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Ever Closer Union? | Europäische Baustellen | bpb.de

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Ever Closer Union? Wie sich die EU produktiv weiterentwickeln kann

Ulrich Brasche

/ 17 Minuten zu lesen

Von der Europäischen Union wird gemeinhin viel erwartet, sie hat hohen Ansprüchen zu genügen und vielfältige Anforderungen zu erfüllen: Sie soll ihre Bürgerinnen und Bürger sowie deren Grundrechte schützen, wirtschaftlichen Erfolg herbeiführen, Frieden sichern, die Außengrenzen kontrollieren, schwache Regionen fördern, die Einhaltung demokratischer Standards und "europäischer Werte" sicherstellen und vieles mehr. Gleichzeitig soll sie die Vielfalt von Kulturen und Lebensauffassungen respektieren und sich nicht in die Souveränität der Mitgliedstaaten einmischen. Diese komplexen Erwartungen kann die EU in ihrer jetzigen Verfassung jedoch nicht erfüllen, denn sie hat weder das Mandat noch die erforderlichen Mittel dafür. Statt von stärkerer überstaatlicher Zusammenarbeit und Vertiefung ist die Europäische Integration in den vergangenen Jahren zudem von Stagnation geprägt. Der Brexit bedeutet gar einen erheblichen Rückschritt. Möchte man diese "Sklerose" überwinden und die Union produktiv weiterentwickeln, bedarf es kühner Schritte, auch wenn damit Risiken verbunden sind.

Die Europäische Integration ist ein ständiger Prozess, der von der Bereitschaft aller Mitglieder abhängt, Probleme gemeinsam anzugehen und dafür Teile der nationalen Souveränität an "Brüssel" abzugeben. Sie hat bisher vor allem Märkte und Währungen unter das gemeinsame Regelwerk der Europäischen Verträge gestellt, die die EU einerseits ermächtigen, andererseits aber auch ihre Flexibilität begrenzen. Das in den Verträgen festgelegte Mandat kann nur einstimmig erweitert werden. Die Welt hat sich seit den Anfängen der Union jedoch stark verändert. Zu den drängenden Themen gehören heute Klima und Umwelt, Demografie und Migration, geopolitische Verschiebungen, gesellschaftliche Spaltungen und die noch nicht bewältigte Finanzkrise ab 2008. Mit der Corona-Pandemie und ihren Folgen ist in diesem Jahr ein weiteres drängendes Problem hinzugekommen. Mit all diesen Themen sind neue Herausforderungen für Wirtschaft und Politik verbunden. Die bestehenden Verträge bieten für viele dieser Probleme und neu auftretende Krisen jedoch kaum konkrete Verfahren oder Mittel zu deren Bearbeitung oder gar Bewältigung. Wichtige Politikbereiche sind nicht vergemeinschaftet, was in Krisenzeiten besonders ins Auge fällt – aktuell etwa im Falle der Gesundheitspolitik.

Im Folgenden werde ich der Frage nachgehen, wie sich die EU unter diesen Voraussetzungen produktiv weiterentwickeln könnte.

Vorrang für "europäischen Mehrwert"

Die EU sollte sich auf Aufgaben konzentrieren, bei denen sie einen "europäischen Mehrwert" schaffen kann. Dazu müssen mindestens die drei folgenden Kriterien erfüllt sein.

  1. Es müssen Größenvorteile entstehen: Manche Aufgaben lassen sich besser oder effizienter in größeren Einheiten erledigen. Dies gilt etwa für den Ausbau von Infrastruktur, für Technologieentwicklung oder Militärgüter.

  2. Es muss sich um Gemeinschaftsgüter handeln: Dies ist gegeben, wenn die Nutzbarkeit eines Gutes oder einer Dienstleistung nicht abnimmt, wenn die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer zunimmt. Außerdem kann niemand von der Nutzung ausgeschlossen werden, selbst wenn kein Beitrag zur Finanzierung geleistet wird. Beispiele für solche Güter sind Sicherheit und Forschung.

  3. Es muss grenzüberschreitende Wirkungen geben: Dies ist der Fall, wenn das Handeln (oder Unterlassen) in einem Land bedeutsame Auswirkungen jenseits der eigenen Grenzen hat. Dies ist etwa bei Umweltthemen häufig der Fall.

Aus diesen drei Kriterien allein kann jedoch keine einvernehmliche Zuordnung eines Politikfeldes zur Zuständigkeit der EU abgeleitet werden. Denn immer wieder stehen "ökonomische Vernunft" und politische Vorstellungen der Bürgerinnen und Bürger konträr zueinander. So sprechen etwa die Größenvorteile und die grenzüberschreitenden Effekte für eine gemeinsame Entwicklung, Herstellung und den gemeinsamen Verkauf von Rüstungsgütern, während die unterschiedlichen nationalen Präferenzen in der Außen- und Verteidigungspolitik nur eine nationale Zuständigkeit zulassen. Ähnliches trifft auf die Finanzpolitik oder die Rolle des Staates in der Wirtschaft zu.

Immer enger, immer besser?

Häufig wird die Vollendung einer "ever closer union" für erstrebenswert oder gar erforderlich gehalten. Schon im Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Römische Verträge, 1957) ist vom "festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen" die Rede. Die Entschlossenheit, "den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas" weiterzuführen, wird auch im Vertrag über die Europäische Union bekundet (Vertrag von Lissabon, 2009). Damit verbindet sich die Hoffnung, dass eine europäische Zentralgewalt frei von negativen Ausprägungen des Nationalismus sei und nur das gemeinschaftliche Wohl vertrete. Die Konflikte zwischen Nationalstaaten, die sich in zwei Weltkriegen fürchterlich entfaltet hatten, sollten überwunden werden. So proklamierte Winston Churchill in einer Rede im Herbst 1946 die "Vereinigten Staaten von Europa" als das Ziel einer friedlichen Union. Unklar und umstritten bleibt bis heute, ob es sich um eine "Union der Völker" oder eine "Union der Staaten" handeln sollte, ob also zwingend ein föderaler EU-Staat das Ziel sein sollte.

In ausgewählten Bereichen hat sich die EU durchaus in Richtung einer "engeren Union" bewegt. So sind beispielsweise die Regulierung des grenzüberschreitenden Austauschs von Gütern, Dienstleistungen, Arbeitskräften und Kapital, die Wettbewerbsaufsicht sowie die Währung nicht mehr in der Hoheit der Mitgliedstaaten. In allen anderen Bereichen haben die Staaten jedoch ihre Souveränität nicht aufgegeben, sondern sind allenfalls zur gegenseitigen Abstimmung und Kooperation im Rahmen der Verträge bereit. Selbst wenn die Verlagerung der Zuständigkeit zur EU einen "europäischen Mehrwert" verspricht, so blieben die folgenden Probleme ungelöst.

Zu viel versprochen? In vielen Politikbereichen bleibt auch auf nationaler Ebene der erwünschte Erfolg bislang aus. So sind weder die Beseitigung der großen regionalen Wohlstandsunterschiede, noch die Bewältigung der Finanzkrise oder der aktuellen Infektionskrise, noch die Steuerung der Konjunktur in den Mitgliedstaaten befriedigend gelungen. Dies liegt teilweise an einer generellen Überschätzung der Leistungsfähigkeit der Politik in komplexen Gesellschaften. Warum aber sollte sich diese Leistungsfähigkeit grundsätzlich erhöhen, wenn Politik und Verwaltung über Staatsgrenzen hinweg zentralisiert sind? Allenfalls, wenn ein einzelnes Land von einem negativen Schock betroffen ist und sich in einem Verbund mit anderen Mitgliedstaaten befindet, kann sich eine Zentralisierung nach dem Versicherungsprinzip als überlegen erweisen. Eine "Versicherung" sollte allerdings nur unter Partnern abgeschlossen werden, die die gleiche Schadenswahrscheinlichkeit haben; andernfalls kommt es zu ungeplanten beziehungsweise politisch ungewollten Transfers.

Zu ungleich für Gemeinsamkeit? Die Gesellschaften der Mitgliedstaaten – von Finnland bis Griechenland, von "Ost" bis "West" – unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Die Unterschiedlichkeit ihrer Geschichte, Traditionen, Lebensauffassungen, Spezialisierungen, Präferenzen, Wirtschaftskraft und Probleme macht die in den Verträgen respektierte "Einheit in der Vielfalt" aus. Gleichzeitig werden dadurch einheitliche Regeln und Lösungen schwerlich als angemessen akzeptiert. Während die einen eher sparsam wirtschaften, sehen andere in einer großzügigeren Ausgabengestaltung des Staates den richtigen Weg. Auch zum Verkauf und Einsatz von Militärtechnik zur Sicherung geostrategischer Interessen gibt es unter den Mitgliedern unvereinbare Positionen, obwohl dies ein Politikbereich ist, der – mit Blick auf den möglichen "europäischen Mehrwert" – idealerweise zentral verantwortet werden sollte.

Akzeptanz für eine Transferunion? Aus wirtschaftspolitischer Perspektive könnte es in einer "engeren Union" zum Beispiel eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung, eine Absicherung von Bankkonten sowie eine gemeinschaftliche Haftung für Staatsschulden und Fiskalpolitik geben, für die ein "Europäischer Finanzminister" mit ausreichenden Mitteln aus den Mitgliedstaaten ausgestattet werden müsste. Da die Unterschiede hinsichtlich des Wohlstands und der Wirtschaftskraft unter den 27 Mitgliedstaaten erheblich sind, würde daraus eine "Transferunion" von den "Reichen" zu den "Armen" entstehen. Voraussetzung dafür wäre eine demokratisch legitimierte Zustimmung der (zahlenden) Staaten; diese ist allerdings nicht zu erwarten.

Demokratische Legitimation? Die Einrichtung einer "Europäischen Republik" würde die Übertragung nationaler Souveränität und nationalen Steueraufkommens an eine zentrale Institution erfordern. Solch ein weitgehender Schritt könnte nur durch die einstimmige Entscheidung aller beteiligten Staaten und durch eine verfassungsändernde Mehrheit in jedem Staat sowie durch Referenda in einigen Staaten legitimiert werden. Eine Zustimmung dazu ist aus heutiger Sicht unrealistisch. Aus einer Vergemeinschaftung in einer Zentrale würden sich zudem neue Probleme ergeben. Je größer die Einheit, desto weniger fühlen sich Teilgruppen berücksichtigt und repräsentiert. Die Entfremdung zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und den politisch Verantwortlichen könnte wachsen, und Separatismus, wie er bereits innerhalb einzelner Mitgliedstaaten virulent ist (etwa in Spanien oder Belgien), würde vermutlich an Unterstützung gewinnen.

Verblassende Vision: Während Vertreterinnen und Vertreter der zentralen europäischen Institutionen (Europäisches Parlament, Europäische Kommission) häufig für eine vertiefte Integration eintreten, lehnen Vertreter von Mitgliedstaaten diese für gewöhnlich eher ab. Erstere würden durch eine weitere Vergemeinschaftung an Einfluss gewinnen, Letztere müssten Macht abgeben. Dafür, dass die Vision einer "immer engeren Union" immer weniger Befürworter findet, dürften auch die Finanzkrise und die weiter bestehende Ungleichheit innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten verantwortlich sein. Die positive Rolle und Bedeutung des Nationalstaates wird wieder mehr anerkannt. Die Formel "national, wo möglich – europäisch, wo nötig", die dem ehemaligen niederländischen Außenminister und heutigen Vizepräsidenten der Europäischen Kommission Frans Timmermans zugeschrieben wird, sollte jedoch nicht mit Abschottung und Rückzug aus der internationalen Kooperation oder gar mit Nationalismus gleichgesetzt werden.

Die Integration Europas ist nicht ein Ziel für sich, sondern ein Mittel zur Organisation eines friedlichen und konstruktiven Zusammenlebens der europäischen Staaten und Völker. Der ehemalige Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, brachte es 2016 auf den Punkt: "Es ist keine passende Antwort auf unsere Probleme, die schwärmerischen und tatsächlich naiven euroenthusiastischen Visionen einer totalen Integration zu forcieren, mögen es ihre Fürsprecher auch noch so gut meinen. Erstens, weil das schlicht unmöglich ist, und zweitens, weil das Werben dafür paradoxerweise nur dazu führt, euroskeptische Stimmungen zu verstärken, nicht nur im Vereinigten Königreich." Über die Form und Konfiguration der zukünftigen Integration der EU darf und muss gestritten werden.

Kooperation inner- und außerhalb des EU-Rahmens

Der Gegenentwurf zum Bundesstaat einer immer engeren Union war und ist der Staatenbund als Kooperation starker, unabhängiger Staaten. In der derzeitigen Konstruktion der EU bilden die Mitgliedstaaten einen Teil im "Dreieck der Macht", das aus der Europäischen Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Rat besteht. Die Mitgliedstaaten formieren sich auf der fachlichen Ebene als (Minister-)Rat beziehungsweise auf der strategischen Ebene als Europäischer Rat der Staats- und Regierungschefs. Im Rat suchen die Staaten nach einer gemeinsamen Position bei der Formulierung von europäischen Gesetzen.

Eine Mehrheit im Rat muss nach den detaillierten Vorgaben der Europäischen Verträge gefunden werden. Erstens darf nur über solche Politikbereiche entschieden werden, die nicht in alleiniger nationaler Verantwortung liegen. Zweitens dürfen nur solche Gesetzesinitiativen beraten werden, die von der Europäischen Kommission eingebracht wurden. Drittens ist für jeden Politikbereich vorgegeben, was als Mehrheit anzuerkennen ist. Bei manchen Themen ist Einstimmigkeit erforderlich, während bei anderen eine qualifizierte oder eine einfache Mehrheit der Staaten ausreicht. Generell ist bei "sensiblen" Themen – etwa wenn es um Finanzen geht – die Einstimmigkeit vorgeschrieben, sodass jeder Staat ein Veto einlegen kann. Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit verlangt, dass die Minderheit das Ergebnis respektiert. Um Spannungen zu vermeiden, versucht der Rat in der Regel, so lange zu verhandeln, bis alle Staaten zustimmen können. Besonders strittige Themen können von der Fachministerebene auf die Ebene der Staats- und Regierungschefs gehoben werden, um dort einen gangbaren Kompromiss zu finden.

Der Einigungsprozess im Rat gestaltet sich besonders dann schwierig und langsam, wenn die Interessengegensätze zwischen den Staaten groß sind. So werden zum Beispiel bei der Verhandlung des siebenjährigen Finanzrahmens der EU informelle Gruppen gebildet, um Partialinteressen gemeinsam durchzusetzen. Die Lösung dringender Probleme verzögert sich dann, und unter den Bürgerinnen und Bürgern verstärkt sich der Eindruck einer zänkischen und wenig handlungsfähigen EU.

Die EU kann sich selbst weder neue Zuständigkeiten noch zusätzliche Mittel verschaffen. Dafür wäre eine einstimmige Änderung der Europäischen Verträge nötig, die jedoch nur mühevoll – wenn überhaupt – erreicht werden könnte. Auch für die Bearbeitung akuter Krisen hat die EU gewöhnlich weder die Zuständigkeit noch die Ressourcen – die meisten Krisen können nicht vorab in Verträgen eingeplant werden. Wie aber können die EU-Staaten auf unvorhergesehene Krisen mit grenzüberschreitenden Wirkungen reagieren? Die Institutionen der EU sind dabei wertvoll, weil sie eine Plattform für das Krisenmanagement der Staats- und Regierungschefs bereitstellen. Diese müssen aber auch außerhalb der Europäischen Verträge nach Lösungen suchen, wenn eine rasche und einstimmige Einigung sonst nicht erreichbar ist. Meist übernehmen einige große Staaten informell die Führung, was für viele Mitgliedstaaten ambivalent ist: Einerseits ist eine starke Führung in der Krise gewünscht, andererseits soll die Dominanz großer Staaten nicht weiter wachsen. Die Europäische Kommission versucht die Mitgliedstaaten zu koordinieren, was von diesen aber nicht beachtet werden muss. Sowohl in der Finanzkrise ab 2008 als auch in der sogenannten Flüchtlingskrise ab 2015 sowie in der derzeitigen Pandemie traten die Grenzen der gemeinsamen Handlungsfähigkeit deutlich zutage.

In der Finanzkrise hat letztlich eine Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds die Bedingungen zur Verhinderung von Staatsbankrotten entwickelt und durchgesetzt. In zahllosen Krisentreffen vereinbarten die Regierungen europäischer Mitgliedstaaten zwei Maßnahmen, die vor der Krise für undenkbar gehalten wurden: einen Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) – den "Rettungsschirm" – sowie eine Bankenunion, in der wesentliche nationale Rechte zur Beaufsichtigung des Finanzsystems an die EZB übertragen wurden. Beide Maßnahmen wurden außerhalb der Europäischen Verträge kodifiziert, sollen aber zukünftig in diese integriert werden. Offen bleibt, ob und wann dies erreicht werden kann.

In der Fluchtkrise fand die EU nicht zu einer gemeinsamen Linie im Umgang mit irregulärer Migration. Die zwingende Voraussetzung des Schengen-Abkommens zur Beseitigung innereuropäischer Grenzen ist die Kontrolle und Sicherung der Außengrenzen der EU. Dies blieb den jeweiligen Mitgliedstaaten überlassen, und eine gemeinsame, handlungsfähige Institution konnte politisch nicht durchgesetzt werden: Die Grenzschutzagentur Frontex hat bisher nicht die nötigen Ressourcen und Kompetenzen. Als 2015 eine große Anzahl von Menschen über die Türkei in die EU gelangte und Ungarn die vereinbarten Verfahren nicht durchsetzen wollte oder konnte, haben einige wenige Länder aus humanitären Gründen zahlreiche Menschen aufgenommen. Aus diesem in der EU nicht abgestimmten Alleingang resultierte Druck zur Kooperation auf die restlichen Mitgliedstaaten, der eine tiefgehende Uneinigkeit in grundlegenden Fragen und die Unfähigkeit zur gemeinsamen Bewältigung offenlegte. Es wurden sogar legal gefasste, aber als illegitim empfundene Ratsbeschlüsse zur Verteilung von Geflüchteten nicht befolgt. Auch der "EU-Türkei Deal" ging auf die Initiative einiger weniger Mitgliedstaaten zurück.

Die im Frühjahr 2020 in Europa angekommene Corona-Pandemie zeigt die Notwendigkeit einer gemeinsamen Katastrophenvorsorge. Hinreichende Vorräte an Schutzmaterial und medizinischer Kapazität müssen gemeinsam angelegt werden, um sie nach Bedarf in der EU verteilen zu können. Auch eine gemeinsame europäische Kapazität zur Produktion von Medikamenten fehlt bisher. Der grenzüberschreitende Ausgleich von Behandlungsmöglichkeiten lief in der Pandemie nur langsam an und erreichte allenfalls symbolische Größenordnungen.

Flexibilisierung schafft Handlungsfähigkeit

Bisher wurde festgestellt, dass erstens ein weitreichender Transfer von Souveränität in eine "immer engere Union" weder erfolgversprechend wäre noch politisch erreichbar ist, zweitens die derzeitig vereinbarten Verfahren der Zusammenarbeit zu schwerfällig sind, und drittens die EU auf neue Herausforderungen und Krisen nicht angemessen reagieren kann. So kann die EU die Erwartungen, die an sie gerichtet sind, nicht erfüllen und droht weiter an Akzeptanz und Gewicht zu verlieren. Ein wesentlicher Grund liegt in dem Zwang zur Einstimmigkeit, der angesichts divergierender Situationen und Interessen der Mitgliedstaaten zur Bremse oder gar Blockade wird.

Ein Weg aus dieser Situation kann eine Flexibilisierung und Differenzierung der EU sein. Das würde bedeuten, dass nicht mehr alle Staaten gleichzeitig die gleichen Schritte vollziehen müssen, sondern nur noch der "Kern" aus Wertegemeinschaft und Binnenmarkt für alle verpflichtend wäre. Dies wäre auch mit Blick auf neue Mitgliedschaften denkbar: Die EU strebt einerseits danach, weitere Mitglieder aufzunehmen, andererseits bestehen bei den derzeitigen Kandidatenländern Bedenken gegen deren gleichberechtigte Aufnahme in den Kreis der stimmberechtigten Mitglieder. Hier sind Konzepte gestaffelter Mitgliedschaft vorzuziehen.

Eine gewisse Flexibilität ist bereits heute in den Verträgen vorgesehen. Im Verfahren der "verstärkten Zusammenarbeit" können Gruppen von mindestens neun Mitgliedstaaten im Rahmen der EU bei einem Thema enger zusammenarbeiten. Eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten muss vorher der Bildung dieser Gruppe zustimmen. Jederzeit können sich weitere Mitglieder der Gruppe anschließen. Dieser Weg wird bisher aber nur bei wenigen Themen begangen; dazu zählen das europäische Patentrecht, das Scheidungsrecht internationaler Paare, die europäische Staatsanwaltschaft und die ständige strukturierte Zusammenarbeit in Militärprojekten. Doch auch die Einigung nach diesem Verfahren benötigt viel Zeit.

Eine der Lehren aus dem Brexit sollte die Bereitschaft der EU sein, konfliktreiche Themen flexibler zu handhaben – was nach der derzeitigen Rechtslage nicht möglich ist und im politischen Raum als Tabubruch angesehen wird. So ist beispielsweise die Freizügigkeit für Arbeitskräfte auf den Prüfstand zu stellen, denn sie kann zu erheblichen sozialen Verwerfungen in den Herkunftsländern und in den Zielländern führen. Dazu gehören die Abwanderung von Arbeitskräften aus dem Gesundheitswesen der ärmeren in die reicheren Mitgliedstaaten sowie die Lohnkonkurrenz zwischen den gering bezahlten Arbeitskräften der Herkunfts- und Zielländer.

Ein weiteres Konfliktthema ist die Pflicht zur Übernahme des Euro. Die ökonomische Begründung dafür ist nicht überzeugend und wird bereits ausgehöhlt: Das Vereinigte Königreich und Dänemark wurden im Maastrichter Vertrag 1992 von der Übernahme des Euro befreit, und auch Schweden hat Wege gefunden, die eigene Währung beizubehalten. Auch einige mittel- und osteuropäische Staaten zögern, obwohl sie die Konvergenzkriterien zur Aufnahme in den Euroraum erfüllen könnten.

Entscheidungen nach dem Prinzip der (qualifizierten) Mehrheit im Rat können auch als undemokratisch bezeichnet werden, da die Legitimation zwischen den gewählten Regierungen der Mitgliedstaaten und der Entscheidung im Rat "verwässert" wird. Möglicherweise wäre die EU demokratischer und handlungsfähiger, wenn die Rückkehr zum Prinzip der Einstimmigkeit im Rat mit einer erleichterten Option zur Kooperation von Teilgruppen der Mitgliedstaaten kombiniert würde. Dies wird im Folgenden skizziert.

Zwei Szenarien

Feste Teilgruppen

Im öffentlichen Diskurs werden aus den 27 Mitgliedstaaten häufig unterschiedliche Teilgruppen gebildet, die vermeintlich große Gemeinsamkeiten aufweisen. Sie könnten sich daher – so die Vermutung – leichter auf gemeinsames Handeln einigen, wenn sie sich formal zusammenschließen und feste Gruppen bilden würden. Doch dieses Konzept hat Grenzen, wie die verbreiteten Zuschreibungen und konstruierten Gegensätze entlang der vier Himmelsrichtungen zeigen.

Nord–Süd: "Der Norden" wird häufig als technologisch hoch entwickelt, wirtschaftlich erfolgreich und einem liberalen Marktmodell verpflichtet angesehen. Die Einhaltung von Regeln, das Zahlen von Steuern und die Begrenzungen der Staatsschulden werden akzeptiert. Dem "Süden" dagegen werden eher die gegenteiligen Eigenschaften zugeschrieben. Auch wenn in jedem Stereotyp ein Körnchen Realität eingefangen wird, so kann dennoch kein Mitgliedstaat eindeutig und dauerhaft einer der beiden Gruppen zugeordnet werden.

Ost–West: Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion war die EU eine westeuropäische Vereinigung mit den Machtzentren Paris, Bonn und Rom. Mit dem Beitritt von acht mittel- und osteuropäischen Ländern (2004/2007) haben sich Spannungen zwischen einigen Ländern des "Ostens" und des "Westens" im Zusammenhang mit den Themen Flucht und Asyl sowie Rechtsstaatlichkeit aufgebaut. Jedoch ist weder "der Westen" noch "der Osten" bei diesen Themen ein homogener Block. In der Außenpolitik, besonders bei der Haltung zur chinesischen Expansion und zu Putins Russland, sind die Positionen im Osten ebenso unterschiedlich wie im Westen. Noch nicht einmal die sogenannten Visegrád-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) schaffen es, eine einheitliche Position zu beziehen.

Auch innerhalb der Mitgliedstaaten gibt es keine politische, wirtschaftliche oder weltanschauliche Homogenität. Interessengemeinschaften und -gegensätze ziehen sich unabhängig von Staatsgrenzen quer durch politische Auffassungen und Nationalitäten. Jede Gruppenbildung würde in sich und untereinander sehr heterogene Staaten zusammenfassen. Eine gemeinsame Entscheidung würde so nicht leichter fallen als unter allen 27 Mitgliedern.

Offene Clubs

Noch weiter geht die Idee, die Kooperation von Mitgliedstaaten auch außerhalb des Rahmens der Europäischen Verträge stärker zu nutzen. Für gemeinsame Politiken in ausgewählten Themenbereichen könnten einige Staaten sich zu temporären und offenen Clubs zusammenschließen, die untereinander internationale Verträge außerhalb der Europäischen Verträge abschließen, ohne an die Zustimmung der anderen EU-Mitglieder gebunden zu sein. Dabei sollte allen anderen Mitgliedstaaten die spätere Mitgliedschaft in den Clubs ermöglicht werden. Die Macht in den Clubs läge bei den teilnehmenden Staaten; weder die Europäische Kommission noch das Europäische Parlament hätten darin eine Position. Das Konzept der Clubs steht also konträr zu einer "immer engeren Union" mit ihren Zentren in Brüssel und Straßburg.

Hier wird nicht eine Renationalisierung oder der Rückzug in den Nationalstaat vorgeschlagen. Es geht nicht um die Auflösung von gemeinsamem Vorgehen der Staaten Europas, sondern um flexible und temporäre Zusammenschlüsse verschiedener EU-Mitgliedstaaten zu handlungsfähigen Einheiten. Die offenen Clubs lassen die grundlegenden Strukturen der EU unberührt und verstärken bereits etabliertes Vorgehen, wie "verstärkte Zusammenarbeit" oder die Möglichkeit zum "opt-out". Bei der Formierung eines Clubs sollen themenbezogen so viele Gemeinsamkeiten wie nötig gesucht werden, um so viel Problemlösung wie möglich zu erreichen. Die EU als Wertegemeinschaft muss immer und in jeder Konfiguration die Basis bleiben. Auch dürfen unter den 27 Mitgliedern vereinbarte Ziele nicht gefährdet werden.

Die Politikfelder für eine (künftige) Anwendung des Verfahrens der offenen Clubs sind vorrangig solche, für die die Kriterien Größenvorteile, Gemeinschaftsgüter und grenzüberschreitende Wirkungen zutreffen, nämlich:

  • Infrastruktur (Transport, Energie, Kommunikation)

  • Klimawandel und Energieversorgung

  • Asyl und Migration

  • Militär, Außenpolitik und geopolitische Veränderungen

  • Geheimdienst, Terrorismus

Die offenen Clubs bergen allerdings auch Gefahren für den Zusammenhalt der bisherigen EU. Ein so uneinheitliches Gebilde, das aus dem "Kern der EU" und zahlreichen, sich teilweise überschneidenden, Teilgruppen bestünde, wäre kaum noch regierbar. Einzelne Clubs könnten sich zudem zu exklusiven "starren Untergruppen" verfestigen und so die EU der 27 spalten. Damit gingen auch die gemeinsame Verantwortung und die Bereitschaft verloren, füreinander einzustehen und Differenzen auszugleichen. Wenn bei Dissens in Gruppen ausgewichen werden kann, gefährdet das außerdem die Konsensbildung in der EU.

Trotz dieser Risiken sollte das Verfahren der offenen Clubs von seinem Stigma in der europapolitischen Debatte befreit werden, um es auf die drängenden Probleme anzuwenden – in der Hoffnung auf gesteigerte Kapazität zur Lösung grenzüberschreitender Probleme und die Lernfähigkeit der internationalen Politik.

Fazit

Die EU bietet ihren Mitgliedstaaten eine Plattform, auf der sie ihre Interessen aushandeln und Kompromisse suchen können. Darüber hinaus können die Mitglieder globale Herausforderungen gemeinsam besser angehen – sei es den Klimawandel, die geopolitischen Veränderungen oder eine Pandemie. Jedes Land für sich – auch ein großes – ist allein zu schwach für eine wirkungsvolle Politik.

Die Bürgerinnen und Bürger befürworten die Europäische Union zwar wegen ihrer Leistungen, wissen diese aber dennoch nicht immer angemessen wertzuschätzen. Der Brexit zeigt, dass Gefühle und populistische Verzerrungen die tatsächlichen Interessen dominieren können. Ein offener und transparenter Diskurs über das, was "Brüssel" (nicht) kann und wo es gute Ergebnisse für alle erzielt, wirkt dem entgegen.

Als Konsequenz aus dem Brexit sowie den akuten Problemen der Pandemie und ihren Folgen sollten die EU und ihre Mitgliedstaaten künftig

  • den Zwang zur Einheitlichkeit und Einstimmigkeit überprüfen und mehr Flexibilität und Differenzierung zulassen. So kann auch die populistische und wirkmächtige Erzählung von der "Überfremdung und Unterjochung durch ‚Brüssel‘" entkräftet werden.

  • bei Themen, bei denen das Zusammengehen Vorteile bietet, schnellere Ergebnisse erzielen.

  • ihre Wirksamkeit durch "Koalitionen der Willigen" erhöhen, ohne die Europäische Integration in den grundlegenden Bereichen zu gefährden. Dazu kann das Konzept der offenen Clubs beitragen.

  • grenzüberschreitende Hilfen in akuten Notlagen großzügiger leisten und den Reflex zum Rückzug hinter die eigenen Grenzen überwinden.

  • zu begrenzten finanziellen Transfers bereit sein, sofern die empfangenden Staaten genug eigene Anstrengungen unternehmen.

Die Integration der Europäischen Union war und bleibt ein konfliktreicher Prozess voller Krisen. Der EU wurde schon oft der Untergang vorausgesagt, aber das Interesse an ihrem Fortbestand ist und bleibt groß genug, um immer wieder gangbare Lösungen zu finden.

ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Technischen Hochschule Brandenburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Integration und die Erweiterung der Europäischen Union. E-Mail Link: ulrich.brasche@th-brandenburg.de