eine Therapie für psychisch kranke Straftäter? Jede Menge Psychologen an die Schulen, um Amokläufe zu verhindern, wo sonst Jugendämter und soziale Dienste unter Sparmaßnahmen stöhnen? Psychologie als Bedarfsmedizin für die aufgeregte Öffentlichkeit, als Aspirin für Politik und Gesellschaft, wenn es mit den herkömmlichen Erklärungskoordinaten nicht klappt?

Dann wird Psychologie - ob kollektiv als Politische Psychologie oder als Individualpsychologie - zur Entsorgungsmaßnahme, wenn es bei Randgruppen knirscht, zum Sammelcontainer für ungeklärte Fragen und Ohnmachtserlebnisse vor allem für jene Gruppen, die von der Politik kalt erwischt werden, aber heiß mit ihrer individuellen Aggression reagieren.

Die Skepsis gegenüber einer Wissenschaft, die sich des kollektiven Innenlebens und des Agierens von Politikern annimmt, ist verbreitet: Politiker sind es gewohnt, die Verhältnisse zu verändern (oder sich wenigstens diesen Anschein zu geben), nicht aber Innenschau zu halten. Von Helmut Schmidt über Helmut Kohl bis Gerhard Schröder zieht sich eine zynische Abwehr der Spitzenpolitik gegenüber Emotionalität und Visionen - und eine Lähmung der Politik gegenüber Reformen. Politikverdruss oder Politikerüberdruss beginnt, wo sich Politik von Konzepten und Visionen verabschiedet und auf die Vermittlung von Wir-Gefühlen verzichtet, die man damit Extremisten überlässt.

Politik ohne Emotionen funktioniert nicht. Politik mit Affekten ist gefährlich. Es besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied zwischen bewussten, verbalisierbaren und damit der Debatte zugänglichen Gefühlen (Emotionen) und Affekten, die weitgehend ohne bewusste Inhalte arbeiten oder sie erst nach sich ziehen: "Bombenholocaust" oder "Dahaam statt Islam" sind Affektbotschaften, "Mehr Demokratie wagen" (Willy Brandt) ist eine politische Aussage mit einer emotionalen Unterlegung. Im Gegensatz zur viel beklagten Unterschiedslosigkeit des gegenwärtigen Politikbetriebes, bei dem sich eine stets größer werdende Zahl von Politikern um eine wie die Polkappen kontinuierlich schrumpfende Mitte drängeln, setzte die erste sozialliberale Koalition mit der Regierung Brandt/Scheel auf politische Aussagen mit Dissenscharakter: Aufbruchstimmung entstand, wo neue Politikansätze, die sich deutlich von der damaligen Mitte unterschieden, konsistent vorgetragen und mit emotionaler Authentizität durch ihre Repräsentanten vertreten wurden.

Wo Minderheiten konsequent, in sich konsistent und über einen längeren Zeitraum Inhalte vortragen, beeinflussen sie Mehrheiten in Richtung auf ihre Botschaften. Das zeigen die Ergebnisse der Sozialpsychologie, die sich mit Innovation befasst. Es ist nicht bekannt, ob die Akteure der Brandt/Scheel-Koalition um diese Gesetzmäßigkeiten wussten. Jedenfalls nutzten sie die Möglichkeit, eine Mehrheit nach und nach von ihren Inhalten zu überzeugen, und zwar mit dem expliziten Einsatz von Visionen, die nie ohne emotionale Unterlegungen auskommen. Es verdient Beachtung, dass seinerzeit ein Riss durch die alte Bundesrepublik ging, also keineswegs eine Politik der ruhigen Hand um eine imaginäre Mitte betrieben wurde.

Politische Psychologie beschäftigt sich mit dem Zusammenspiel von subjektiven Orientierungen, Motivationen, Handlungsbereitschaften und gesellschaftlichen Herrschafts- und Machtverhältnissen. Diese Interaktion zwischen Subjekten (oder Gruppen) findet innerhalb gesellschaftlicher Gruppen oder/und zwischen ihnen statt. Die Definition ist so weit gefasst, dass nahezu jeder Bereich gesellschaftlicher Prozesse auch zum Forschungsgegenstand Politischer Psychologie werden könnte. Tatsächlich befasst sich Politische Psychologie mit so unterschiedlichen Themen wie Umweltbewusstsein und -handeln, politischer Sozialisation, Sozialisationstypen, Gewaltphänomenen, Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, Terrorismus, Führung, Autorität, kollektiven Identitäten, Großgruppen und ihren inneren wie äußeren Konflikten, Friedens- und Konfliktforschung, Mediation, Medien, Kampagnen und Propaganda, Reformen und den damit verbundenen Widerständen, politischem Widerstand, Coaching von Verbänden, NGOs oder Parteien und einzelner ihrer Repräsentanten, Folgen von Arbeitslosigkeit und Desintegration, politischer Kommunikation und Partizipation.

Diese Themenfülle mag auch einen Teil der Vorbehalte begründen: Politische Psychologie ist eine Wissenschaft, die dem Berufspolitiker seine ureigene Kompetenz streitig macht. Denn anders als in Wirtschafts- oder Sicherheitsfragen, bei der Außen- oder der Gesundheitspolitik mischt sich Politische Psychologie in das Handwerkszeug des Politikers ein und bleibt nicht bei der Untersuchung von Sachfragen stehen. Wenn Führung, Kommunikation und mediales Auftreten zum Gegenstand der Untersuchung werden, ist es nicht mehr die Politik des Politikers, sondern seine Person, die zur Debatte steht.

Bei einem Scheitern politischer Projekte und Vorhaben geraten ihre Protagonisten ohnehin in den Fokus der Aufmerksamkeit. Mit grimmiger Ironie gilt: Je weniger politische Inhalte, die Parteien voneinander unterscheiden könnten, kommuniziert werden, desto mehr konzentriert sich öffentliche Aufmerksamkeit auf die Personen, die mangels Inhalten zur Selbstdarstellung greifen müssen. Die dabei zum Tragen kommende psychologische Seite der Politik ist notwendigerweise unpolitisch, weil die Personen als solche nicht von politischem Interesse sind oder sein sollten, sondern ihre Botschaften. Besteht die Botschaft nur aus egomaner Medienperformance, geraten verbleibende politische Inhalte in Gefahr, von vorneherein entwertet und ihre Vertreter als Laienschauspieler lächerlich gemacht zu werden (da sie sich selbst weniger als ihre Inhalte darstellen).

Ich umreiße nur zwei Beispiele für den Anwendungsbereich Politischer Psychologie. Als Umweltpolitiker und Verkehrswissenschaftler zu Beginn der 1990er Jahre eine Wende in der Mobilitätspolitik probten und vor allem auf das Umdenken der Bevölkerung setzten, sah man sich alsbald mit massiven Widerständen jener konfrontiert, die gerade noch unter Verkehrslärm und unwirtlichen Innenstädten stöhnten. Einstellungen und Verhalten sind zwei sehr verschiedene Dinge: Wer weniger Verkehrsbelastung wünscht, steigt deshalb noch lange nicht auf öffentliche Verkehrsmittel um. Und wer in einem verkehrsberuhigten Viertel sein Straßencafé nutzen möchte, akzeptiert noch lange kein Anwohnerparken. Grundlegende Ansätze der politischen Kommunikation wurden bei der Akzeptanz von Mobilitätspolitik vernachlässigt. Häufig entwarfen Stadtplaner ihre Vorstellungen im Verborgenen, bezogen betroffene Bürger nicht von Anfang an mit ein, vernachlässigten die Suche nach Verbündeten und Profiteuren ihrer angestrebten Politik oder ließen es zu, dass der Widerstand so stark wurde, dass er sich in öffentlichen Veranstaltungen artikulierte, wo sprachgewaltige Meinungsführer dominieren konnten. Unter Vernachlässigung bereits damals publizierter Studien über erfolgreiche Verkehrsumgestaltung scheiterten zahlreiche ehrgeizige Projekte. Ähnlich resistent zeigten sich öffentliche Verkehrsbetriebe gegenüber Strategien zur Attraktivierung ihrer Angebote. Ressentiments gegenüber der Einbeziehung psychologischer Strategien und Erkenntnisse lassen den Eindruck entstehen, Reformprojekte scheiterten grundsätzlich am Widerstand der Bevölkerung. Doch in der Brandt-Scheel-Ära war es gerade die öffentliche Debatte eines fundamentalen Dissenses, die den politischen Stillstand beendete.

Bereits seit geraumer Zeit halten rechtsextreme Abgeordnete Einzug in Kommunalparlamente und Landtage. Ähnlich wie in Österreich werden ihre medialen Auftritte und öffentlichen Provokationen professioneller, bedienen vorhandene Ressentiments in der Bevölkerung oder greifen zu gezielten Provokationen, die Scham- und Schuldgefühle, Betroffenheit und ohnmächtige Wut bei ihren Adressaten auslösen sollen. Auszüge der demokratischen Parteien nach "Bombenholocaustäußerungen" geraten zum Marionettentheater, weil demokratische Kräfte jederzeit manipulierbar sind und rechtsextreme Abgeordnete demnach bestimmen können, wann sich der Plenarsaal zu leeren hat. Betroffenheitsrituale und Empörungsfolklore verbieten sich schon deshalb, weil man auf diese Weise weder die rechtsextremen Protagonisten noch ihre potenziellen, noch ambivalenten Sympathisanten zu erreichen vermag. Den harten Kern Rechtsextremer mit geschlossenem totalitärem Weltbild wird man ohnehin nicht beeinflussen können (außer durch rechtsstaatliche Möglichkeiten von Polizei und Staatsanwaltschaft). An Stelle reflexhafter Selbstdarstellung eigener political correctness tritt die argumentative Auseinandersetzung mit rechtsextremer Polemik - jenseits von Affekten, aber unter Einsatz und Nutzung von Emotionen. Dies bedeutet, dass man sozusagen auf den Zehenspitzen über die (unerreichbaren) Köpfe der Protagonisten hinweg mit ihren noch beeinflussbaren Sympathisanten kommuniziert. Die dabei verwendeten Botschaften dürfen niemals potentielle Sympathisanten beschämen, sondern müssen den von rechtsextremen Parlamentariern vorgetragenen Ressentiments - die von jenen eventuell geteilt werden - mit nüchternen Argumenten und Fakten entgegentreten. Wer potenziell rechtsextreme Wählergruppen beschämt, verstärkt ihre Ressentiments.

Es bleibt jedoch ein grundsätzliches Dilemma bei der Auseinandersetzung. Begegnet man Rechtsextremen mit der notwendigen rechtsstaatlichen Entschlossenheit, werden sie sich larmoyant zurückziehen und als Opfer vermeintlicher staatlicher Willkür stilisieren. Weichen staatliche Autoritäten zurück, wird dies als Ausdruck lächerlicher Schwäche interpretiert und zugleich der angeblich eigene starke Arm als Verlängerung unfähiger, aber letztlich gewollter staatlicher Härte fantasiert.

Politische Psychologie kann solche Dynamiken aufzeigen, häufig Handlungskompetenz liefern, gelegentlich aber auch nur einen Beitrag zur Klärung unvermeidlicher Konflikte leisten. Gesellschaftliche Widersprüche, Interessenkonflikte oder Ungerechtigkeiten, seien sie subjektiv empfunden oder intersubjektiv geteilt, kann Politische Psychologie allenfalls erhellen und zu ihrer Bearbeitung beitragen - bei Strafe der Hybris, die sich letztlich immer als unpolitisch erweist. Doch als Erlösungsstrategie von unerledigten politischen Reformvorhaben, Harmonisierung gesellschaftlicher Interessen- und Wertekonflikte oder als Entsorgungscontainer für beunruhigende Randgruppensymptome eignet sie sich nicht - solange sie nicht zum Psychologismus verkümmert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Weitere Kostproben: "Heimat statt Schüssel und Brüssel"; "Sichere Pensionen statt Asyl-Millionen".

  2. Die Ansätze von Serge Moscovici (vgl. z.B. Social influence and social change, London 1976) waren insofern revolutionär, als sie sich nicht mit Konformität (also sozusagen der Mitte) befassten, sondern mit der Frage, wie sich die Mitte eines Kollektivs verändern lässt. Gäbe es keine innovativen Minderheiten, so würden wir - bildlich gesprochen - immer noch auf den Bäumen sitzen und Bananen mümmeln. Von Interesse sind die Beeinflussungsmöglichkeiten durch Minderheiten - seien sie nun emanzipatorisch-aufklärerisch oder reaktionär.

  3. Vgl. Helmut Moser, Politische Psychologie, in: Lexikon der Psychologie, Bd. 3, Heidelberg-Berlin 2001, S. 273 - 275.

  4. Vgl. z.B. Micha Hilgers, Ozonloch und Saumagen. Motivationsfragen der Umweltpolitik, Stuttgart 1997; Andreas Ernst/Joachim Schahn/Thomas Giesinger, Psychologie für den Umweltschutz, Weinheim 1993; Andreas Ernst, Ökologisch-soziale Dilemmata. Psychologische Wirkmechanismen des Umweltverhaltens, Weinheim 1997.

  5. Vgl. z.B. Christopher Lasch, Das Zeitalter des Narzissmus, München 1982.

  6. Vgl. z.B. Friedrich Hacker, Aggression. Die Brutalisierung der modernen Welt, Wien-München-Zürich 1971.

  7. Vgl. z.B. Peter Conzen, Fanatismus. Psychoanalyse eines unheimlichen Phänomens, Stuttgart 2005; Wilhelm Heitmeyer (Hsrg.), Deutsche Zustände. Folge 5, Frankfurt/M. 2007.

  8. Vgl. z.B. Friedrich Hacker, Terror. Mythos, Realität, Analyse, Wien-München-Zürich 1973; Micha Hilgers, Das Ringen der Vernunft mit dem totalitären Gewissen. Die Terroranschläge in den USA als Ausdruck eines durch massive Affekte radikalisierten Über-Ichs, in: Anne-Marie Schlösser/Alf Gerlach (Hrsg.), Gewalt und Zivilisation, Gießen 2002, S. 213 - 225.

  9. Vgl. z.B. Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M. 1973; Otto F. Kernberg, Ideologie, Konflikt und Führung. Psychoanalyse von Gruppenprozessen und Persönlichkeitsstruktur, Stuttgart 2000.

  10. Vgl. z.B. Vamik D. Volkan, Das Versagen der Diplomatie. Zur Psychoanalyse nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte, Gießen 1999.

  11. Vgl. z.B. Horst-Eberhard Richter, Zur Psychologie des Friedens, Reinbek 1984.

  12. Vgl. z.B. Micha Hilgers, Scham - die verborgene Dimension in Supervision und Beratung, in: Forum Supervision, (2006) 28, S. 51 - 64.

  13. Vgl. Micha Hilgers, Zur Psychologie der Verkehrsmittelwahl, in: Dieter Apel u.a. (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Verkehrsplanung, Bonn 1994(6); ders. (Anm. 4).

  14. Vgl. ders., Wir-Gefühle gegen Rechts. Es reicht nicht, sich über rechte Parlamentarier aufzuregen. Deren affektive Botschaften müssen zerpflückt und widerlegt werden, um ihre möglichen Wähler zu erreichen, in: die tageszeitung vom 24.2. 2005.

Dipl. Psych., geb. 1954; selbständiger Psychoanalytiker und Publizist, Gruppenanalytiker, Organisationsberater und Supervisor, Oppenhoffallee 7, 52066 Aachen.
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