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Geschichte und Geschichtserzählungen in Äthiopien

Wolbert G.C. Smidt

/ 21 Minuten zu lesen

Bei Äthiopien handelt es sich eigentlich um viele Länder – entsprechend wichtig ist es, die Vielfalt der historischen Überlieferungen zu berücksichtigen. In lokalen Mythen schimmert noch heute das Wissen alter Gesellschaften durch.

Wer eine Geschichte Äthiopiens schreiben möchte, kommt nicht um die Feststellung umhin, dass es sich bei Äthiopien eigentlich nicht um ein Land handelt, sondern um viele Länder – auch wenn in verschiedenen Epochen immer wieder auf neue Weise Einheit geschaffen wurde. Dabei hinterließ jede Herrschaftsperiode neue Geschichtserzählungen, die jeweils eine absolute Wahrheit beanspruchen und sich zum Teil heftig widersprechen. Man kann sagen: Es kommt auf die jeweilige Region, manchmal auch nur auf die soziale Teilgruppe an, welche Fassung der Gesamtgeschichte Äthiopiens als "wahr" gilt – seien es zum Beispiel Angehörige der Amharisch sprechenden Stadtbevölkerung in Addis Abeba, junge Bewohner einer Kleinstadt im Bundesland Oromiyaa (Oromia), muslimische Afar-Nomaden oder christlich-orthodoxe Bauern in Tigray. Darüber hinaus ist den meisten dieser Gruppen unbekannt, dass es überhaupt in wesentlichen Punkten abweichende, andere Geschichtserzählungen gibt. Wenn dies Einzelnen bekannt wird, ist die Reaktion häufig eine Mischung aus Empörung und Erstaunen.

Wie hoch die Wellen im äthiopischen Geschichtsdiskurs mitunter schlagen können, zeigt etwa eine Begebenheit aus dem Februar 2020, als Lehrkräfte in Addis Abeba über letzte Verfeinerungen am neuen Universitäts-Curriculum für die Einführungskurse in Geschichte berieten: Die Diskussion eskalierte und wurde immer weiter verlängert, bis sie nach zehn Tagen an einem letzten strittigen Punkt über die Expansionskriege des 19. Jahrhunderts abgebrochen wurde. Die Frage wird nun dem Premierminister zur Entscheidung vorgelegt.

Weiterhin ist zu bedenken, dass das heutige Territorium Äthiopiens historisch in relativ junger Zeit aus verschiedenen Ländern zusammengefügt wurde. Dies geschah durch zum Teil überaus blutige Expansionsfeldzüge des Kaisers Menelik II. (1844–1913), König von Shewa, etwa zu der Zeit, in der auch das Deutsche Reich gegründet wurde. Während diese Expansion vor allem Angehörigen der zentraläthiopischen Völker als "Wiedervereinigung" gilt, wird in anderen Regionen ganz anders daran erinnert. Tatsächlich sind seinerzeit mehrere blühende Staatswesen in heftigen Kämpfen untergegangen, und die Folgen der Landnahmen und des Austauschs von Eliten wirken sich bis heute auf Politik und Gesellschaft aus. Die Sichtweise vieler zentraläthiopischer Gruppen, dass Äthiopien in seinen heutigen Grenzen ein von Gott übergebenes, seit der Antike bestehendes Land sei, wird insbesondere in traditionellen Gebieten wie Süd-Oromiyaa, im Omo-Tiefland und in Afar nicht geteilt – für viele dort ist Äthiopien bis heute ein "fernes Land". Manche Lokalpolitiker entdecken in jüngster Zeit zwar Vorteile, die sie plötzlich "zu Äthiopiern werden lassen"; aber nur wenige Kilometer weiter erklären andere Politiker, ihr Land sei "nie äthiopisch" gewesen – womit sie geflissentlich die zurückliegenden 130 Jahre übersehen.

Wer in dieser Situation zur Geschichte Äthiopiens schreiben will, muss gleich zu Beginn sein teilweises Scheitern eingestehen. Denn es existieren so zahlreiche wichtige und komplexe Geschichtserfahrungen unterschiedlicher Regionen und Gruppen nebeneinander, dass davon in Kürze kaum adäquat berichtet werden kann. Hinzu kommt, dass sich nach einiger Quellenarbeit fast jede populäre Geschichtserzählung als nicht haltbar erweist, sondern als Spiegelung gesellschaftspolitischer Interessen bestimmter Teilgruppen. Und doch sind die Erzählungen nie einfach nur gefälscht, sondern jeweils voller wertvoller Einsichten. Insofern ist vor allem der genauere Blick in die lokale Regional- und Kulturgeschichte lohnenswert, zeigt er doch, wie reich das Land an Überlieferungen und historischen Erfahrungen ist.

Äthiopiens Rolle in der Geschichte

Äthiopien ist eines der ältesten christlichen Länder der Welt; gleichzeitig ist es das Land, in dem verfolgte Gefolgsleute des Propheten Mohammed die erste in Frieden lebende islamische Gemeinde gründen konnten. Dazu gab es über Jahrhunderte eine besondere lokale Form des Judentums sowie andere lokale Religionen wie die Waqiffaa-Religion der Oromo. Diese Religionen sind jeweils Resultate und Träger internationaler Kontakte, etwa nach Indien und Europa. Blütezeiten hatten dabei immer mit Handel und Wissensaustausch entlang der Wasserwege und Küsten zu tun. Schon seit der Antike ist Äthiopien ohne die Einflüsse der großen Kulturen der Arabischen Halbinsel nicht zu verstehen, und ebenso war es zu verschiedenen Zeiten geprägt vom Austausch mit dem östlichen Mittelmeerraum, vom antiken Israel bis zum Oströmischen Reich, aber auch entlang alter Wege ins Innere Afrikas.

Äthiopien darf also einerseits als afrikanisches Reich verstanden werden, mit Handelsrouten in den Südwesten und Westen des Kontinents, andererseits als Drehscheibe des großen Kulturaustauschs über den Indischen Ozean und das Mittelmeer. Kulturell und geschichtlich gehört Äthiopien in den Bereich der großen Geschichtserzählung der Kulturen des Mittelmeers und der ältesten semitischen Kulturen von Israel bis zum Königreich von Saba’. Gleichzeitig ist es, wie sich seine christlichen Eliten traditionell definieren, "das zweite Israel", soll es laut Geschichtsüberlieferung doch eine Gründung des Sohnes von König Salomon sein.

Im Sinne der dominierenden Überlieferung ist das dicht besiedelte und seit vier Jahrtausenden von Landwirtschaft geprägte abessinische Hochland das Kernland Äthiopiens. Dank der fruchtbaren Plateaus, des moderaten Höhenklimas und wasserreicher Regenzeiten konnten sich hier früh komplexe Bauernkulturen formieren, die durch Handel und Migration immer eng mit Viehhirten und Tiefland-Nomaden in Verbindung blieben. Die Bewohner des Hochlandes sprechen äthiosemitische und kuschitische Sprachen und nennen sich meist Habescha, wovon sich der europäische Begriff "Abessinier" (früher "Habessinier") herleitet. Da diese in den vergangenen Jahrhunderten die wichtigsten politischen und militärischen Eliten der Region stellten, war bis ins 20. Jahrhundert in Europa die Bezeichnung "Abessinien" für den Staat üblich. Allerdings hieß der Staat in der Eigenbezeichnung bereits seit dem Mittelalter Äthiopien, in lokaler Schreibung Ityop’ya.

Durch die militärische Expansion unter Kaiser Menelik II. und internationale Verträge mit benachbarten Kolonialmächten wurde das äthiopische Territorium im 19. Jahrhundert stark erweitert: Im Osten kamen die weiten Afar- und Somali-Tiefebenen mit ihren über Jahrhunderte unabhängigen Sultanaten und Clan-Ältestenräten dazu, im Süden neuere Oromo-Staaten und nach alten quasi-demokratischen Modellen regierte Ältesten-"Republiken", im Südwesten eine Vielzahl von Völkern, die als kleine Nomaden- oder Bauerngruppen oder als große hierarchische Königreiche organisiert waren, wie das Kaiserreich Kafa.

Gründungsmythos: Königin von Saba

In jedem Buch zur Geschichte Äthiopiens steht die Überlieferung des abessinischen Kernlandes im Zentrum. Um Äthiopien zu verstehen, ist es aber wichtig, nicht nur von der Forschung etablierte Perioden vorzustellen, sondern auch populäre Gründungsmythen. Äthiopien ist als staatliches Gemeinwesen, wohl mehr als andere Länder, geradezu definiert über seinen mythischen Ursprung. Dieser begründet vielfach lokale politische Diskurse über einen "äthiopischen Sonderweg", die Überlegenheit der äthiopischen Kultur sowie die besondere Gottesnähe Äthiopiens. Dies mögen extreme Erscheinungen sein, aber ein Gefühl der Besonderheit durchdringt fast jedes Gespräch über die Ursprünge und "die Kultur Äthiopiens", auch wenn es in Wirklichkeit ein Land vieler, sehr verschiedener Kulturen ist.

Nun also zunächst der Mythos: Die Bibel erwähnt nur in wenigen Worten den mysteriösen Besuch der Königin von Saba beim israelischen König Salomon, der traditionell auf etwa 1000 v. Chr. datiert wird. Das hochentwickelte Königreich von Saba’, situiert im heutigen Jemen, ist für umfangreiche Inschriften sabäischer Könige und eine entwickelte Steinmetzkunst und Architektur aus jener Epoche wohl bekannt. Eine Königin kommt dort allerdings nicht vor, und nach äthiopischer Überlieferung spielt die Geschichte in Äthiopien. Der Ende des 13. Jahrhunderts verfassten Erzählung "Kibre Negest" ("Die Glorie der Könige") zufolge reiste die Königin von Saba zu Salomon nach Jerusalem, da sie von dessen Weisheit gehört hatte, und kehrte schwanger in ihr Reich im heutigen Nordäthiopien zurück. Ihr Sohn, in älteren Quellen Ibn al-Hakim ("Der Sohn des Weisen") oder auch Ibne/Beyne Ilhakim genannt, wurde der Begründer der äthiopischen Dynastie. Nach Forschungen der Philologen wurde daraus durch zahlreiche Manuskriptabschriften schließlich die Namensform Beynelik/Menyilik/Menelik. Der Legende nach stahl Menelik bei einem Besuch seines Vaters die Bundeslade und wurde bei seiner Rückkehr nach Äthiopien von allen erstgeborenen Söhnen der Ältesten Israels begleitet, wodurch Äthiopien zum "zweiten Zion" avancierte. Seither, so die Geschichte, wird die Bundeslade in der Zionskirche von Aksum aufbewahrt. Auf diese Isra’elawiyan führen sich bis heute viele der alten Familien im äthiopischen Hochland zurück.

In mündlicher Überlieferung, die insbesondere in konservativen Bauerngesellschaften in Tigray noch lebendig ist, ist diese Geschichte omnipräsent und in der Regel nur ein Abschnitt eines viele Teile umfassenden Sagenzyklus. In diesem verweben sich lokale, vorchristliche Glaubensvorstellungen mit Erzählungen aus dem antiken Griechenland, was die intensive Verbindung zum Mittelmeerraum eindrucksvoll belegt. Dazu gehören insbesondere die Legenden rund um Alexander den Großen und sein Pegasus-Pferd sowie Geschichten vom verdorrten Paradiesbaum. Besonders bemerkenswert ist auch der frühäthiopische Schlangenmythos, wonach das Land zunächst von einer Riesenschlange beherrscht wurde. So gibt es in ganz Tigray besonders heilkräftige Quellen, die mit Schlangen und diesem Mythos zu tun haben. In der Schriftüberlieferung der äthiopischen Kirche wurden diese Legenden oftmals christianisiert, etwa indem frühere heidnische Plätze mit dem Drachentöter St. Georg oder einem schlangenbeschwörenden Heiligen in Verbindung gebracht wurden. In der lokalen Geschichtserzählung schimmert jedoch nach wie vor das Wissen und Denken ganz alter Gesellschaften durch.

Die antiken Reiche Di`amat und Aksum

Wie aber steht es um die Historizität der Geschichte von der Königin von Saba? Wie gesagt, in der gesamten Überlieferung des Reiches Saba’ kommt keine einzige Königin vor. Die dortige Gesellschaft war ausgesprochen patriarchalisch ausgerichtet. In Nordäthiopien sah es teilweise anders aus. Dort gab es ein politisches Gemeinwesen namens Dicamat, das aus mehreren Gruppen bestand, darunter den Sabäern. Ganz offensichtlich wird dieses in äthiopischer Überlieferung als "das Reich von Saba" erinnert – auch wenn es sozusagen ein "zweites Saba" war. In Inschriften wird von Königen "der Sabäer und Einheimischen" berichtet, die sich meist nicht nur auf ihre Väter, die Könige, beziehen, sondern auch auf ihre Mütter, die "Königsgefährtinnen" (die genaue Übersetzung steht noch zur Diskussion). Hier gibt es eine bemerkenswerte Dominanz politischer Frauengestalten, wie sie auch aus anderen afrikanischen Regionen bekannt ist. Die Überlieferung der Königin von Saba hat offenbar genau diese Erinnerung an die zentrale Rolle der Frauen im Herrschaftsgefüge der äthiopischen Sabäer bewahrt.

Das wohl stark im internationalen Handel aktive Dicamat ist nur über wenige Jahrhunderte fassbar, am deutlichsten noch vom 8. bis 6. vorchristlichen Jahrhundert. Nach einer "dunklen Periode", die von veränderten Kulten in halbvergessenen und teilweise zerstörten sabäischen Tempeln geprägt war, stieg das bald bedeutende Reich der Aksumiten und Habaschat (so nennt es sich in eigenen Inschriften) auf, mit der Hauptstadt Aksum, die seither als spirituelles Zentrum Äthiopiens gilt. Dieses Reich, dessen Herrscher sich "Könige der Könige" nannten, dehnte sich zeitweise bis in den Nordsudan und über das Rote Meer hinweg in den Jemen aus, also in das Kerngebiet des alten Saba’. Seine Eliten sahen sich als Erben des alten Reiches von Saba’ und nahmen das Land, obwohl es meist nicht von Aksum kontrolliert wurde, in die Königstitulatur auf. Aksum trieb Handel über den Indischen Ozean, mit der arabischen Welt, Ägypten und Byzanz – besonders wichtige Produkte waren Elfenbein, Gold und Weihrauch. Auch der Sklavenhandel florierte. Im Gegenzug erhielt Aksum in großer Zahl Amphoren mit Wein und Öl, also die damaligen Massenexportprodukte Roms, dazu Luxusprodukte wie feine römische Gläser für Kosmetik und wahrscheinlich auch Silber. Eine anonyme Quelle aus dem 6. Jahrhundert deutet darauf hin, dass zeitweise griechischsprachige Berater angeheuert wurden.

Die Verbindungen Aksums reichten weit über die unmittelbaren Anrainer hinaus, wie mehrere chinesische Quellen zeigen, die vom späten Aksum berichten. Aksum entwickelte als einziges afrikanisches Reich eine eigene Münzprägung, durch die wir sehr gut über die Namen der wichtigsten aksumitischen Herrscher und Grundzüge ihrer Herrschaftsideen informiert sind. Besonders bemerkenswert ist die Ge’ez-Schrift, die auf die frühere sabäische Konsonantenschrift zurückgeht, diese aber weiterentwickelt und den äthiosemitischen Sprachen angepasst hat. Sie ist, mit Fortentwicklungen, bis heute im äthiopischen Alltag im Gebrauch. Die Blüte Aksums ging mit einem Aufschwung internationaler Handelswege einher, die weitreichende Wasserstraßen und die Karawanenwege des inneren Afrikas miteinander verbanden.

Ein weiteres Ereignis mit weltgeschichtlichen Auswirkungen ist unmittelbar mit Aksum verbunden: die Gründung des Islam. Der Prophet Mohammed stammte aus einer bedeutenden Kaufmannsfamilie, die mit Aksum eng Handel trieb, seine Amme kam aus Äthiopien und ebenso sein erster Muezzin, Bilal. Philologische Forschungen zeigen den Einfluss von Ge’ez, also auch der spätantiken christlichen Schriftüberlieferung, auf den Koran selbst. Der aksumitische König Ille-Tseham (in arabischer Tradition al-As’hama genannt), nahm um 615 die ersten Gefolgsleute Mohammeds auf, darunter auch Familienmitglieder, da diese in Mekka verfolgt wurden. Sie gründeten nach lokaler Überlieferung die erste muslimische Siedlung in Negash in Ost-Tigray, das bis heute als heilige Stätte des Islam gilt.

Auch wenn sich das Äthiopien der Gegenwart in Gestalt, Sprachen und Bevölkerung erheblich vom alten Aksum unterscheidet – das Reich hatte sein Zentrum nur in Nordäthiopien und entlang der Handelsrouten zum Meer im benachbarten Zentraleritrea –, so bildet die antike Geschichte der Region doch die Grundlage für die Gründungsmythen des heutigen Staates.

Mittelalter: Blüte und Eroberung durch Adal

Als es im Frühmittelalter auf der Arabischen Halbinsel und entlang des Roten Meeres zu einer radikalen Neuordnung der Handelswege kam und der Handel immer mehr von muslimischen Arabern übernommen wurde, verlor das aksumitische Reich erheblich an Bedeutung. Etwa in diese Zeit fällt auch die allmähliche Selbstidentifikation der christlichen äthiopischen Herrscher mit dem vielfach in der Bibel genannten "Äthiopien" (Ityop’ya), einer ursprünglich griechischen Bezeichnung für die antiken Reiche des Sudans als "Land der verbrannten Gesichter". Mit dieser Selbstbezeichnung gelang Äthiopien nun die direkte Anbindung eigener Überlieferungen an Überlieferungen der Bibel. Mit der im "Kibre Negest" postulierten davidischen Abstammung der Herrscherdynastie der "Salomoniden" war ein hohes Prestige verbunden: Sie waren nun direkte Verwandte Jesu Christi.

Trotz der Machtverschiebungen in der arabischen Welt behielt Äthiopien eine enge Verbindung mit Jerusalem, wo seine Pilger ab dem Mittelalter ein eigenes Kloster in der Grabeskirche besaßen. Zugleich gedieh eine reiche eigene theologische Tradition, die originelle Werke in Ge’ez hervorbrachte. Auch wenn sich das Amharische als Königssprache nun auch als Volkssprache durchsetzte, blieb Ge’ez die Kirchensprache. Es entstand so etwas wie ein frühes kirchliches Hochschulsystem, in dem Theologie, Historiografie und Recht gelehrt wurden. Bis zum 18. Jahrhundert gingen daraus die führenden Hochschulen und Skriptorien Gonders hervor. Zudem wurden wichtige Manuskriptsammlungen angelegt, die unter anderem mittelalterliche Königschroniken umfassen, die im afrikanischen Vergleich einzigartig sind. Äthiopien kann daher auch als Wirkungsstätte der ältesten traditionellen Hochschulen der Welt gelten, vergleichbar mit jenen in Kairo und Timbuktu.

Im Hochmittelalter hatte Äthiopien wieder eine solche Blüte erreicht, dass europäische ("fränkische") Gesandte in Ägypten neidvoll berichteten, mit welchen Ehren und Pomp die Gesandten des äthiopischen Kaisers empfangen wurden, während ihnen selbst kaum eine Audienz gelingen wollte. Ägypten musste jederzeit fürchten, dass Äthiopien seine Macht über die Nilquellen ausnutzte – nach antiker Überlieferung besaß Äthiopien die Kontrolle über das Nilwasser.

Neue Forschungsarbeiten zeigen, dass Äthiopien insbesondere im 15. Jahrhundert erfolgreich diplomatische Delegationen nach Europa entsandte, um Beziehungen aufzunehmen und Kunst – vor allem Heiligenbilder – aus Europa nach Äthiopien zu bringen. Missionen aus Europa wiederum gingen meist verloren: Sie hatten wesentlich weniger Wissen über die Zielregion als die Äthiopier. Eine geplante Heirat zwischen den portugiesischen und äthiopischen Herrscherhäusern scheiterte an der Distanz. Der besonders machtvolle Kaiser Zer’a Ya’qob (Konstantin I., ca. 1399–1468), der sein Reich mit Kriegszügen erheblich erweiterte und versuchte, es unter einer vereinheitlichten christlichen Doktrin zu vereinigen, ist bekannt als Verfasser philosophischer Schriften.

Ab dem 16. Jahrhundert kulminierte die Dynamik der äthiopischen Expansion in scheinbar endlosen Kriegen gegen mächtige muslimische Nachbarn, darunter das muslimische Reich von Yifat unter der Walashma’-Dynastie sowie später das Großreich von Adal, das in etwa das heutige Ostäthiopien und Somaliland umfasste. Nachdem die Bevölkerung zeitweise zu drückenden Tributen gezwungen worden war, schlug Adal schließlich zurück. In der christlichen Geschichtserzählung Äthiopiens heißt es gewöhnlich, dass der Rebell "Ahmed Gragn" ("der Linke") gegen die legitimen Herrscher aufrührte. Tatsächlich aber handelte es sich um das Oberhaupt eines eigenständigen Reiches, Imam Ahmad ibn Ibrahim al-Ghazi (ca. 1506–1543), der die Dynamik der Kriege nun umkehrte: Er einigte die Völker der Region und besiegte Äthiopien. Während seiner eineinhalb Jahrzehnte langen Herrschaft setzte er Feldzüge gegen christliche Rebellen fort und ernannte muslimische Gouverneure – darunter auch frühere christliche Familien Äthiopiens. Selbst der Kaisersohn Minas, zeitweise im Jemen, scheint Muslim geworden zu sein. Tatsächlich war dies in der Geschichte der Region die einzige Phase, in der das gesamte Horn von Afrika geeint war, allerdings unter fortwährendem Widerstand vor allem entlegener christlicher Provinzen. In der äthiopischen Überlieferung wurde versucht, diese Herrschaft zu einer Rebellion umzudeuten, während sie tatsächlich ein internationaler Krieg war – der mit den Osmanen verbündete Staat Adal war ein bedeutender Nachbar, kein Vasall. So spielt Imam Ahmad in der somalischen und Afar-Volkstradition wiederum eine zentrale Rolle als früher Anführer und Vorbild für die zum Teil bis heute erfolglose Staatenbildung.

Das Reich von Adal brach allerdings zusammen, nachdem es dem flüchtigen äthiopischen Herrscher gelungen war, portugiesische Waffenhilfe anzufordern. Die Portugiesen, die unter der Führung von Vasco da Gama und in Konkurrenz mit den Osmanen und arabischen Händlern gerade in den Indischen Ozean vorgedrungen waren, hatten größtes Interesse an einem christlichen Partner in der Region. Adal wurde zwar von den Osmanen unterstützt, aber die portugiesischen und äthiopischen Truppen setzten sich durch, und das äthiopische Reich wurde restauriert. Weite Teile des Reiches von Zer’a Ya’qob blieben aber verloren, denn das große Volk der Oromo, das bereits in den Südgebieten Äthiopiens angesiedelt war und sich in demokratischen Krieger- und Ältestenräten organisierte, übernahm nach und nach alte Provinzen, die Äthiopien aufgeben musste. Im Süden bildeten sich zudem neue Reiche heraus, wie das bedeutende Kafa. Und in Nachbargebieten entstanden kleine unabhängige Gemeinwesen, zum Teil mit an das Christentum angelehnten Kulten, sowie mehrere Oromo-Königreiche.

Zerfall und erneute Einigung

Im 17. und 18. Jahrhundert entstand die neue äthiopische Hauptstadt Gonder, ausgestattet mit Schlössern im indisch-portugiesischen Stil, von der der schottische Reisende James Bruce eindrucksvoll (nicht ohne Übertreibungen) berichtete. Doch die Zentralmacht bröckelte. Seit dem 18. Jahrhundert teilten sich mächtige Fürsten, die meist aus lokal stark verankerten Dynastien stammten, die Gebiete Äthiopiens untereinander auf. Ihre Fürstentümer und Provinzen waren schon seit der Antike von verschiedenen Bevölkerungsgruppen mit eigenen Sprachen, Traditionen und Rechtssystemen geprägt. Die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts nennt diese Phase die "Zeit der Fürsten" (Zemene Mesafint) und hat die bis heute dominierende Idee geprägt, sie sei von endlosen Kriegen und Hofintrigen geprägt gewesen.

Ein genauerer Blick zeigt aber, wie hier der Leitgedanke der äthiopischen Geschichtsschreibung, nämlich das christlich inspirierte Ideal der absoluten Einheit unter einem einzigen starken Herrscher, das Geschichtsverständnis fälschend beeinflusst: Tatsächlich zeigen lokale Überlieferungen und historische Quellen, dass zu der Zeit in zahlreichen Regionen lange Friedenszeiten anbrachen – da die im Jahresrhythmus expansiv auftretenden Königsarmeen wegfielen. Das nun unabhängige Königreich von Shewa, gelegen im Gebiet der heutigen Hauptstadt Addis Abeba und nördlich davon, konsolidierte sich unter eigenen Königen. Auch das nördliche Tigray wurde unter starken lokalen Herrschern geeinigt, und weiter nördlich in Hamasen, im heutigen Eritrea, entstand eine eigene Dynastie, die der Ad Deggiyat, die den Handel kontrollierte, während die Grenzvölker der Bilen und Mensa’, auch im heutigen Eritrea, sich soziopolitisch mit eigenen Gesetzen und Ältestenräten organisierten. Nur das historische Zentrum war von heftigen Zusammenstößen zwischen verschiedenen Fürsten geprägt, was die starke Erinnerung an Kriege in der Überlieferung erklärt.

Der Traum der Einigung blieb aber und motivierte zahlreiche Fürsten. Die zentralen Provinzen Äthiopiens, von Hamasen bis Shewa, wurden 1855 unter dem "König der Könige" Tewodros II. (Theodoros, ca. 1818/20–1868) vereinigt. Die Einigung muss wie eine Schockwelle durch die ganze Region gegangen sein: Was praktisch schon unmöglich schien, war doch möglich. Zunächst erlebte Tewodros II., der seinen größten Konkurrenten Fürst Wube (König "Ubie" in europäischen Quellen) in Gefangenschaft hielt, einen enormen Zulauf von Gefolgsleuten und Soldaten. Ein deutscher Auswanderer, Eduard Zander, wurde von ihm angestellt, um eine stehende Armee, die es bisher nicht gab, auszubilden. Der Kirche wurde gut ein Drittel ihrer Ländereien genommen, um den Staat zu finanzieren. Handwerker aus Deutschland und der Schweiz, die gleichzeitig protestantische Laienmissionare waren, wurden vom neuen Herrscher angesiedelt, um Straßen, Wagen und Kanonen zu bauen.

Innerhalb kurzer Zeit aber brach das Land auseinander: Der Neffe Wubes, Nigus Niguse, erklärte sich selbst mit Anerkennung des französischen Staates zum König Äthiopiens und kontrollierte bald den gesamten Norden, weit über das Herrschaftsgebiet Wubes hinaus bis Gonder. Nach mehreren Kriegsjahren siegte Tewodros, doch inzwischen hatte sich das Königreich Shewa wieder unabhängig gemacht und sein junger König Menelik II. nannte sich selbst "König der Könige" Äthiopiens. Die Geschichtsschreibung kennt Tewodros als "Einiger" Äthiopiens, doch tatsächlich war Äthiopien bis zur Militärdiktatur unter Mengistu Haile Mariam (Staatsoberhaupt 1977–1991) nie in so viele interne Kriege verwickelt. Tewodros forderte erfolglos britische Unterstützung und nahm 1865, frustriert, praktisch alle Europäer des Landes gefangen. Daraufhin marschierte die anglo-indische Armee in einer ungeheuren logistischen Operation in Äthiopien ein, um die koloniale Macht Großbritanniens zu demonstrieren. Zu Ostern 1868 erschoss sich Tewodros, dem inzwischen de facto alle Fürsten – außer dem des fernen Hamasen – die Gefolgschaft versagten.

Entwicklung zum modernen Staat

Unter den Kaisern Yohannes IV. von Tigray (ca. 1831/37–1889) und Menelik II. von Shewa folgte eine erfolgreiche Konsolidierung des Landes. In diesem Zusammenhang ist eine Anmerkung zum Feudalismus Äthiopiens wichtig: Anders als in modernen Diskursen suggeriert, war die Aufteilung in äthiopische Provinzen, Fürstentümer und freie Bauernrepubliken mit Ältestenräten in keiner Weise zu vergleichen mit den modernen Feudaleliten Europas, die dort starke Oligarchien bildeten und sich vom Rest der Bevölkerung weitgehend in Vermögen und Stand abschotteten. Der Feudalismus Äthiopiens, je nach Region verschieden ausgeprägt, war ein föderales System, in dem einige der lokalen Herrscherhäuser eher Bauerndynastien waren. Beruhend auf umfassenden sozialen Verpflichtungsnetzwerken gab es eine starke soziale Durchlässigkeit, etwa in Tigray. Ein Herrscher Äthiopiens musste mit diesen Regionen rechnen und war vor allem Moderator. Yohannes IV. erkannte daher die verschiedenen Fürsten an und verlieh ihnen Königstitel – ernennen konnte er nur seine engsten Minister und Gefolgsleute. Durch diese Anerkennung lokaler Autonomien schuf er eine moderate Form von Einheit.

Ein radikaler Umbruch des äthiopischen Staates, fast eine Neugründung, geschah unter Kaiser Menelik II. Die Jahre um 1888/89 waren von einer massiven Hungersnot sowie von Epidemien geprägt, bei denen große Teile der Bevölkerung des Hochlandes starben. Das ökologisch ausgelaugte und von Dürre geplagte Bauernland konnte sich kaum die Abgaben an den Kaiser leisten. Um seinen Staat zu finanzieren, entschied sich Menelik zu einem historisch einmaligen Expansionszug. Im Osten waren die Nachfolgestaaten von Adal inzwischen schwach und kontrollierten die Handelswege nur noch in Abstimmung mit Shewa – Menelik unterwarf das Emirat von Harar und übernahm so die direkte Kontrolle.

Äthiopien am Ende des 19. Jahrhunderts (© mr-kartographie, Gotha 2020)

Im Süden und Südosten lagen zum Teil erfolgreiche Handelskönigreiche der Oromo wie Jimmaa, das ökologisch hochentwickelte Kafa, dessen "Gottkönig" weite Handelsrouten kontrollierte, sowie kleinere Nachbarkönigreiche. Menelik pflegte engen Kontakt zu europäischen Kaufleuten, darunter auch zum Waffenhändler Arthur Rimbaud, dem aus Paris entflohenen früheren Poeten. Durch Elfenbeinverkäufe schuf sich Menelik ein ungeheures Vermögen, mit dem er unbegrenzt Waffen erwerben konnte, die zu weiteren Elfenbeinjagden führten und die Expansionsfeldzüge unterstützten. Gleichzeitig verbot er den Sklavenhandel nach Verhandlungen mit europäischen Ländern, führte ihn aber unter eigener Kontrolle mit arabischen Ländern weiter. Auf diese Weise gelang ihm bis in die 1890er Jahre eine Verdreifachung des Territoriums Äthiopiens (siehe Karte).

Äthiopien trat nun als unabhängiger Staat auch in die von Europa definierte Moderne ein. Mehrere europäische Mächte wie Frankreich, England und Italien hatten entlang der afrikanischen Küsten zur Versorgung ihrer internationalen Schifffahrt kleine Stationen errichtet. Italien, seit Kurzem erst ein geeinter Staat, suchte nach Kolonien und drang von der eritreischen Küstenstation Assab aus nach und nach in das Hinterland vor. 1889 schlossen die Italiener einen Freundschaftsvertrag mit Menelik II. und behaupteten seither – auf der Grundlage eines falsch übersetzten Vertrages – dass Äthiopien ein italienisches Protektorat sei. Neben dem heutigen Eritrea, das 1890 zur italienischen Kolonie erklärt wurde, kontrollierte Italien 1895 auch einen Teil des äthiopischen Fürstentums Tigray. Menelik hielt lange still und verführte die Italiener so zu einem trügerischen Optimismus, während er sich gleichzeitig mit seinen Verbündeten militärisch vorbereitete. Anfang März 1896 war die Situation für einen Angriff günstig: Lokale Spione hatten sich als kenntnisreiche Führer zur Verfügung gestellt und die italienischen Truppen in verschiedene unwegbare Täler rund um Adwa geführt. Unter großen Verlusten gelang es Menelik und den äthiopischen Fürsten, die italienische Armee weitgehend zu vernichten. Die "Schlacht von Adwa" gilt als welthistorisches Ereignis: Erstmals wurde eine europäische Armee von einer afrikanischen Armee entscheidend geschlagen. Schon bald darauf, noch 1896, wurde ein Friedensvertrag geschlossen, Äthiopien wurde als souveräner Staat anerkannt, und diplomatische Gesandtschaften aus fast allen Ländern Europas etablierten ihre Botschaften. 1923 wurde Äthiopien als einziges afrikanisches Land Mitglied des Völkerbundes.

Seither ist Äthiopien, trotz großer Verwerfungen im Zweiten Weltkrieg und schmerzhafter Regimewechsel, das Land in Afrika mit der größten Zahl internationaler Botschaften und Addis Abeba Sitz mehrerer internationaler Organisationen – darunter seit 1962 auch der Afrikanischen Union, was es gewissermaßen zur "Hauptstadt Afrikas" macht. Kaiser Haile Selassie I., der von 1916 bis 1974 regierte (zunächst bis 1930 als Regent unter dem Namen Ras Teferi), war ein begabter internationaler Diplomat. Nur während einer fünfjährigen Periode musste er weichen: Die Armeen Mussolinis griffen 1935 Äthiopien an, um ihren Kolonialtraum doch noch zu verwirklichen, und eroberten das Land unter massivem Giftgaseinsatz. Der Historiker Aram Mattioli nennt diesen Krieg, der mit dem Bruch aller internationalen Regeln einherging, ein "Experimentierfeld der Gewalt", der den Zweiten Weltkrieg praktisch und theoretisch einleitete. In diesem Krieg wurden Modelle des totalen Krieges ausprobiert, die später Hitler bei seinen Expansionskriegen nutzte. Allerdings war Äthiopien 1941 auch das erste Land, das im Zweiten Weltkrieg von den Alliierten wieder befreit wurde.

Ausblick: Kontraste und Widersprüche

An dieser Stelle ist auch ein weiterer Aspekt der antikolonialen Schlacht von Adwa zu nennen: Es waren gerade die massive Expansion in den Süden und die Nutzung der neuen Ressourcen, die den Sieg ermöglichten. Dieser Aspekt wird heute nur ungern mit der Schlacht verbunden, doch im Sinne einer neuen, alle Regionen Äthiopiens einbeziehenden Geschichtsschreibung sollte nicht unter den Teppich gekehrt werden, dass der militärische Triumph zugleich auch einen neuen, in Teilen seiner Strukturen imperialen Staat festigte.

In diesem Zusammenhang sind auch die zahlreichen öffentlichen Diskussionen interessant, die Anfang der 2000er Jahre um das Standardwerk "A History of Modern Ethiopia" geführt wurden. Der Autor, Bahru Zewde, gehört zu den führenden Historikern des Landes, und sein Buch, das auf einer umfassenden Quellenkenntnis beruht, bietet eine konsistente Geschichtserzählung mit Schwerpunkt auf dem amharisch dominierten äthiopischen Staatswesen. Gerade das erzeugte Unmut, insbesondere bei Angehörigen der Oromo, die etwas über ein Drittel der äthiopischen Bevölkerung ausmachen. Die einzig gerechtfertigte Kritik wurde indes nur selten formuliert: Das Problem sind nicht sachliche Fehler, das Problem ist die Wahl der Themen.

Das lässt sich an einem einfachen Beispiel demonstrieren. Das Reich von Kafa, in älterer europäischer Literatur als "Kaiserreich Kaffa" oder als "Reich der Gottkönige" bekannt, das über eine hierarchische Beamten- und Priesterschaft, eine eigene komplexe Religion und ausgefeilte ökologische Regelungen verfügte, verschwand bei der Expansion des Kaisers Menelik II. von Shewa in den 1880er Jahren nicht einfach so, sondern leistete über etwa drei Jahre massiven Widerstand gegen eine immer massiver agierende Soldateska. Das Ergebnis war ein teilweiser ökologischer Zusammenbruch und die vielfache Ausrottung der politischen und religiösen Eliten, die zügig durch zentraläthiopische Eliten ersetzt wurden, sowie der Tod eines bedeutenden Teils der Landbevölkerung. Im genannten Buch aber kommt Kafa, das eines der faszinierendsten alten afrikanischen Reiche war, nur auf einer halben Seite vor. Der Grund ist, dass Bahru in seinem Buch ausschließlich die äthiopische Staatsgeschichte dokumentiert und die zahlreichen alternativen Regionalgeschichten ausblendet, die die äthiopische Geschichte untergründig jedoch weiterhin prägen. Wie wirkmächtig sie bis heute sind, sieht man auch an diversen ethnischen Rebellengruppen, die sich zum Teil aus historischen Gründen nicht mit dem äthiopischen Staat identifizieren.

Dass eine neue, nicht ausschließlich an Herrschern orientierte Historiografie Äthiopiens vonnöten und gesellschaftspolitisch relevant ist, liegt auf der Hand. Die Diskussionen um die Frage, wie die verschiedenen Völker und Volksgruppen sowie die diversen früheren Staaten auf dem Gebiet des heutigen Äthiopien durch die Berücksichtigung neuer lokaler Überlieferungen besser in die Geschichtsschreibung integriert werden können, stehen indes noch ganz am Anfang.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für einen Versuch, das verfügbare historische und kulturelle Wissen wissenschaftlich zusammenzuführen, sowie ausführliche Literatur- und Quellenverweise vgl. Siegbert Uhlig et al. (Hrsg.), Encyclopaedia Aethiopica, 5 Bde., Wiesbaden 2003–2014.

  2. Vgl. Donald L. Donham/Wendy James (Hrsg.), The Southern Marches of Imperial Ethiopia. Essays in History and Social Anthropology, Cambridge 1986.

  3. Als Pionierwerk für eine Forschung, die eine rund 600 Jahre umfassende mündliche Überlieferung eines schriftlosen äthiopischen Volkes dokumentiert und analysiert, vgl. Chikage Oba-Smidt, The Oral Chronicle of the Boorana in Southern Ethiopia: Modes of Construction and Preservation of History among People without Writing, Münster 2016.

  4. Dieser ist zu Recht aus der Mode gekommen, da der Staat weit über diese abessinischen Gebiete hinausreicht. Vgl. Wolbert G.C. Smidt, The Term Ḥabäša: An Ancient Ethnonym of the "Abyssinian" Highlanders, in: Hatem Elliesie (Hrsg.), Multidisciplinary Views on the Horn of Africa, Köln 2014, S. 37–69.

  5. Zum neuentdeckten Almaqah-Tempel von Wuqro und zu diesem Begriff vgl. besonders Norbert Nebes, Die Inschriften aus dem 'Almaqah-Tempel in 'Addi 'Akawəḥ (Tigray), in: Zeitschrift für Orientarchäologie 3/2010, S. 214–237.

  6. Vgl. Wolbert G.C. Smidt, A Chinese in the Nubian and Abyssinian Kingdoms (8th Century), in: Chroniques yéménites 9/2001, S. 17–28. Eine hervorragende Übersicht bietet François-Xavier Fauvelle, Das goldene Rhinozeros: Afrika im Mittelalter, München 2017.

  7. Vgl. Verena Krebs, Medieval Ethiopian Kingship, Basingstoke 2021 (i.E.); dies., Africa Collecting Europe, Philadelphia 2021 (i.E.).

  8. Vgl. Volker Matthies, Unternehmen Magdala. Strafexpedition in Äthiopien, Berlin 2010.

  9. Vgl. Asfa-Wossen Asserate, Der letzte Kaiser von Afrika. Triumph und Tragödie des Haile Selassie, Berlin 2014. Siehe auch den Beitrag von Asfa-Wossen Asserate in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  10. Aram Mattioli, Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941, Zürich 2005.

  11. Vgl. Bahru Zewde, A History of Modern Ethiopia, 1855–1991, Oxford u.a. 20012.

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ist Postdoc am Seminar für Orientalistik der Friedrich-Schiller-Universität Jena und assoziiert als Professor für Ethnohistorie an der Mekelle University, Äthiopien. E-Mail Link: wolbertsmidt@yahoo.de