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Déjà-vu oder echter Aufbruch? | Äthiopien | bpb.de

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Déjà-vu oder echter Aufbruch? Äthiopien zwei Jahre nach Abiy Ahmeds Amtsantritt

Dominic Johnson

/ 17 Minuten zu lesen

In Äthiopien wurden im vergangenen halben Jahrhundert schon zweimal immense Hoffnungen erst geweckt und dann enttäuscht. Mit Abiy Ahmed soll der Wandel nun gelingen. Doch er ist im Land nicht unumstritten.

Als der äthiopische Ministerpräsident Abiy Ahmed am 10. Dezember 2019 in Oslo den Friedensnobelpreis entgegennahm, leitete er den Schluss seiner Rede mit einem Appell an das eigene Land ein. "Unsere jungen Männer und Frauen rufen nach sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit, sie verlangen Chancengleichheit und ein Ende der organisierten Korruption", erklärte der 43-Jährige. "Sie beharren auf guter Regierungsführung auf der Grundlage von Rechenschaft und Transparenz. Wenn wir unserer Jugend Gerechtigkeit verweigern, werden sie den Frieden zurückweisen. Heute auf dieser Weltbühne möchte ich meine äthiopischen Mitbürger dazu aufrufen, sich die Hände zu reichen und zu helfen, ein Land zu bauen, das gleiches Recht, gleiche Rechte und gleiche Chancen für all seine Bürger bietet. Insbesondere möchte ich betonen, dass wir den Weg des Extremismus und der Spaltung, getrieben von der Politik der Exklusion, vermeiden sollten. (…) Wir müssen das Unkraut des Streits, des Hasses und des Missverständnisses ausjäten und jeden Tag arbeiten, an guten und an schlechten Tagen." Dann schloss er mit Versen aus der Bibel und aus dem Koran.

Geehrt hatte den Äthiopier das Nobelpreiskomitee im Oktober 2019 vor allem wegen seines Friedensschlusses mit Eritrea – im Juni 2018 hatte Abiy nach nur zwei Monaten im Amt die Versöhnung mit dem kleinen Nachbarn und Erzfeind und dessen autokratischem Herrscher Isayas Afewerki eingefädelt und zelebriert. Doch mit Abiy wurde international stellvertretend eine ganze Generation afrikanischer Reformer gefeiert, und für ihn selbst war der Preis eine Bestätigung und Ermutigung zu einem Zeitpunkt, als die Begeisterung im Land über seine Politik längst Ernüchterung gewichen war. Nach wie vor werden von außen immense Hoffnungen auf Abiy Ahmed projiziert. Ob sie berechtigt und erfüllbar sind, werden die Menschen in Äthiopien beurteilen, wenn die nächsten Wahlen stattfinden. Ursprünglich für August 2020 geplant, wurden sie jüngst wegen der Corona-Pandemie auf unbestimmte Zeit verschoben.

In Äthiopien wurden im vergangenen halben Jahrhundert schon zweimal große Hoffnungen auf ein besseres Leben erst geweckt und dann enttäuscht. 1974 fegte der Sturz des äthiopischen Kaiserreiches durch junge marxistische Revolutionäre im Wortsinne den Muff von tausend Jahren hinweg – nur um den Absolutismus des Kaisers durch eine Militärdiktatur zu ersetzen. 1991 fegten neue Guerillagruppen diese Diktatur hinweg – nur um selbst ein militarisiertes und zunehmend autokratisches Regime zu errichten. Nun soll im dritten Anlauf der friedliche Systemwechsel gelingen. Nicht mehr der Realsozialismus wie nach 1974 und auch nicht mehr der chinesische Weg wie nach 1991 sollen Modell stehen, sondern die Kraft und das Erbe der äthiopischen Geschichte selbst.

Meles Zenawi: Enttäuschte Hoffnungen

Als 1991 der Guerillaführer Meles Zenawi im Alter von 36 Jahren Präsident Äthiopiens wurde, waren die Hoffnungen zumindest bei der internationalen Gemeinschaft ähnlich groß wie 27 Jahre später bei Abiy Ahmed. Zuvor hatte die sowjetisch unterstützte Militärdiktatur von Mengistu Haile Mariam, das sogenannte Derg-Regime, Äthiopien durch eine Politik der Kollektivierung und Zwangsumsiedlung in eine der schlimmsten Hungersnöte der Weltgeschichte mit geschätzt 1,5 Millionen Toten geführt, mehrere Kriege mit dem Nachbarn Somalia ausgetragen und mit brutaler Repression auf Befreiungsbewegungen im besetzten Eritrea und Aufständische unter anderen Bevölkerungsgruppen reagiert. Meles Zenawi, Führer der Guerillabewegung TPLF (Tigray People’s Liberation Front), hatte zunächst um die auf die kleine Ethnie der Tigray beschränkte TPLF herum mit Verbündeten die panäthiopische Rebellenallianz EPRDF (Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front) gegründet. Als sich seine Truppen Addis Abeba näherten, vermittelten die USA Gespräche auf höchster Ebene in London, bei denen ein Bündnis der EPRDF mit Befreiungskämpfern der EPLF (Eritrea People’s Liberation Front) und der Oromo-Guerilla OLF (Oromo Liberation Front) zur Machtübernahme geschmiedet wurde. Das ermöglichte den unblutigen Machtwechsel. Diktator Mengistu verließ Mitte Mai 1991 die Hauptstadt und ging ins Exil, knapp zwei Wochen später marschierten die jungen Rebellenkämpfer ein. Die EPRDF bildete unter fortlaufender US-Vermittlung eine Übergangsregierung mit ihren beiden Verbündeten. Eritrea wurde danach unter EPLF-Führung in die Unabhängigkeit entlassen. Äthiopien wurde eine Bundesrepublik mit Bundesstaaten auf mehrheitlich ethnischer Basis. Meles Zenawi – der nach der Einführung einer neuen Verfassung Ministerpräsident wurde – galt vor allem in den USA als Star einer neuen Generation afrikanischer Führer und Erneuerer, von Yoweri Museveni in Uganda und Paul Kagame in Ruanda bis zum ANC in Südafrika.

Es gibt mehrere Gründe, warum Äthiopien damals zum Lieblingskind der internationalen Gemeinschaft in Afrika und zeitweise zum größten afrikanischen Empfänger von Entwicklungshilfe wurde, und sie sind auch heute wieder aktuell. Der EPRDF-Umsturz 1991 war unblutig, das apokalyptische Chaos von Liberia und Somalia in jenen Jahren wurde in Äthiopien ebenso vermieden wie ein bürgerkriegsartiger Zerfall nach dem Muster Jugoslawiens. Eritrea wurde friedlich und versöhnlich unabhängig, nach Jahrzehnten des Krieges. Mit Föderalisierung und zumindest verbalen Bekenntnissen zu politischen und wirtschaftlichen Reformen brach die EPRDF deutlich mit dem brutalen, ideologisch verbrämten Zentralismus der Mengistu-Ära. Eher gefühlsmäßige Faktoren kamen dazu: die positive Ausstrahlung des jungen Meles und das schlechte Gewissen der internationalen Gemeinschaft über die äthiopische Hungersnot 1984/85. Die Welt setzte auf die EPRDF auch als Stabilitätsanker gegen das somalische Chaos und gegen islamistischen Terror.

All diese Faktoren können fast identisch auf das Äthiopien der Gegenwart übertragen werden, mit Abiy Ahmed in der Rolle von Meles Zenawi. Die Frage stellt sich nun, ob die Gründe, warum die Hoffnungen in Meles Zenawi enttäuscht wurden, auch heute bei Abiy Ahmed relevant sind.

Das multiethnische Bündnis von 1991 – Tigray, Eritrea, Oromia – zerfiel nach der EPRDF-Machtergreifung. Eritrea ging eigene Wege, die OLF war nie ein wirklicher Machtfaktor und ging schnell ins eritreische Exil und die Untergrundopposition. Faktisch regierte in Äthiopien der harte Kern der Tigray-Guerillaführer mittels der TPLF und ihren ethnischen Satellitenparteien. Nach nur wenigen Jahren zogen die einstigen tigrayischen und eritreischen Waffenbrüder gegeneinander in den Krieg. Für die Regime in Addis Abeba und Asmara war der Krieg von 1998 bis 2000 mit 100.000 Toten gleichermaßen die Basis für eine neue nationale Legitimation. Äthiopien gewann den Krieg und hätte danach den Weg der demokratischen Öffnung einschlagen können – Meles Zenawi favorisierte dies und trieb dadurch seine TPLF an den Rand der Spaltung –, aber als die Wahlen von 2005, die ersten halbwegs freien Wahlen in Äthiopiens Geschichte, den Sieg neuer Oppositionsparteien zumindest in den Städten hervorbrachten, reagierte die alte Garde mit brutaler Gewalt. Von Demokratisierung war danach keine Rede mehr, bewaffnete Konflikte in den Oromo- und Somali-Regionen und ein "eingefrorener Konflikt" mit Eritrea prägten Äthiopiens Politik bis zu Meles’ Tod 2012 und auch in den ersten Jahren danach, als der Südäthiopier Hailemariam Desalegn von Gnaden der TPLF das Amt des Ministerpräsidenten übernahm.

Auch starkes Wirtschaftswachstum, oft zweistellig und über den Langzeitdurchschnitt das höchste in Afrika, konnte Äthiopiens tiefe Armut nicht nachhaltig verringern. Gefördert durch Auslandsinvestitionen, hat Äthiopien gewaltige ökonomische Modernisierungsschritte unternommen und in Bereichen wie der Textil- und der Lederindustrie sowie in der kommerziellen Landwirtschaft erfolgreich exportorientierte neue Wirtschaftszweige genährt. Die Hauptstadt Addis Abeba ist dank moderner Infrastruktur kaum wiederzuerkennen. Doch die Erlöse aus dem Wirtschaftswachstum wurden nicht breit gestreut, die rechtlose bäuerliche Subsistenzwirtschaft wurde nicht gestärkt. Einer Studie zufolge sind Äthiopiens Textilarbeiter die am schlechtesten bezahlten der Welt, mit einem durchschnittlichen Grundgehalt von 26 US-Dollar im Monat.

Vom Jugendprotest zum Machtwechsel

Die Unruhen, die Äthiopien ab etwa Ende 2014 erschütterten und zum Aufstieg Abiy Ahmeds beitrugen, haben denn auch primär in der Entrechtung der Bevölkerung gegenüber ökonomischen Weichenstellungen ihren Ursprung – eine strukturell im EPRDF-System angelegte Entrechtung. Ein Faktor war land grabbing – das Verjagen von Bauernbevölkerungen zugunsten ausländischer Investoren auf Agrarland im besonderen äthiopischen Kontext des Fehlens von privatem Grundbesitz. Dazu kam die verbreitete Wahrnehmung einer zunehmenden Kluft zwischen einer nach wie vor sehr schmalen EPRDF-Elite in Tigray, die die politische Macht ausübte und das Erstzugriffsrecht auf ökonomische Chancen beanspruchte, und den von Entscheidungsprozessen weithin ausgeschlossenen Bevölkerungen.

Das Projekt, die Hauptstadtregion Addis Abeba auf Kosten der sie umgebenden Region Oromia zu vergrößern, um aus Oromo-Bauerngemeinden außerhalb der Hauptstadt neue Gewerbegebiete am Stadtrand zu machen ("Addis Abeba Masterplan"), war die Initialzündung für eine Protestbewegung, die sich rasch ausweitete. Der Unmut fiel auf fruchtbaren Boden weit über die ursprünglichen Forderungen hinaus – bei einer jungen Generation, die nichts als die EPRDF-Herrschaft kennt und mit deren historischer Begründung wenig anfangen kann; bei einer neuen selbstbewussten Mittelschicht, teils aus der Diaspora zurückgekehrt, die Mitspracherechte will; bei jungen Frauen, die sich den extrem konservativen und patriarchalischen Traditionen der äthiopischen Gesellschaft widersetzen; insgesamt bei einer modernen, meist städtischen Gesellschaft, die kulturell viel gemischter ist als ihre Elterngeneration und sich nicht mehr in einer rein nach Ethnien sortierten und gemäß einer Militärhierarchie strukturierten Politik wiedererkennt.

Die Unruhen und Massenproteste und ihre gewaltsame Niederschlagung forderten nach Darstellung der staatlichen äthiopischen Menschenrechtskommission 669 Tote, und selbst im offiziellen Bericht fand sich das Eingeständnis: "Die Hauptgründe für die zerstörerische Unruhe in Oromia waren Mangel an guter Regierungsführung, Rechtsbruch, Arbeitslosigkeit, Mangel an zeitiger Antwort auf öffentliche Beschwerden und Verzögerungen bei öffentlichen Projekten."

Aus den in der EPRDF-Ära Geborenen formierte sich in den Unruhen eine neue Protestgeneration. Wie weit ethnischer Nationalismus – die historische Marginalisierung der Oromo, die Entmachtung der historisch herrschenden Amhara durch die Tigray-Herrschenden – tatsächlich eine Rolle bei dieser jungen Generation spielte, ist weder klar noch letztendlich entscheidend. Klar war aber, dass selbst innerhalb der EPRDF Oromo- und Amhara-Kräfte auf Distanz zur Regierung gingen. Bereits im Oktober 2016 wechselte der Oromo-Bestandteil der EPRDF, die OPDO (Oromo People’s Democratic Organisation), ihre Führung und damit die Regierung der Oromo-Region aus; die neue Führung um den neuen Oromo-Ministerpräsidenten Lemma Megerssa und seinem Stellvertreter Abiy Ahmed ging auf die jungen Oromo-Radikalen, genannt "Qeerroo", zu.

Das EPRDF-Machtgefüge, das Äthiopien ein Vierteljahrhundert lang beherrscht und geprägt hatte, war Geschichte. Ohne eine zumindest formelle Loyalität der Amhara- und Oromo-Bevölkerungen des zentraläthiopischen Hochlands ist der äthiopische Zentralstaat nicht lebensfähig.

Am 15. Februar 2018 verkündete Meles Zenawis Nachfolger Hailemariam Desalegn, ein Südäthiopier von der kleinen Volksgruppe der Wolaytta aus dem Grenzgebiet zu Kenia, im Staatsfernsehen seinen Rücktritt als Ministerpräsident Äthiopiens und Vorsitzender der EPRDF. Am Folgetag verhängte die Regierung erneut den erst ein halbes Jahr zuvor beendeten Ausnahmezustand, es folgten erneute Verhaftungen von gerade erst freigelassenen Regimekritikern. Erst in der Nacht zum 28. März wählte der EPRDF-Rat, das oberste Entscheidungsgremium der Partei, den jungen Abiy Ahmed zum neuen Vorsitzenden. Die lange Interimsfrist verriet tiefe Zerwürfnisse an der Staatsspitze. Äthiopischen Berichten zufolge hatte die TPLF den Ausnahmezustand gegen den Willen der anderen EPRDF-Bestandteile durchgedrückt und fand sich im Gegenzug bei der Wahl von Hailemariams Nachfolger isoliert. OPDO-Chef Lemma Megerssa war, da kein Parlamentsabgeordneter, nicht wählbar – sein Stellvertreter Abiy setzte sich mit 108 von 169 möglichen Stimmen durch; Shiferaw Shigute von Hailemariams SEPDM (Southern Ethiopian People’s Democratic Movement) erhielt 59 Stimmen, hauptsächlich von der TPLF; die zwei verbliebenen Stimmen gingen an den TPLF-Vorsitzenden Debretsion Gebremichael, den nicht die eigene Partei sondern die Amhara-Partei ANDM (Amhara National Democratic Movement) aufgestellt hatte, um ihn vorzuführen. Es war für die historischen Tigray-Führer eine beispiellose Schmach. In einer Analyse hieß es: "Nach allen Maßstäben existiert die EPRDF, wie die Äthiopier sie kannten, nicht mehr."

Abiy Ahmeds politische Schocktherapie

Schon Abiy Ahmeds Antrittsrede als Ministerpräsident im äthiopischen Parlament am 2. April 2018 verdeutlichte das Ausmaß seiner Ambitionen. Er sprach gleich zu Beginn von einer "Machtübergabe", als komme eine neue politische Kraft an die Regierung. Er dankte der EPRDF dafür, dass sie "in den Jahren, in denen sie unser Land geführt hat, fundamentale Veränderungen in allen Bereichen herbeigeführt und ein föderales Verfassungssystem errichtet hat", aber betonte auch, "dass es Mängel gibt, die umgehend zu beheben sind. (…) Der Kern der Sache besteht darin, unser Land auf ein höheres Entwicklungsniveau zu katapultieren und voranzukommen, während zugleich seine Einheit auf einer nachhaltigen Grundlage gesichert bleibt." Meinungsverschiedenheiten seien normal: "Nationale Einheit heißt nicht Einstimmigkeit. (…) Frieden ist nicht die Abwesenheit von Konflikt. Frieden ist unerschütterliche Einheit auf Grundlage unseres gemeinsamen Verständnisses."

"Katapultieren" trifft ganz gut, was folgte. Binnen weniger Tage schloss Abiy Addis Abebas berüchtigtes Foltergefängnis Maekelawi, ließ die wichtigsten politischen Gefangenen frei, schaltete das gesperrte mobile Internet wieder an und bildete eine neue Regierung mit Geschlechterparität und seinem bisherigen Oromo-Chef Lemma Megerssa als Verteidigungsminister. Anfang Juni 2018 endete der Ausnahmezustand, Frieden mit Eritrea wurde angekündigt. Anfang Juli wurden die Untergrundprotestbewegung "Ginbot 7", die Oromo-Rebellenbewegung OLF und die Somali-Rebellenbewegung ONLF (Ogaden National Liberation Front) von der Terrorliste gestrichen. Anfang August entmachtete die Zentralregierung die gefürchtete Somali-Regionalregierung und löste deren Polizei auf, es folgten förmliche Friedensabkommen mit OLF und ONLF. Anfang September kehrte Ginbot-7-Führer Birhanu Nega – seit seiner Wahl zum Bürgermeister von Addis Abeba 2005 und seiner anschließenden Verfolgung Symbol für das Scheitern der äthiopischen Demokratisierung unter Meles – aus dem US-Exil zurück. Im Oktober und November übernahmen Frauen wichtige Ämter als Staatschefin, Oberste Richterin und Leiterin der Wahlkommission.

Emotionale Momente begleiteten diese politische Schocktherapie. Im Juni wehten zum ersten Mal seit dem Krieg eritreische Flaggen in Addis Abeba, im Juli reiste Abiy nach Asmara, gefolgt von einem bejubelten Gegenbesuch des eritreischen Diktators in der äthiopischen Hauptstadt. Ebenso historisch war im September die triumphale Rückkehr der lange verfemten und bekämpften OLF-Führung aus Asmara nach Addis Abeba. Beides waren Anlässe für Volksfeste, und es schien in diesen Monaten des Jahres 2018, als habe Abiy Ahmed das historische Bündnis von 1991 zwischen der EPRDF und den eritreischen und Oromo-Verbündeten wiederhergestellt – eine Art Reset, um die Jahrzehnte dazwischen vergessen zu machen und Äthiopien neu zu starten.

Abiy gehört einer Pfingstkirche an, so wie zahlreiche Oromo-Oppositionelle eher dem Protestantismus statt der historisch amharisch dominierten alten koptischen Kirche Äthiopiens zuneigen, und viele seiner Reden und Taten haben Ansätze von Erweckungspredigten. Seine Familie ist gemischt muslimisch-christlich und Oromo-Amhara, er sieht sich als Inbegriff der Vielfalt Äthiopiens. Mittlerweile hat er auch ein programmatisches Buch mit dem Titel "Medemer" (auf Amharisch) beziehungsweise "Ida’amuu" (auf Oromo) vorgelegt – der Titel wird von Äthiopiern meist als "Synergie" übersetzt, im Sinne von "Summe", die größer ist als ihre Teile. Den Begriff verwendete Abiy schon kurz nach seinem Amtsantritt: "Medemer ist ein größerer Begriff als der mathematische Begriff: Wenn du und ich zusammenkommen, sind wir nicht nur zwei Personen wie in der Mathematik, sondern wir sind ‚wir‘."

Auch in seiner Nobelpreisrede 2019 führte Abiy "Medemer" aus – "ein Sozialvertrag, damit Äthiopier eine gerechte, gleiche, demokratische und menschliche Gesellschaft bauen", oder auch "ein Friedensgelübde, das Einheit aus unserer gemeinsamen Menschlichkeit schöpft."

Schattenseiten des Neuanfangs

Als Abiy Ende 2019 weltweit gefeiert wurde, hatten sich in Äthiopien selbst schon längst Skepsis und Kritik breitgemacht. In den anderthalb Jahren seit seinem Amtsantritt waren mehr Menschen Gewalt zum Opfer gefallen als während der gewaltsamen Niederschlagung der Proteste zuvor. Die Zahl der Binnenvertriebenen aufgrund von Konflikten in Äthiopien wuchs während des Jahres 2018 laut UN-Flüchtlingshilfswerk von 1078400 auf 2615800, der größte solche Anstieg weltweit; bis April 2019 stieg die Zahl weiter auf über drei Millionen, bevor Rückführungsinitiativen die Zahlen deutlich senkten.

Schon frühzeitig hatten internationale Organisationen vor einer Eskalation ethnischer Gewalt gewarnt: Amnesty International hatte die äthiopische Regierung bereits im Juni 2018 zum Schutz von Amhara-Bevölkerungen vor "gewaltsamen Angriffen auf ihre Häuser durch ethnisch motivierte Jugendgruppen in Oromia" aufgefordert. Auf die Rückkehr der früheren Oromo-Guerilla OLF als legale Partei ins mehrheitlich von Oromo bewohnte Addis Abeba im September 2018 folgten ethnische Pogrome in der Hauptstadt mit Dutzenden Toten. Ethnische Unruhen erschütterten in den Folgemonaten mehrere Regionen des Landes. "Althergebrachter Zwist zwischen Äthiopiens ethnischen Gruppen wird akuter; die Kräfte, die sie zumindest teilweise eingedämmt hatten, werden lockerer, und quer durch das Land wetteifern Gruppen, die sich gegenseitig für Rivalen halten, um die Macht", analysierte die International Crisis Group Anfang 2019. Im Juni 2019 erschütterte ein Putschversuch die Amhara-Region, im Oktober gab es in Addis Abeba bis zu 86 Tote, als wütende Oromo-Jugendliche gegen Abiy auf die Straße gingen.

Am 23. November 2019 stimmte der Sidama-Bezirk der Südregion für einen eigenen Bundesstaat – der erste offizielle Bruch mit dem EPRDF-System, aber sicher nicht der letzte. Im rund 45 Volksgruppen umfassenden südäthiopischen Bundesstaat haben neben der größten Ethnie der Sidama unter anderem auch die zweitgrößte Ethnie der Welayta Ansprüche auf eine eigene Staatlichkeit angemeldet. Äthiopische Analysten deuten dies als sichtbare Manifestationen eines gesamtäthiopischen Trends zur lokalen Selbstbehauptung in Zeiten, in denen die zentralstaatliche Ebene nicht mehr verlässlich erscheint. "Ethnische Bezirksverwaltungen haben die Öffnungen ausgenutzt, die ihnen die Wirren innerhalb der Regierungskoalition boten, um sich auf die Verfassung zu stützen und ihre eigenen Regionalstaaten einzufordern (…). Die Bezirksführer tun dies während einer destabilisierenden, von Abiys Ambitionen überforderten Übergangsphase."

Etwa gleichzeitig vollzog Abiy seinen mutigsten und weitreichendsten Reformschritt: das Ende der EPRDF. In einer Serie von Sitzungen im November 2019 beschlossen die einzelnen, ethnisch definierten Bestandteile der EPRDF ihre Selbstauflösung zugunsten einer gemeinsamen neuen "Prosperity Party" (PP). Die formelle Selbstauflösung der EPRDF durch die für Parteienzulassung zuständige Wahlkommission erfolgte im Februar 2020. Der Beschluss war selbst in den eigenen Reihen äußerst kontrovers. Wichtige Weggefährten Abiys wie sein ehemaliger OPDO-Chef und aktueller Verteidigungsminister Lemma Megerssa waren dagegen; Lemma nannte die Parteineugründung "verfrüht" und die falsche Priorität für eine Zeit des demokratischen Übergangs. Die TPLF, Gründerin und historisch herrschende Kraft in der EPRDF, stellte sich von Anfang an quer und hat sich als einziger der bisherigen EPRDF-Bestandteile nicht aufgelöst. "In Ermangelung einer einheitlichen Vision, einer praktischen Strategie und einer Ideologie ist es sehr schwer für eine gewisse politische Gruppierung, zu überleben", kommentierte die TPLF die PP-Gründung noch vor deren Vollzug. Im Februar 2020, kurz nach dem offiziellen Ende der EPRDF, feierte die TPLF pompös in der tigrayischen Hauptstadt Mekele ihren 45. Geburtstag als bewaffnete Bewegung, und ihr Chef Gebremichael erklärte in einer Ansprache: "Die Krankheit steckt in den Führern, nicht im Volk." Der von Abiy entlassene langjährige äthiopische Geheimdienstchef Getachew Assefa, eine historische Größe der TPLF, soll trotz Haftbefehl in Tigray untergetaucht sein und wird verschiedentlich als Drahtzieher einer Destabilisierung des Landes genannt.

Vor der Auflösung als Partei war die EPRDF bereits als Staatsapparat allmählich verschwunden. Das in autoritären afrikanischen Entwicklungsdiktaturen gängige System der engmaschigen Kontrolle der Bevölkerung auf Graswurzelebene – ein staatlicher "Kontrolleur" pro fünf Haushalte – verkümmerte nach Abiys Amtsantritt rasch, was zwar die verhasste ständige Überwachung und Schikanierung der Bevölkerung, aber auch jede Umsetzung politischer Vorgaben beispielsweise im Entwicklungsbereich zum Stillstand gebracht hat. Auch die starke äthiopische Armee mit einem kriegsgestählten Kern von TPLF-Offizieren verlor an Einfluss zugunsten der regionalen Sicherheitskräfte der einzelnen Bundesstaaten. Abiy misstraut diesen alten Herrschaftsstrukturen als Blockadekraft. Vor dem Parlament nannte er sie im Februar seine "härteste Herausforderung" und erklärte: "Das Netzwerk, das bis zum unteren Ende der Verwaltung reicht, hat die Kapazität, alles zum Stillstand zu bringen (…) Das Netzwerk zu brechen ist nicht einfach."

Die junge, radikale Protestgeneration der Amhara und Oromo aus den Jahren 2015 bis 2018 wiederum schlief nach Abiys Amtsantritt nicht wieder ein, sondern blieb als wacher Begleiter erhalten und sammelte sich um die aus Haft oder Exil heimkehrenden Oppositionspolitiker. Die OLF brachte nach ihrer Legalisierung 1300 Kämpfer aus Eritrea zurück nach Äthiopien, die anders als gedacht nicht in die Armee integriert wurden, sondern in der Oromo-Bevölkerung untertauchten. Oromo-Übergriffe gegen Angehörige anderer Ethnien haben seitdem zugenommen, ermutigt von der Überzeugung, dass jetzt, nach einem Vierteljahrhundert Tigray-Dominanz und davor jahrhundertelanger Amhara-Herrschaft, mit Abiy endlich "einer von uns" regiert. Das hat wiederum die Bildung von Selbstschutzmilizen bei anderen Bevölkerungsteilen ermutigt.

Ungewisse Zukunft

Frieden mit Eritrea, eine Verfassungsordnung, in der sich alle Völker Äthiopiens wiederfinden, eine Politik, die das Leben der Menschen verbessert, und eine Rolle als Stabilisator am Horn von Afrika – diese Erwartungen und Hoffnungen, mit denen 1991 der Machtantritt der EPRDF international begrüßt worden war, bestehen auch zum Ende dieses Kapitels der äthiopischen Geschichte unverändert weiter. Zwei Jahre nach Abiys Amtsantritt ist die Bilanz nur beim ersten Punkt positiv. Beim letzten ist sie neutral, da beispielsweise die Befriedung Somalias von anderen Faktoren abhängt. Bei den anderen beiden Punkten, die Äthiopiens innere Entwicklung betreffen, ist es für ein Urteil noch zu früh, aber die Zeichen sind nur teilweise ermutigend. Äthiopien hat noch nie eine richtige Demokratie gekannt. Bisher war jede herrschende politische Kraft identisch mit dem Staatsapparat als solchem. Aber Abiy hat jetzt das EPRDF-System abgeschafft, bevor ein neues System heranwachsen konnte. Ob die erst noch im Entstehen begriffene PP mit ihrem Wohlstands- und Harmoniecredo, halb Hegemonialanspruch alter Schule und halb Erlösungsdiskurs nach dem Stil evangelikaler Pfingstkirchen, ein überzeugender Erbe ist, ist mehr als fraglich.

"Das verbreitete Gefühl in der Bevölkerung ist Angst", analysiert der Äthiopien-Experte René Lefort: "Angst, weil die uralte pyramidale Herrschaftsstruktur verschwunden ist; neben der Abwesenheit von Autorität ist die traditionelle soziale Hierarchie zerbröselt. ‚Wir können nicht einmal mehr unseren eigenen Kindern etwas sagen‘, klagen die Alten. Angst, weil in dieser beispiellosen Gegenwart und unbekannten Zukunft ‚etwas Schlimmes passieren kann‘, wie Leute sagen (…). Die meisten glauben, dass eine Form bewaffneter Auseinandersetzung naht."

In der EPRDF-Ära war es Äthiopiern nicht möglich, sich legal einer anderen politischen Partei als der mit der EPRDF verbundenen Partei ihrer jeweiligen ethnischen "Nation" anzuschließen. Jetzt sind all diese Parteien offiziell aufgelöst. Das Vakuum füllen in erster Linie "freie Radikale" der unterschiedlichen Ethnien sowie der jungen Protestbewegungen. Theoretisch hätte der Oromo-Politiker Abiy das alte System beibehalten und einfach Tigray durch Oromo als Nummer Eins ersetzen können – aber seine Ambitionen sind größer: Er will einen neuen, genuin "äthiopischen Nationalismus" gründen, jenseits von Ethnien. Doch damit stehen automatisch alle bestehenden "ethnischen Nationalismen" in Opposition zu seiner neuen Prosperitätspartei.

Auch junge Kräfte, die eigentlich das Ziel eines postethnischen "äthiopischen Nationalismus" teilen, sehen Abiys Methoden kritisch: Ihnen fehlt eine offene und partizipative Debatte über Äthiopiens Zukunft. So haben sich um den lange inhaftierten Blogger und Journalisten Eskinder Nega herum neue politische Kräfte gebildet, die sich im Erbe der ehemaligen Oppositionspartei CUD (Coalition for Unity and Democracy) aus der Zeit des kurzlebigen demokratischen Frühlings von 2005 sehen und "ein echtes Mehrparteiensystem für das Land aufbauen" wollen. Ältere nicht-ethnische Oppositionsparteien verkündeten bereits zu Jahresanfang Wahlbündnisse, deren Ziel es ist, "dass das Land nicht auseinanderfällt".

Das Gewicht all dieser Kräfte jenseits einiger Intellektuellenzirkel ist zweifelhaft, insbesondere im Vergleich zu radikal ethnisch-nationalistischen Gruppen in ländlichen Gebieten oder auch an den äthiopischen Universitäten. Aber sie zeugen davon, dass Abiy in der politischen Landschaft des eigenen Landes keineswegs unumstritten ist. Die politische Zukunft Äthiopiens jedenfalls ist weit offen. Die Regierungszeit von Abiy Ahmed gleicht einem Abenteuerritt ins Ungewisse. Die Tragweite dieses Experiments ist kaum zu unterschätzen in einem Land mit rund 110 Millionen Einwohnern und hohem Bevölkerungswachstum, tiefer Massenarmut, immensen alten und neuen ökologischen Herausforderungen und einer Schlüsselrolle für die Stabilität in einer der unruhigsten Weltregionen.

ist Journalist und Sachbuchautor mit Schwerpunkt auf Afrika; bei der "Tagezeitung" (taz) leitet er das Auslandsressort. E-Mail Link: johnson@taz.de