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Demokratie und Diktatur | Gemeinsame Nachkriegsgeschichte? | bpb.de

Gemeinsame Nachkriegsgeschichte? Editorial Demokratie und Diktatur Integrale deutsche Nachkriegsgeschichte Für eine pragmatische Zeitgeschichtsforschung Historisierung der Zweistaatlichkeit Deutsche Geschichtsbilder vom Nationalsozialismus Innerdeutscher Handel als Wegbereiter der Entspannungspolitik Deutsche Generationen nach 1945

Demokratie und Diktatur

Horst Möller

/ 12 Minuten zu lesen

Für eine integrierte deutsche Nachkriegsgeschichte sind eine Auswahl der phasenbeschränkten Themen und die Wertentscheidung angesichts des Gegensatzes von Demokratie und Diktatur unverzichtbar.

Einleitung

Ist es möglich, trotz der fundamentalen Gegensätzlichkeit von Demokratie und Diktatur, trotz der Zugehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zu gegensätzlichen und potenziell feindseligen politischen und militärischen Blöcken, eine integrierte gesamtdeutsche Nachkriegsgeschichte zu schreiben? Anders gefragt: War die Geschichte der DDR nicht in gleichem Maße deutsche Geschichte wie die der alten Bundesrepublik? Spielten die Analogien zwischen den Staaten der Europäischen Union und der NATO einerseits sowie des COMECON und des Warschauer Pakts andererseits eine größere Rolle als die deutsch-deutschen Gemeinsamkeiten? Und schließlich: Wie abhängig war die DDR von der Sowjetunion, wie groß ihre Autonomie gegenüber der imperialen Hegemonialmacht des Ostblocks?



In der Historiographie herrschte lange der Eindruck vor, die Geschichte der Bundesrepublik sei Teil der Geschichte Westeuropas, die der DDR sei ein Forschungsfeld für Osteuropa- oder für Kommunismushistoriker. Zwar wurde die Besatzungszeit bis 1949 noch gemeinsam behandelt, zwar wurden die internationalen Beziehungen und vor allem die Sicherheitspolitik noch unter Einbeziehung beider deutscher Nachkriegsstaaten dargestellt, doch schon die fünfziger Jahre wurden bis zu Ernst Deuerleins Buch "Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 - 1955" (1963/1964) normalerweise getrennt für beide Staaten abgehandelt. Erst Thilo Vogelsangs Band in der vom Institut für Zeitgeschichte publizierten dtv-Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts widmete sich unter dem Titel "Das geteilte Deutschland" konsequent beiden deutschen Staaten, in der 1. Auflage 1966 bis zu den sechziger Jahren, in der 9. und letzten zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Auflage 1978 bis einschließlich der siebziger Jahre.

Seitdem sind eine Reihe von Autoren diesem Beispiel gefolgt, beispielsweise Adolf M. Birke, am stärksten, aber ungleichgewichtig Christoph Kleßmann, sowie Peter Graf Kielmansegg. Doch sind die Mehrzahl der einschlägigen Veröffentlichungen nach wie vor entweder der Bundesrepublik oder der DDR gewidmet, was sich nicht allein aus der Spezialisierung der Forschung erklärt, sondern aus der Differenz der west- und der ostdeutschen Entwicklung, die einer gemeinsamen Untersuchung auch scheinbar analoger Themen widerstrebt. Anders als Konrad Jarausch in seinem lesenswerten Aufsatz "Die Teile als Ganzes erkennen. Zur Integration der beiden deutschen Nachkriegsgeschichten" glaube ich nicht, dass dieser Tatbestand auch auf eine "Unbeweglichkeit der Wissenschaft" zurückgeht, sondern sehe die fundamentale Gegensätzlichkeit beider politischer Systeme und die Integration in konträre Blöcke als entscheidend an.

Auch identische Begriffe, etwa die Termini "demokratisch", "Wahlen", "Partei", zeigen das plastisch: Am unaufhebbaren Gegensatz von Demokratie und Diktatur ändert auch die Tatsache nichts, dass sich unter beiden Phänomenen unterschiedliche Herrschaftstypen subsumieren lassen. Jede Verwischung dieser fundamentalen Dichotomie, jedes Spielen mit Begriffen verkennt, dass die Entscheidung für die Demokratie die Entscheidung für eine Wertordnung ist und es in Diktaturen zwar Nischen gibt, aber prinzipiell keinen Sektor, der vom politischen System Autonomie beanspruchen dürfte, wenn die Herrschenden sie nicht selbst - aus welchen Gründen auch immer - zulassen. In einer Demokratie ist die Opposition legal, in ihr gibt es keinen legitimen Widerstand, in der Diktatur ist Opposition illegal und folglich ist Widerstand legitim.

Gemeinsame Wurzeln

"Eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die Bundesregierung kann nicht in Betracht kommen. Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein." Dieser Satz in der ersten Regierungserklärung von Willy Brandt als Bundeskanzler am 28. Oktober 1969 charakterisiert treffend das Paradoxon, mit dem wir es zu tun haben: So gegensätzlich beide Staaten und Gesellschaftsordnungen waren, so sehr sie in feindliche Blöcke integriert waren und nur als deren Teil zu analysieren sind, so zweifelsfrei bleibt doch: Beide sind Teil der deutschen Geschichte, und selbst in ihrer Gegensätzlichkeit waren sie aufeinander bezogen. Für die Bundesrepublik galt bis 1989 das für alle Verfassungsorgane verpflichtende Gebot der Wiedervereinigung Deutschlands, sie verstand sich selbst zumindest staatsrechtlich und lange Zeit auch faktisch als Provisorium. Der Titel des bedeutenden Werks von Andreas Wirsching "Abschied vom Provisorium" trifft denn auch für die Jahre 1989/90 den Kern. Aber auch die frühe Magnettheorie, der Konrad Adenauer und Kurt Schumacher gleichermaßen anhingen - die Bundesrepublik müsse so attraktiv werden, dass die DDR gar nicht anders könne, als sich ihr anzuschließen -, zeigt diese Bezüglichkeit beider Staaten.

Auch die DDR hielt anfangs am Ziel der Wiedervereinigung fest, wenngleich unter kommunistischer Herrschaft, lange rang sie auch mit dem Begriff der Nation, bevor sie zur Definition einer "sozialistischen" Nation gelangte. Wie immer man diese Diskussionen im Einzelnen bewertet, die gemeinsamen historischen Voraussetzungen einer tausendjährigen Geschichte, die sich im Begriff der Nation spiegeln - Herkunft, Sprache, christliche Konfession, daraus resultierende gemeinsame Kultur -, wurden durch die Teilung Deutschlands nicht außer Kraft gesetzt: Die Suspendierung der "Staatsnation" bedeutete nicht die Beseitigung der Kulturnation. In der Betonung dieses Zusammenhangs sehe ich weder eine "Renationalisierung" der deutschen Geschichte noch eine Rückkehr zu einer seit einiger Zeit als nationale "Meistererzählung" bezeichneten Historiographie. So modisch dieser Begriff ist, so wenig sagt er aus. Ich verstehe auch die Berührungsängste mit dem Begriff national in diesem Zusammenhang nicht, denn was heißt integrierte deutsche Nachkriegsgeschichte anderes, als einen gemeinsamen nationalen Bezugspunkt zu wählen? Die hier erkennbaren Reflexe wären ein anderes Thema. Ohnehin bedeutet "Nationalstaat" unter den Bedingungen einer zugunsten der europäischen Integration reduzierten nationalen Souveränität etwas anderes als vorher.

Schließlich definierte sich die DDR als "bessere" Alternative der deutschen Geschichte und entwickelte eine eigene Traditionspflege, die durch das marxistische Geschichtsbild geprägt wurde: Zu dieser sozialistischen Ahnenpflege gehörten die so genannte frühbürgerliche Revolution, die materialistische Minorität innerhalb der Aufklärung, Karl Marx und Friedrich Engels, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, schließlich die KPD in der Weimarer Republik und vor allem der kommunistische Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur. Mit gewissem Recht konnten diese Entwicklungslinien betont und damit die DDR aus dem Odium befreit werden, sie sei lediglich ein sowjetisches Besatzungsregime. Solche Traditionsbildung bezog zentrale Sektoren der Kultur ein: So wurde die deutsche Klassik und ihr Humanitätsideal in den "Nationalen Gedenkstätten der deutschen Literatur" in Weimar gleichsam zur ideellen Vorgeschichte der DDR verklärt. Mit anderen Worten: Die DDR sah sich selbst als eine der möglichen Konsequenzen der deutschen Geschichte, genauer: als deren fortschrittliche und zukunftsorientierte Alternative. Dieses Selbstverständnis ändert nichts an der Gültigkeit der Interpretation Peter Graf Kielmanseggs, es habe zwei deutsche Staaten gegeben: einen zukunftsfähigen, die Bundesrepublik, und einen ohne Zukunft, die DDR.

Für die Bundesrepublik lassen sich ähnliche Rekurse auf die Klassik und andere ideen- und kulturgeschichtliche Voraussetzungen feststellen. Indem sie sich auf liberale Verfassungs- und Rechtstraditionen der deutschen Geschichte vor 1933, auf die Revolution von 1848/49, auf die Weimarer Verfassung, auf parlamentarische und parteipolitische Vorläufer und ebenfalls auf den Widerstand gegen Hitler - vor allem den christlichen sowie den militärischen Widerstand, auch den demokratischer Politiker - bezog, definierte sich ihre neue politische Ethik ebenfalls im Rekurs auf Tendenzen der Geschichte. Neben diese positive Konnotation trat eine negative - die Abgrenzung: Der antitotalitäre Grundkonsens aller demokratischer Parteien richtete sich nicht allein gegen die totalitären Diktaturen des Nationalsozialismus und des Bolschewismus, sondern auch gegen die DDR-Diktatur. Auch hier findet sich eine direkte Bezüglichkeit. Beide denkbar gegensätzlichen Staaten bildeten also füreinander das Gegen- und Schreckbild und begründeten dies unter anderem historisch im Rekurs auf die gemeinsame deutsche Geschichte, wobei das Verhältnis zur nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands eine zentrale Rolle spielte.

Während die DDR jegliche Verantwortung für das NS-Regime von sich wies und die Bundesrepublik immer wieder des Neonazismus und Militarismus bezichtigte, sah sich die Bundesrepublik in der gesamtstaatlichen Verantwortung für dieses negative Erbe und zahlte im Unterschied zur DDR Entschädigungszahlungen in großer Höhe, bis zur Wiedervereinigung mit den bis dahin eingegangenen weiteren Verpflichtungen etwa 130 Milliarden DM. Die DDR verstand sich als antifaschistisch nicht nur in dem Sinne, in dem die Bundesrepublik dies auch tat, sondern bezichtigte die Bundesrepublik faschistischer Tendenzen. Die DDR bestand buchstäblich aus lauter Antifaschisten und nahm für sich in Anspruch, die Linien des - kommunistischen - Widerstands gegen Hitler zu verlängern. Jurek Becker hat einmal gespottet: Es gab während des NS-Regimes 10 000 Widerstandskämpfer, und zwei Millionen davon lebten später in der DDR.

Wie andere Autoren auch meine ich, dass der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und die katastrophale Niederlage des deutschen Nationalstaats in seiner nationalsozialistischen Variante als gemeinsamer Ausgangspunkt für Ost und West konstitutiv war: Deshalb war dieser historische Bezug für die Nachkriegspolitik und die deutsche Erinnerungskultur, aus der heraus sich eine Nation ebenfalls konstituiert, entscheidend. Doch setzt hier wie sonst eine integrierte Geschichte voraus, eine hinreichende Kenntnis der jeweiligen Entwicklung zu haben. Diese ist aber noch längst nicht erreicht, wie allein schon ein Blick auf die vielberufene "Vergangenheitsbewältigung" zeigt: Hier hat man sich viel zu lange mit Stereotypen begnügt, die den eigenen politischen Prämissen entsprachen. Wie wir aber aus jüngsten Veröffentlichungen über die DDR sehen, hat sie diese "Vergangenheitsbewältigung" in einer Weise politisch instrumentalisiert, dass es kaum möglich ist, ihre Abrechnung mit dem Nationalsozialismus als Erfolgsgeschichte zu bezeichnen, die einer vermeintlichen bis in die 1960er Jahre dauernden Verdrängung im Westen gegenüberzustellen wäre.

Ein Projekt, welches das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin gemeinsam mit dem Archiv von Yad Vashem durchführt, erbrachte allein für unseren ersten Bearbeitungsteil der alten Bundesrepublik 37 000 Ermittlungsverfahren gegen ca. 165 000 Personen in den Jahren 1949 bis 1989. Dass der prozentuale Anteil der tatsächlich durchgeführten Strafverfahren im Verhältnis zu den Ermittlungsverfahren in der DDR größer war, lag an den Voraussetzungen einer politischen und nicht rechtsstaatlichen Justiz. Trotz dieser vorläufigen Einschätzung wird man die Sammlung der einschlägigen DDR-Akten und ihre Auswertung, an denen wir derzeit arbeiten, abwarten müssen.

Grundsätzlich aber zeigt sich hier: Eine gelungene "asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte", wie Konrad Jarausch und Christoph Kleßmann das nennen, setzt weiterhin die separate Erforschung der Teile voraus, bevor sie aufeinander bezogen werden können. Und da handelt es sich durchaus um Phänomene, die mit diesem Begriff zu charakterisieren sind, immer wieder aber auch um solche, die mit dem Begriff Parallelgeschichte kaum zu fassen sind, weil entgegengesetzte Wege eingeschlagen wurden, für die in manchen Bereichen eher die Begriffe Dualismus oder Dialektik treffend sind - Teilgeschichten, die aber oftmals auch völlig unverbunden waren.

Vergleichbares und Unvergleichbares

Indem ich die gemeinsamen historischen Wurzeln beider aus der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland und der Besatzungspolitik hervorgegangenen deutschen Staaten in Erinnerung gerufen habe, wird nicht allein diese grundlegende historische Konfiguration deutlich, die das Fundament einer integrierten deutschen Nachkriegsgeschichte bildet. Vielmehr wird auch die Tatsache evoziert, dass beide Staaten konstitutiver Teil des Kalten Krieges waren, also im internationalen Kontext wiederum in Bezug aufeinander definiert wurden. Schon bei diesen Überlegungen kommt es zwangsläufig zum Vergleich der Voraussetzungen, der Entwicklung, aber auch einzelner Politikfelder. Hierin liegt nun eine der großen Herausforderungeneiner integrierten Nachkriegsgeschichte Deutschlands, weil nicht analoge Systeme, sondern gegensätzliche Systeme verglichen werden.

Die in den 1960er Jahren unter anderem unter der Ägide von Peter Christian Ludz entwickelte vergleichende Deutschlandforschung kann trotz mancher Verdienste kaum Vorbild sein, hat sie doch sowohl methodisch als auch in den Schlussfolgerungen in die Irre geführt. Methodisch unter anderem deswegen, weil der intendierte "wertneutrale" Systemvergleich von Demokratie und Diktatur aufgrund der fundamentalen Gegensätzlichkeit kaum möglich ist, sondern die Einzelsektoren immer auf den Stellenwert im - diktatorischen - Gesamtsystem bezogen werden müssen. Wertneutral kann über Diktaturen nicht geredet werden, will man eine Relativierung ihrer Verbrechen vermeiden. In Bezug auf die Schlussfolgerungen bedeutete das systemimmanente Verfahren, dass die Analyse selbstreferentiell bleibt. Ein "Ergebnis" war die groteske Fehleinschätzung der vermeintlichen Wirtschaftskraft der DDR durch die "Experten" als zehntstärkster Wirtschaftsmacht der Welt, zu einem Zeitpunkt, als sie bereits bankrott war.

Gleichwohl kann auf das komparatistische Verfahren nicht verzichtet werden, will man eine integrierte gesamtdeutsche Nachkriegsgeschichte entwickeln. Es kommt also auf das Wie an, es kommt darauf an, sich nicht in den erwähnten Fallstricken zu verfangen. Die grundsätzliche Frage lautet: Gibt es Sektoren in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur der DDR, die sinnvoll verglichen werden können, ohne dass die sektorielle Isolation vom Gesamtsystem zu irreführenden Ergebnissen führt? Anders gewendet: Ein Vergleich ist ohne weiteres möglich, wenn es sich um Sektoren handelt, die nicht systemspezifisch sind. Ein Vergleich von systembedingten Sektoren, denen eine zumindest relative Autonomie gegenüber der Staatsideologie und den Parteidirektiven fehlt, kann sinnvoll sein, wenn der jeweilige Kontext berücksichtigt wird.

Um einige Beispiele zu nennen: Es existierten zweifellos Generationserfahrungen der unmittelbaren Nachkriegszeit - zum Beispiel der Zweite Weltkrieg -, die Ost und West gemeinsam waren, dann aber in gegensätzlichen Systemen verarbeitet wurden. Sie zu vergleichen ist durchaus aufschlussreich. Ob dann die Rock- und Jeanswelle in Ost und West wirklich zwei Formen der vielberufenen Westernisierung und damit einer gemeinsamen Generationserfahrung waren, halte ich für zweifelhaft. Vielmehr scheinen mir etwa Fragen aufschlussreich, warum es in der DDR nicht wie in der CSSR zu einer dem Prager Frühling analogen Erscheinung kommen konnte und warum die 1968er-Bewegung des Westens so gar keine nachhaltige Wirkung auf die ostdeutsche Jugend hatte.

In Bezug auf den Arbeitsmarkt kann man zwar einzelne Bereiche vergleichen, beispielsweise die Frauenarbeit, meines Erachtens kaum aber sinnvoll das Problem der Arbeitslosigkeit. Die Gesundheitspolitik kann eher verglichen werden als die Wissenschaftspolitik, jedenfalls soweit sie primär ideologiegeleitet war. Die gezielte Entwicklung einer ökonomieorientierten Wissensgesellschaft wiederum könnte ein lohnender Vergleich sein. Bestimmte Felder der Familienpolitik oder Sozialpolitik bieten sich ebenso an wie die Frage, welche Konsequenzen der Ausbau des Sozialstaats für das gesamte ökonomische System gehabt hat. Zu fragen ist, wie sich innerhalb der gegensätzlichen Systeme Reformen entwickelten bzw. wie auf Herausforderungen reagiert wurde, die staatliche Reformaktivität erforderten. Schließlich stellt sich die Frage, wie die Energieversorgung in bestimmten Krisensituationen, beispielsweise nach dem Ölschock, sichergestellt wurde, und ob bzw. wie Umweltpolitik betrieben wurde. Sinnlos wäre dagegen ein Vergleich der Parteientwicklung oder des Parteiensystems, ebenso sinnlos auch eine von Bundestag und Volkskammer, weil hier keinerlei Systemanalogie existiert, die bei allen Unterschieden einen Vergleich doch fruchtbar machen könnte.

Ein spezifisches Feld des Vergleichs sind Sektoren, in denen eine mehr oder weniger enge Verquickung von Ost und West dauerhaft oder zumindest zeitweilig bestand: Sie existierte etwa infolge der partiellen Offenheit der deutsch-deutschen Grenze in Berlin vor dem Mauerbau 1961, aber auch in spezifischen ökonomischen Bereichen wie dem Interzonenhandel bzw. durch die informelle Beteiligung der DDR an der EWG bzw. der EG gemäß den Römischen Verträgen von 1957. Da beide Staaten Deutschlandpolitik betrieben und Außenpolitik ein Teil der Deutschlandpolitik war, bieten sich hier erhebliche komparative Möglichkeiten. Dies gilt auch für die Aufnahme beider Staaten in die UNO 1973 und deren Konsequenzen. In diesem Sektor der Außenpolitik sind eine Reihe von zeitlich begrenzten Faktoren mit durchgängigen Linien verbunden, die zu Phasendifferenzen führen, die eines gemeinsam haben: Die Bezüglichkeit beider Staaten aufeinander. Das gilt für die Vorphase, für die selbstverständlich die Besatzungspolitik verglichen werden kann, das gilt für die Phase des Anerkennungsstrebens der DDR auf der einen sowie der Nichtanerkennungspolitik der Bundesrepublik gemäß der Hallstein-Doktrin auf der anderen Seite. Schließlich gehören die differente Politik beider Staaten beispielsweise in der Dritten Welt oder das Agieren innerhalb des jeweils eigenen Blocks zu den interessanten Untersuchungsfeldern einer bei aller Gegensätzlichkeit doch wieder aufeinander bezogenen deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte.

Auch die letzte Phase dieser Geschichte, der Zusammenbruch der DDR, der zwar zuvörderst im spezifischen Kontext des zerbröselnden Machtblocks der Sowjetunion gesehen werden muss, besaß eine gesamtdeutsche Dimension: Dieser Prozess muss zugleich den internationalen Kontext und die Dimension der deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte berücksichtigen.

Auch in der Mentalitätsgeschichte der Nation sind vergleichende Untersuchungen sinnvoll: In welcher Weise, in welchen Formen, in welchem Ausmaß vollzog sich eine Entfremdung zwischen West- und Ostdeutschen, in welchem Maße blieben gemeinsame Wertvorstellungen und gesellschaftliche Maxime erhalten, wie wirkte sich der Generationswechsel aus? Wie trug die durch Rundfunk und Fernsehen gebildete west-östliche Kommunikationsgemeinschaft zur gesamtdeutschen Dimension bei, wie wirkten sich Verwandtschaftsbeziehungen aus, wie die Tatsache der Massenflucht aus der DDR, die immerhin dazu führte, dass viele Millionen Menschen wenigstens zeitweilig einen gesamtdeutschen Erfahrungshintergrund behielten?

Mehrfach wurde deutlich, dass die Übergänge fließend sind und auch die komparativen Ansätze und die Bezüglichkeit beider Staaten in den dritten Bereich, den der Beziehungsgeschichte, übergehen. Sie ist nicht allein auf der Ebene deutsch-deutscher Verhandlungen, beispielsweise seit den 1970er Jahren, oder der Wirtschaftsbeziehungen zu thematisieren. Vielmehr gehören die Alltagsbeziehungen oder wechselseitigen Perzeptionen zu diesem Themenkomplex. "Was war das national Verbindende in der Epoche der Teilung?" Diese Frage habe ich selbst schon 2000 in einem 2003 veröffentlichten Vortrag gestellt.

Fazit

Eine integrierte deutsche Nachkriegsgeschichte ist aus systematischen Gründen, aufgrund der vielfältigen und komplexen Verflochtenheit der Geschichte der Besatzungszonen und beider deutscher Nachkriegsstaaten, sinnvoll und notwendig. Sie kann sich der Beziehungsgeschichte, der Bezüglichkeit beider Staaten und dem Vergleich widmen. Dafür ist aber eine sorgfältige Auswahl der tatsächlich komparativ zu erfassenden, phasenbeschränkten Themen notwendig, die eine zumindest relative Systemunabhängigkeit besitzen. Die Wertentscheidung angesichts des Gegensatzes von Demokratie und Diktatur ist unverzichtbar.

Daneben bleibt eine jeweils auf die Geschichte der Bundesrepublik bzw. der DDR bezogene Forschung ebenso notwendig, in die der andere Staat perspektivisch einbezogen wird. Ähnliches gilt für die Spezialforschung. Die bisher angebotenen Interpretationsmodelle (Heydemann, Jarausch, Kielmansegg, Kleßmann, Wentker u.a.) halte ich für heuristisch fruchtbar, doch müssen sie sich empirisch bewähren.

Dr. phil., Dr. h.c. mult., geb. 1943; Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Leonrodstraße 46b, 80636 München.
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