Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Zwischen Green Deal und Nord Stream | Europäische Baustellen | bpb.de

Europäische Baustellen Editorial Das Ende der Gewissheiten. Die Pandemie, der Brexit und die Zeit danach Deutschlands "Corona-Präsidentschaft". Weichenstellung für die Zukunft Europas Zwischen Green Deal und Nord Stream. Europäische Energiepolitik 2020 Droht der Polexit? Ever Closer Union? Wie sich die EU produktiv weiterentwickeln kann Den Brexit-Prozess erklären: Neuland für die EU-Forschung Historische Beispiele für regionale Desintegration

Zwischen Green Deal und Nord Stream Europäische Energiepolitik 2020

Kirsten Westphal

/ 17 Minuten zu lesen

Die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen hat sich dem Ziel eines klimaneutralen Kontinents bis 2050 verschrieben. Da der von ihr angekündigte "Green Deal" nicht nur die EU umfasst, sondern von Europa spricht, ist dabei sowohl die Binnen-, als auch die Außendimension zu berücksichtigen. Die Ende November 2019 gewählte Kommission möchte in ihrer Amtszeit bis 2024 eine globale Führungsrolle der EU umsetzen und geopolitisch agieren. Der "Green Deal" steht außerdem für die neue Wachstumsstrategie der EU. Die Energietransformation in Europa ist somit ein prioritäres Ziel, denn dort sind große Einsparungen klimaschädlicher Emissionen zu erreichen.

Diese Baustelle ist nicht neu: Schon unter von der Leyens Vorgänger Jean-Claude Juncker war die Energieunion eine der zehn Prioritäten der Kommission. Der Blick zurück verdeutlicht die Herausforderungen, vor denen die EU-Kommission in der Energiepolitik steht, denn häufig überdecken Formelkompromisse substanzielle Differenzen nur unzureichend. Der Blick nach vorn ist durch die Corona-Pandemie getrübt, die die Uneinigkeiten in Europa noch verstärken kann, das Prinzip der Solidarität weiter aufgeladen hat und deren Bewältigung große politische und finanzielle Ressourcen binden wird.

Große Herausforderungen

Mit dem europäischen "Green Deal" wird das Ziel angepeilt, bis 2050 klimaneutral zu sein, zugleich wird eine Wachstumsstrategie formuliert, die Klima- und Umweltschutz in den Mittelpunkt rückt. Diese neue grüne Strategie für Umwelt, Industrie und Wirtschaft soll langfristig einen verlässlichen Rahmen für Investitionen schaffen. Außerdem soll die Wirtschaft der EU im internationalen Wettbewerb gestärkt und gleichzeitig resilienter auch gegen Klimafolgen gemacht werden. Innovationen in Schlüsselsektoren gelten als entscheidende Bausteine für den Erfolg.

Zu den Hauptkomponenten zählen 2020 ein Vorschlag für ein Klimagesetz, das das Ziel der CO2-Neutralität bis 2050 festschreibt; der Just Transition Mechanism, der auch einen Fonds umfasst, der die Folgen der wirtschaftlichen Umstellung auf Klimaneutralität und Kreislaufwirtschaft abfedern soll. Vor allem aber sieht der European Sustainable Investment Plan die Bereitstellung von Finanzmitteln von einer Billion Euro in den Umbau des Wirtschafts- und Energiesystems bis 2030 vor. Hinzu kommen eine neue Biodiversitätsstrategie für 2030 und ein Aktionsplan für eine verbesserte Kreislaufwirtschaft, der Teil der neuen Industriestrategie ist. Die im März 2020 vorgestellte Industriestrategie unterstreicht die Bedeutung der sozialen Marktwirtschaft in Europa und hat zum erklärten Ziel, die europäische Industrie im globalen Kontext wettbewerbsfähig zu halten.

In der engeren Energie- und Klimapolitik ist geplant, bestehende Mechanismen nachzujustieren: So sollen die Reduktionsziele bei den klimaschädlichen Emissionen bis 2030 auf minus 50 Prozent gegenüber dem Emissionsniveau von 1990 nach oben gesetzt, das Emissionshandelssystem (ETS) in der EU "wo nötig" im Energie- und Industriesektor überprüft und eventuell auf den Transport- und Gebäudesektor ausgeweitet sowie die Ziele der Mitgliedstaaten in Sektoren außerhalb des ETS überprüft werden. In die Mobilitätsstrategie sollen weitere Maßnahmen integriert werden, die den Transport über Land, Wasser und Luft nachhaltiger gestalten – unter anderem durch sauberere Kraftstoffe sowie den Ausbau der Elektroladeinfrastruktur und des Schienentransports.

Außerdem nimmt der "Green Deal" die Nahrungsmittelproduktion und Landwirtschaft sowie die Chemieindustrie in den Fokus. Nicht zuletzt müssen darüber hinaus noch Strategien und Maßnahmen zur Förderung grüner Investitionen aus privater und öffentlicher Hand entwickelt werden. Kurz: Es geht es um eine neue Wachstumsstrategie, die die europäische Wirtschaft nachhaltiger und resilienter machen und sie in Einklang mit den Pariser Klimazielen bringen soll. Die EU steht damit vor einer "großen Transformation" in einer Art und Weise, wie sie der Wirtschaftshistoriker und Sozialwissenschaftler Karl Polanyi beschrieb – sie soll und wird das politische, wirtschaftliche und soziale Miteinander von Grund auf verändern und ist mit enormen Strukturbrüchen, Umverteilungseffekten und Systemumwälzungen verbunden.

Angesichts der präzedenzlosen Umbauaufgabe schlagen hohe Vorab-Investitionen zu Buche, auch wenn die langfristigen Transformationsdividenden von menschlicher Sicherheit und Gesundheit bis zu geringen operativen Kosten von erneuerbaren Energien reichen, die quasi zum Nulltarif zu ernten sind. Hier stellt sich die Frage nach europäischer Wettbewerbsfähigkeit ganz akut, während auf lange Sicht aus einem erfolgreichen grünen Wachstumsmodell große Chancen erwachsen. Der europäische "Green Deal" erfolgt in einer Zeit, in der die Weltwirtschaft durch wachsende geoökonomische Rivalitäten und vor allem US-amerikanisch-chinesische Konkurrenz geprägt ist. Das trägt nicht nur zur wachsenden Erosion der liberalen Ordnung und ihres Regelsystems bei, sondern auch zur Orientierung auf kurzfristige relative Wettbewerbsvorteile.

Für die EU hat dies weitreichende Konsequenzen, denn als Rechtsgemeinschaft ist sie auf eine regelbasierte, normgebundene Umwelt ausgerichtet. Zudem ist der EU-Binnenmarkt in die globalisierte Weltwirtschaft, die internationale Arbeitsteilung und wechselseitige Abhängigkeiten eingebunden. Nun aber verstärken sich Tendenzen von Entkopplung, Deglobalisierung und Protektionismus. Wirtschaftliche Stärke und technologische Vorherrschaft werden als Machtwährung verstanden und instrumentalisiert. Vor allem aber kommen der EU die großen Partner für Klimaschutz und Energietransformation abhanden. Die Fokussierung auf nationale Interessen lässt die Zusammenarbeit für das Gemeinwohl und globale öffentliche Güter wie das Klima verkümmern.

Bei der Krise des Multilateralismus fällt vor allem die schwächelnde transatlantische Partnerschaft ins Gewicht. US-Präsident Trump verfolgt einen protektionistischen Kurs des "America First" und hat von der Rolle der Weltordnungsmacht Abschied genommen. Die EU muss deswegen eine Führungsrolle einnehmen, um eine bessere globale Ordnung zu schaffen, für offenen und fairen Handel einzutreten und das Klima zu schützen, was eine geopolitisch denkende und agierende Europäische Kommission erfordert. Eine Abstimmung mit Partnern ist für die Wettbewerbsfähigkeit entscheidend. Der Konsens über eine Energietransformation in der EU ist jedoch brüchig, was wiederum ihren regulatorisch-normativen Einfluss und ihre (Markt-)Macht schwächt; dies sowohl mit Blick auf das alte – konventionelle – Energiesystem als auch auf die neue technologiegetriebene Energiewelt.

Allerdings sah auch schon Jean-Claude Juncker 2016 die Energieunion mit ihrem Binnenmarkt und der Energietransformation nach einem Jahrzehnt der Krisen als eine Grundlage für Wachstum und sozioökonomischen Zusammenhalt. Hieran knüpft die Kommission unter von der Leyen mit dem "Green Deal" und dem geopolitischen Anspruch nahtlos an. Die neue Kommissionspräsidentin sieht sich indes wenige Monate nach ihrer Amtsübernahme der Corona-Krise gegenüber. Es ist zu erwarten, dass die politischen und sozioökonomischen Folgen auch die Energiepolitik der EU prägen werden. So ist anzunehmen, dass die Pandemie bestehende Trends beschleunigen und vertiefen kann und sich Fragen um soziale Umverteilung und europäischen Zusammenhalt verstärkt stellen werden – auch wenn der "Green Deal" das Leitthema für einen "Marshall-Plan für Europa" sein soll und Solidarität "das Herz" der Union. Wie also ist es um den Status quo der Energiepolitik bestellt?

Eine Baustelle, mehrere Pläne und viele Architekten

Über zwei Jahrzehnte lang war das Leitbild für die EU-Energiepolitik das strategische Zieldreieck von Klima- und Umweltverträglichkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit. Mitunter wurde das Dreieck auch eher als Trilemma gesehen, da Maßnahmen, um ein Ziel zu erreichen, ein anderes Ziel konterkarieren können. So wird häufig die Verwendung heimischer Braunkohle mit Versorgungssicherheit begründet, was aber gleichzeitig negative Auswirkungen auf das Klima hat.

Die Mitgliedstaaten haben innerhalb dieses Zieldreiecks unterschiedliche Präferenzen, die die jeweiligen nationalen Ausgangsbedingungen im Energiemix, die historisch-technischen Gegebenheiten und die wirtschaftliche Ausgangslage widerspiegeln. Das erklärt auch, warum die EU-Energiepolitik durch Konfliktlinien geprägt ist, die die Konsensfindung im EU-Rahmen immer wieder zu einer Herausforderung gemacht haben.

Hinzu kommt, dass sich die Energiepolitik langsam entwickelt hat und im Laufe der Jahre neue Mitgliedsländer mit unterschiedlichen historischen Erfahrungen und Zukunftsvorstellungen hinzugekommen sind. Stand 1951 am Beginn der europäischen Integration die gemeinsame Kontrolle über die auch militärisch-strategisch bedeutsamen Sektoren Kohle und Stahl sowie 1957 die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom), um die Sicherheit und Kontrolle radioaktiver Materialien und die friedliche Nutzung der Kernenergie zu gewährleisten, so geriet die Energiepolitik danach für viele Jahre aus dem Fokus. Die Strom- und Gasinfrastruktur wurde von den Mitgliedstaaten als strategisch wertvolles öffentliches Gut aufgebaut, ausgebaut und betrieben. Die Pfadabhängigkeiten von damals wirken heute noch weiter, da die drei Energie-Binnenmarktpakete von 1996/1998, 2003 und 2007, um einen gemeinsamen und liberalisierten Markt zu schaffen, ungleichzeitig und in den Mitgliedsländern nicht mit der gleichen Konsequenz umgesetzt wurden. Brüssel aber erweiterte damit sein Politikportfolio schrittweise auf den Energiebereich.

Die Umwelt wurde mit dem Vertrag von Amsterdam 1997 zu einem Zuständigkeitsbereich der EU und das Umweltkapitel zum rechtlichen Bezugspunkt für erneuerbare Energien und die Einführung des Emissionshandelssystems 2005. Energiesicherheit schaffte es sehr spät auf die Agenda. Nach der Osterweiterung 2004 trieben die neuen Mitgliedstaaten das Thema voran, und so wurde Energiesicherheit 2005 zu einem gleichrangigen Ziel mit Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit. Einen klimapolitischen Grundstein legte auch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2007. Das Jahr markiert nämlich den Beginn einer gemeinsamen integrierten Energie- und Klimapolitik.

Erst 2009, mit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages, wurde Energie überhaupt ins Primärrecht aufgenommen (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV). Damit ging auch eine Kompetenzverlagerung einher: Seitdem ist die Energiepolitik zu einer geteilten Zuständigkeit zwischen der Union und den Mitgliedstaaten geworden. In Rückbesinnung auf die Ziele des Binnenmarktes sowie der Erhaltung und Verbesserung der Umwelt sind in Artikel 194 Absatz 1 AEUV folgende Ziele festgelegt: a) Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarktes, b) Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit in der Union, c) Förderung der Energieeffizienz und von Energieeinsparungen sowie Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen und d) Förderung der Verbindung der Energienetze.

Darüber hinaus wurde das Solidaritätsprinzip in Artikel 122 AEUV zum Bestandteil des europäischen Primärrechts. Gleichzeitig aber behalten die Mitgliedstaaten nach Artikel 194 Absatz 2 AEUV das Recht, souverän über ihren Energiemix zu entscheiden: "Diese Maßnahmen berühren (…) nicht das Recht eines Mitgliedstaats, die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, seine Wahl zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung zu bestimmen." Der Artikel 194 AEUV schafft also ein gewisses Spannungsverhältnis, denn Energiepolitik wird immer noch von der nationalen Politik und den Präferenzen der Mitgliedstaaten dominiert, die unterschiedliche Prioritäten, Steuerungsinstrumente und Eigentumsverhältnisse aufweisen.

Im "Green Deal" wird letztlich Energiepolitik nicht mehr in drei gegenüberliegenden Zielen, sondern in überlappenden Kreisen gedacht. Dieses Leitbild unterstreicht die Querverbindungen und Synergien: Wenn Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt gestellt wird, werden aus wirtschaftlicher Sicht auch die externen Kosten berücksichtigt. Der Blick zurück auf die Schaffung der Energieunion legt allerdings offen, dass Synergien zwischen den Zielen häufig eher zufällig als bewusst erzeugt wurden. Die Zielpräferenzen der Mitgliedstaaten im Aushandlungsprozess auszutarieren, bindet viele politische Ressourcen und führt zu "prekären Formelkompromissen".

Energieunion: Fundament für den Green Deal?

Die Idee, eine Energieunion zu schaffen, wurde vom damaligen polnischen Premierminister Donald Tusk in Reaktion auf die russische Annexion der Krim 2014 politisch lanciert. Tusk griff eine vier Jahre alte Idee des ehemaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors und des damaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments Jerzy Buzek auf, um die mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten besser in eine gemeinsame Energiesicherheitsordnung zu integrieren. Hauptmotiv war der Wunsch der neuen Mitgliedstaaten nach mehr Souveränität in der Energieversorgung und weniger Abhängigkeit von Russland.

Im Februar 2015 leitete Jean-Claude Juncker dann die Schaffung der Energieunion ein. Das "Paket zur Energieunion" unterscheidet sich aber ganz wesentlich vom ursprünglichen Konzept Tusks. So umfasst es fünf Dimensionen, die den unterschiedlichen energiepolitischen Präferenzen der Mitgliedsländer Rechnung tragen sollen:

  • Energiesicherheit sowie Solidarität und Vertrauen;

  • vollständige Integration des Energiebinnenmarktes;

  • Verbesserung der Energieeffizienz;

  • Klimaschutz und Dekarbonisierung der Wirtschaft (nicht zuletzt durch den verstärkten Einsatz erneuerbarer Energien);

  • Forschung, Innovation und Wettbewerbsfähigkeit.

In der politischen Praxis wurde allerdings immer deutlicher, wie weit die Positionen der Mitgliedstaaten auseinanderlagen, von der Konzentration auf Energiesicherheit bis zur starken Betonung von Energieeffizienz und Klimawandel. Die Kommission wiederum versuchte bereits seit 2014, eine zunehmend politische Rolle auszufüllen, mehr Kompetenzen in Brüssel zu bündeln und die Schlagkraft der Union über Regulierung und Marktmonitoring hinaus zu erhöhen. Dies führte zu wachsenden Spannungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten und der Kommission. Einige Staaten lehnten die Kompetenzverlagerung kategorisch ab, einige befürworteten eine Bündelung in bestimmten Politikbereichen, während andere generell einen stärkeren Ansatz der Union in Energiefragen befürworten, nicht aber den (außen-)politischen Ansatz. Eine deutliche und dauerhafte Konfliktlinie zeichnete sich in Fragen der Energietransformation und Dekarbonisierung ab. Während die nordwesteuropäischen Mitgliedstaaten eine zügige und konsequente Energiewende befürworteten, bremsten die sogenannten Visegrád-Staaten (Polen, Tschechische Republik, Slowakei und Ungarn) sowie Bulgarien und Rumänien. Sie wollten Versorgungssicherheit prioritär behandelt wissen und sprachen sich gegen eine stärkere Reduktion von Treibhausgasemissionen aus.

Mit dem sogenannten Winterpaket 2016 "Saubere und sichere Energie für alle Europäer" leitete die Kommission einen Paradigmenwechsel ein: von der Versorgungssicherheit hin zum Endverbraucher. Verbraucherrechte wurden gestärkt, aber auch die Energieeffizienz, zum Beispiel von Gebäuden, wurde stärker in den Fokus genommen. In der Folge wurde bis Anfang 2019 eine ganze Reihe von Verordnungen und Richtlinien verabschiedet. Dieser Wandel ist insofern spannend, als das zentrale Ziel der Versorgungssicherheit mit Blick auf die Energietransformation und eine zunehmende Elektrifizierung neu definiert wurde. Zudem wurden Steuerungsinstrumente und -prozesse entwickelt, wonach die Mitgliedstaaten die Souveränität über ihren Energiemix zwar behalten, die Kommission aber doch Mechanismen einführt, um fehlende Kompetenzen zu überbrücken und eine Europäisierung der Energie- und Klimaziele voranzutreiben. Kernstück ist der Governance-Mechanismus, der von den Mitgliedstaaten verlangt, integrierte Nationale Energie- und Klimapläne (NECP) mit einer Zehnjahresperspektive und eine Strategie für niedrige Emissionen mit einer Fünfzigjahresperspektive zu entwerfen. Damit bekommt die Kommission wichtige Hebel an die Hand. Allerdings ist es noch zu früh, um vorherzusagen, ob der Mechanismus hinreichend dazu beiträgt, die europäischen Ziele zu erfüllen – und erst recht, wie er mit dem "Green Deal" und den internationalen Klimaprozessen verzahnt wird.

2016 hatte die Kommission zudem ein Paket zur nachhaltigen Energiesicherheit vorgelegt, um auch diesem Ziel Genüge zu tun. Unter dem Eindruck der Herausforderung durch Russland hatte sich seit 2014 nämlich eine sicherheitspolitische Konfliktlinie in der EU aufgetan, die im Streit um das deutsch-russische Pipeline-Projekt "Nord Stream 2" wie unter einem Brennglas nochmals deutlicher sichtbar wurde. Die unterschiedlichen Interessen bewegten sich dabei in einem Spannungsfeld zwischen dem etablierten marktwirtschaftlichen Ansatz und einer "Versicherheitlichung" von Energie, was mit staatlichem Interventionismus und der Verknüpfung mit harten Sicherheitsfragen einhergeht.

Nord Stream 2: Kompetenzgerangel und veränderte Leitprinzipien

Die Ankündigung des "Nord Stream 2"-Projektes im Sommer 2015 durch Gazprom und eine Reihe europäischer Gasfirmen war nicht nur wegen des Zeitpunktes geopolitisch sehr sensibel – die Annexion der Krim war erst ein Jahr her und die Energieunion bereits in Planung –, sondern auch, weil die neue Pipeline, die fast parallel zur "Nord Stream 1" durch die Ostsee verlaufen soll, dazu beitragen wird, den Transit durch die Ukraine zu umgehen oder zumindest zu reduzieren. Der Bau der Pipeline bedeutet in mehrfacher Hinsicht eine Zäsur in der europäischen Energiepolitik.

Während eine Reihe von Mitgliedstaaten, darunter auch der Anlandestaat Deutschland, immer den wirtschaftlichen Charakter der Pipeline hervorgehoben haben, nahmen andere das Projekt vor allem durch die geopolitische Linse und als widersprüchlich zu den Diversifizierungsbemühungen der EU wahr. Die Konfliktlinien verlaufen tief und quer durch die EU. Polen, die baltischen Staaten und die nordischen Länder wurden in ihren Bemühungen, das Projekt zu stoppen, zum Teil von der Kommission in Brüssel, aber vor allem von den USA unterstützt. Ende 2019 kam denn auch der Bau der Pipeline infolge nochmals verschärfter US-Sanktionen erstmal zum Stopp.

Diese Gemengelage droht die EU auf dem Gasmarkt zu spalten, hinterlässt tiefe Spuren im Miteinander und schwächt die EU nach außen. So sind zwölf mittelosteuropäische Länder mit der sogenannten Drei-Meere-Initiative und Unterstützung der USA darum bemüht, eine Anbindung an die überseeischen Flüssigerdgasmärkte zu schaffen und sich auf diese Weise vom russischen Gas unabhängiger zu machen – allerdings in gewisser Abschottung zum nordwesteuropäischen Markt. Die Interessen- und Deutungskonflikte gehen aber über Gasfragen hinaus. Die Unversöhnlichkeit der Positionen reicht mittlerweile so weit, dass unklar ist, inwieweit "Nord Stream 2" die Kompromissbereitschaft in anderen Fragen unterminiert. Jedenfalls bietet das Pipeline-Projekt anderen Mitgliedstaaten einen Referenzpunkt, um etwa mit den USA oder auch China – seit 2012 wird jährlich ein China-Mittelosteuropa-Gipfel abgehalten ("17+1-Format") – exklusive Partnerschaften zu suchen. Eine selbstbewusste und eigenständige Positionierung der EU in einer zunehmend von geoökonomischen Rivalitäten und der Krise der regelbasierten multilateralen Ordnung geprägten Welt wird dadurch fast a priori unterminiert. Die Aussichten für eine geopolitische Führungsrolle, die auf eigenständige Positionen fußt, sind so getrübt.

Im Zusammenhang mit "Nord Stream 2" gab es zudem Kompetenzgerangel zwischen Berlin und Brüssel hinsichtlich der Frage, ob und wie die Regeln des Dritten Binnenmarktpaketes, das 2009 in Kraft getreten ist, über das EU-Territorium hinaus in Hoheitsgewässern und ausschließlichen Wirtschaftszonen anzuwenden wären beziehungsweise ausgedehnt werden könnten. Während Deutschland davon ausging, dass die Pipeline als ein Interkonnektor, der Russland mit dem EU-Markt verbindet, internationalem Recht auf See und dann deutscher Jurisdiktion unterliegen würde, beharrte die Kommission darauf, die Pipeline den Entflechtungsregeln des Dritten Binnenmarktpaketes zu unterwerfen. Laut diesen Regeln müssen Rohrleitungen unabhängig betrieben werden und Zugang für Dritte gewähren. Deutschland zog sich damit auf den rechtlichen Status quo zurück, die EU Kommission stellte die politischen Ziele der Energieunion von Sicherheit, Solidarität und Vertrauen in den Mittelpunkt. Jenseits des rechtlichen Kompetenzgerangels ging es inhaltlich darum, ob die Pipeline überhaupt gewollt ist und wie der Bau verhindert werden könne beziehungsweise wirtschaftlich unattraktiv würde. Diese Fragen rührten in letzter Konsequenz an Substanz und Ziele von Regulierung. In der Vergangenheit war es um die Schaffung eines integrierten Wettbewerbsmarktes gegangen, nun wurden auch außen- und sicherheitspolitische Erwägungen einbezogen.

"Nord Stream 2" ist somit zu einem Dreh- und Angelpunkt für die diffuse Autorität und geteilte Kompetenzen in der EU geworden: Die traditionellen Methoden der konsensualen Energiepolitik scheiterten an den beschriebenen Differenzen. Dahinterliegend ging es auch um die Frage, ob die Regulierung zu einem Mittel der Geopolitik werden sollte, statt weiterhin dem Marktliberalismus verhaftet zu bleiben.

Im Februar 2019 wurde schließlich eine Änderung der Gasrichtlinie verabschiedet, die das Dritte Binnenmarkpaket entsprechend ausdehnt und drei Möglichkeiten vorsah: entweder seine Umsetzung in den Küstengewässern der EU, eine Freistellung von der Regulierung oder eine Ausnahmegenehmigung für geplante Pipelines. Im Ergebnis überbrückte die Kommission die Kluft zwischen den Mitgliedstaaten, aber auf Kosten der Politisierung des regulatorischen Instrumentariums und der Ausweitung ihrer Autorität auf die externe Energiesicherheit. Es bleibt somit abzuwarten, wie die Saga über "Nord Stream 2" weitergehen wird. Berlin, das von Anfang an eine marktliberale und auf dem damals bestehenden Regulierungsrahmen basierende Haltung eingenommen hat, wurde in seinem Handlungsspielraum jedenfalls beschränkt.

"Nord Stream 2" ist auch mit Blick auf die Verrechtlichung des Solidaritätsprinzips von Bedeutung: Im Rahmen des Pakets zur nachhaltigen Energiesicherheit wurde in der neuen Verordnung über Maßnahmen zur Gasversorgungssicherheit das Solidaritätsprinzip erstmals in das Sekundärrecht eingeführt. Noch weitreichender aber dürfte die Rechtsprechung des Europäischen Gerichts mit Blick auf die Ausnahmegenehmigung der Ostsee-Pipeline-Anbindungsleitung (OPAL) an "Nord Stream 1" sein. Darin wurde die Auslegung des Solidaritätsprinzips nachjustiert und als Kriterium für administrative Genehmigungsverfahren definiert. Im Ergebnis ist Solidarität nicht mehr nur politisches Leitbild, sondern als Kriterium für administrativ-regulatorische Entscheidungen etabliert. Solidarität ist damit in Verwaltungshandeln verlagert und zum Teil dem politischen Aushandlungsprozess entzogen worden. Insofern zeichnet sich deutlich ab, dass das Solidaritätsprinzip – das durch die Corona-Pandemie zusätzlich aufgeladen wurde – auch für die Ausgestaltung des "Green Deal" eine große Rolle spielen wird, insbesondere mit Blick auf eine gerechte Energietransformation und den Zusammenhalt in der EU.

In der Debatte um "Nord Stream 2" gewann auch die Diskussion, inwieweit neue fossile Infrastrukturen angesichts des Pariser Klimaschutzabkommen überhaupt noch gebaut werden sollten, vor allem in Deutschland an Fahrt. Diese Frage wird sich in Zukunft generell bei der Infrastrukturplanung und auch bei der Umsetzung des "Green Deal" stellen. Dabei wird die große Kluft zwischen den ambitionierten Klimazielen – die dennoch nicht reichen, um Klimaneutralität zu erreichen – und den eigentlichen Energieverbrauchspfaden deutlich.

Ausblick

Aus dem Blick zurück Schlüsse für die Zukunft zu ziehen, fällt angesichts der Pandemie und der damit verbundenen großen Unwägbarkeiten schwer. Mit Ausblick auf die kommenden Monate und Jahre lässt sich aber sagen, dass das skizzierte Spannungsverhältnis zwischen "Green Deal" und "Nord Stream 2" in seinen Facetten die Energiepolitik der EU weiterhin prägen wird.

Der "Green Deal" bietet die Möglichkeit, Klima-, Energie-, Industrie- und Technologiepolitik strategisch zusammenzudenken. Gleichzeitig muss auch für den Übergangszeitraum die Versorgung mit fossilen Brennstoffen weiter gewährleistet werden, ohne diese zu perpetuieren. Nun hat die Pandemie die Kommission zurück in den Krisenmodus des vergangenen Jahrzehnts geworfen. Aber es gibt dennoch und umso bessere Gründe, Nachhaltigkeit und Resilienz zu wichtigen Kriterien für den geforderten Marshall-Plan zu machen. Gerade wenn staatliche Gelder in Industrien und Sektoren fließen, werden transparente Umwelt- und Klimakriterien zugrunde gelegt werden müssen.

Die EU muss sich in einer zunehmend von Rivalitäten geprägten Weltwirtschaft behaupten. Solidarität wiederum bedingt eine gerechte Energiewende, die dem Versprechen vom grünen Wachstum und grünen Jobs auch Fakten folgen lassen muss. Für die Zukunft Europas ist das unabdingbar. Die liberale Ordnung ist nicht nur global unter Druck, sondern wird auch im Inneren der EU ausgehöhlt, und allzu oft fallen die Konfliktlinien Nationalismus und Populismus mit Klimaskepsis und konservativer Energiepolitik zusammen.

ist promovierte Politikwissenschaftlerin und leitet bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin das Projekt "Geopolitik der Energiewende". E-Mail Link: kirsten.westphal@swp-berlin.org