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Die Schlachten der Volksherrschaft | Jahrestage, Gedenktage, Jubiläen | bpb.de

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Die Schlachten der Volksherrschaft Über Gedenktage und Demokratie - Essay

Hedwig Richter

/ 15 Minuten zu lesen

Wenn es um die Feier der Demokratie geht: Was steht dann im Mittelpunkt? Was bedeutet uns Demokratie? Welche Demokratiegeschichten erzählen wir zu diesem Anlass? Ist das nationale Erinnern einer Demokratie angemessen – und was würde das bedeuten? Um auf diese Fragen eine Antwort zu finden, werde ich zum einen in die Geschichte der demokratischen Erinnerungskultur schauen. Zum anderen geht es darum, inwiefern das demokratische Erinnern der Komplexität von Demokratiegeschichte(n) gerecht wird und welche Erweiterungen der Gedenkkultur angesagt und möglich wären.

Der Blick auf die Geschichte der nationalen Gedenktage zeigt, dass die Erinnerung stark von der Annahme geprägt ist, Demokratiegeschichte sei eine Chronik von Gewalt. Diese Idee wird insbesondere im öffentlichen Diskurs gepflegt, zuweilen aber auch in der Geschichtswissenschaft. Nun finden sich die nationalen Gewalterzählungen bereits in vordemokratischen Zeiten und prägten schon die nationale Erinnerungskultur im 19. Jahrhundert. Das Gedenken hat sich seither von den Schlachten und Generälen hin zu Revolutionen und Aufständischen verschoben – um es zugespitzt zu formulieren. Im Zentrum steht in beiden Fällen eine Geschichte von Gewalt und von Männern in Waffen. Bei den Fragen danach, ob dieses Erinnern der Demokratiegeschichte gerecht wird und inwiefern eine Erweiterung angebracht wäre, kommen Reformen in den Blick: Sie besaßen – keineswegs nur in Deutschland – einen oft übersehenen, aber entschieden demokratisierenden Effekt. Die Aufmerksamkeit für Reformen öffnet auch den Horizont für friedfertige Gestalten jenseits der heroischen Gewalterzählungen: etwa für Reformerinnen, die sich für den Sozialstaat einsetzten, oder für Politiker und Staatsdiener, die dabei halfen, Reformen in der Bildungspolitik oder bei der Ausweitung von Partizipationsrechten umzusetzen.

Kaiser und Kriege: Gedenken in der Monarchie

Was sind die Wurzeln des nationalen Gedenkens? Wie in vielen europäischen Staaten begann in Deutschland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts – also in der Zeit der Massenpolitisierung – zwar nicht eine nationale Gedenkkultur, aber doch die systematische und intensive Auseinandersetzung damit. Kurz nach der Reichsgründung, noch im Frühjahr 1871, forderten 49 badische Gemeinden in einer Adresse an den Kaiser, einen "Stiftungstag des Reichs" einzurichten. Es sollte der Erinnerung an die "Schlachtfelder" und "an die ruhmreichen Siege" dienen. Kaiser Wilhelm I. aber lehnte es ab, einen nationalen Feiertag von oben zu installieren.

Womöglich speiste sich die Abneigung des Kaisers aus antidemokratischen Gefühlen. Denn Nationalismus stand seit der Französischen Revolution für eine neue Legitimation und für den Sturz des Alten. Die Idee der Nation war ein Kind der Aufklärung: Sie stellte sich gegen adlige Privilegienherrschaft. Sie hatte die öffentliche Meinung, die sich allmählich entwickelte, auf ihrer Seite, und den "Fortschritt" sowieso. Der Nationalismus war die Ideologie zunächst der Bürger, dann zunehmend auch der breiten Massen. Nation war ein Gleichheitsmotor. Vor der Nation war jeder Mann gleich, egal ob Adliger oder Bauer. Nationalfeiertage und Demokratie sind also insofern ein besonders interessantes Thema, als dass diese Feiern von Anfang an ein modernes Fest der Inklusion waren, das sich an die ganze Nation richtete und nicht an eine Elite. Das Volk ist der Protagonist. – Doch Nationalismus war schon immer ein schillerndes Phänomen. Durch seine Inklusionskraft verschärfte er auch die Exklusion.

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wandelte sich der Nationalismus nicht nur in Deutschland von einer eher linken und progressiven Kraft hin zu einer staatstragenden, oft eher konservativen Macht. Aber auch da gestaltete er sich nicht eindeutig, und seine Grundlage blieben immer die Massen. Es ist daher nicht erstaunlich, dass es die Badener waren, die den Kaiser um einen Nationalfeiertag gebeten hatten. Sie waren seit Jahrzehnten an demokratisch-parlamentarische Praktiken gewöhnt, hielten seit 1818 stolz ihre Verfassung hoch und glorifizierten sie in strahlenden Verfassungsfeiern.

Im Zentrum der Überlegungen um einen Nationalfeiertag aber standen Schlachten und Krieger, was den radikalisierten Nationsvorstellungen der Zeit um 1870 durchaus entsprach. In den USA feierte die Nation seit 1868 den Memorial Day, zunächst um ihrer toten Soldaten im Bürgerkrieg zu gedenken, seit dem Ersten Weltkrieg zu Ehren aller amerikanischen Gefallenen. Die französische Regierung führte – hochumstritten – 1880 den Tag des Sturms auf die Bastille, den 14. Juli, als Nationalfeiertag ein, allerdings abmildernd an das "Föderationsfest" von 1790 erinnernd. Die französische Nationalfeier wurde von Anfang an mit einer gewaltigen Militärparade begangen. Mit dem Kriegerischen knüpften die Nationalfeiertage nicht zuletzt an nationale Vorstellungen an, die eng mit der Wehrhaftigkeit des Landes, mit der Gleichheit der Waffen tragenden Bürger und oft auch mit der Wehrpflicht einhergingen. Wenig schien so egalisierend und euphorisierend zu wirken wie das Schlachtfeld.

Auch als im Sommer 1871 der Pfarrer und Sozialreformer Friedrich von Bodelschwingh eine neue Initiative startete, stand das Kriegerische im Zentrum: "[D]ie Väter werden den Kindern erzählen von ihren Erlebnissen im Feindesland; von den großen Schlachten und Siegen; von Deutschlands Erhebung und Einigung; von Napoleons Fall und Frankreichs Niederlage – und es werden Feste gefeiert." Bodelschwingh schlug den 2. September vor, den Tag der Schlacht von Sedan im Jahr 1870. Tatsächlich etablierte sich der Sedantag in den nächsten Jahren in vielen Regionen Deutschlands, wobei die Länder selbst entscheiden konnten, ob und wie sie den Tag gestalteten. Von süddeutscher Seite, von Katholiken und Sozialdemokraten gab es Widerstand, denn der Tag war ihnen zu preußisch, zu protestantisch, zu auftrumpfend, zu fremd. Die Annäherungen zwischen Frankreich und Deutschland ließen außerdem zumindest einigen Deutschen den Sedantag zunehmend als unangemessen erscheinen. Als 1900 Franzosen und Deutsche gemeinsam im sogenannten Boxeraufstand in China kämpften, wurden in ganz Deutschland die Sedanfeiern abgesagt. Beliebter als der Sedantag waren häufig die Geburtstage des Landesherrn oder des Kaisers und die "Kaiserparaden", in denen der Monarch als Oberster Kriegsherr die aktuelle Schlagkraft der Armee in einem öffentlichen Spektakel vorführte.

Verfassung feiern in der Weimarer Republik

Die Geschichte des Nationalfeiertages der Weimarer Republik erscheint vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es auch im Kaiserreich anhaltende Diskussionen und Kritik an den Gedenktagen gab, weniger dramatisch, als sie zuweilen erzählt wird. Die ursprüngliche Idee der Nationalversammlung von 1919, den 1. Mai als Tag der Arbeit zum Nationalfeiertag zu erklären, wurde nie umgesetzt. Beschlossen wurde stattdessen eine Verfassungsfeier. 1921 legte der Reichstag offiziell den Nationalfeiertag auf den 11. August fest, den Tag, an dem 1919 Reichspräsident Friedrich Ebert die Weimarer Verfassung unterzeichnet hatte. Früh kamen Bedenken auf, die Anordnung von oben sei ein Fehler, denn "ein Nationalfeiertag kann nicht dekretiert werden, der muss wachsen". Wohl nicht zuletzt deshalb hielt sich der Reichstag damit zurück, den nationalen Verfassungstag als gesetzlichen Feiertag zu verordnen. Auch das hat Bedenken und Kritik an der Weimarer Regierung hervorgerufen, der es an Verständnis für Symbolpolitik gemangelt habe. Diese Entscheidung lag jedoch bei den Einzelstaaten, das war auch im Kaiserreich üblich gewesen.

Die Konzentration auf den zivilen Akt der Verfassungsgebung ist bemerkenswert. Allerdings wollte man auch in Weimar nicht ganz auf das Kriegerische verzichten, auf Militärmusik und Uniformen. Dabei gestaltete sich das Militärische republikanisch: In vielen Kommunen organisierte das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold (der verfassungstreue Wehrverband) den Nationalfeiertag und organisierte Paraden und Aufmärsche mit der schwarz-rot-goldenen Fahne. Für die Zeitgenossen fiel das Urteil über den Feiertag nicht eindeutig aus, und es gab durchaus Stimmen, die ihn für gelungen hielten.

Jubelvolk in der Diktatur

Im Nationalsozialismus erreichte die Feier des Militärischen bei nationalen Gedenktagen einen neuen Gipfelpunkt. Nicht nur am "Heldengedenktag" oder am "Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung" stand es im Zentrum. Auch die kirchlichen Feiertage oder ein neoheidnischer Tag wie das "Reichserntedankfest" wurden militarisiert. Beispielhaft zeigt sich die Durchmilitarisierung am 1. Mai, den die Nationalsozialisten 1934 als "Nationalen Feiertag des deutschen Volkes" installierten. Die Bevölkerung feierte die mit Aufwand inszenierten Festtage mit einer solchen Begeisterung, dass sie einen geradezu plebiszitären Charakter erhielten: Auf den Reichsparteitagen, bei den Olympischen Spielen, im rauschenden Erntedankfest, bei all den Aufmärschen der uniformierten Menschen offenbarte sich der totalitäre Anspruch des Regimes. Und das "Jubelvolk" bestätigte und legitimierte die Diktatur.

In starkem Kontrast dazu standen die Feiern in der DDR. Zwar spielten auch hier das Militär und die Uniformen eine wichtige Rolle. Doch der totalitäre Anspruch funktionierte nicht. Im Großen und Ganzen gilt: Das Fest misslang. Die Paraden galten als peinlich, die Herren auf der Tribüne versetzten die Deutschen anders als Adolf Hitler und seine Mannen nicht in Ekstase. Der "Tag der Republik", den die SED am 7. Oktober in Erinnerung an den Gründungstag der DDR 1949 feiern ließ, war geprägt von Militärparaden, Aufmärschen aller Art und von Organisationen wie den "Kampfgruppen der Arbeiterklasse". Geradezu symbolisch für das Misslingen stand der Aufstand einer großen Gruppe Jugendlicher während des Feiertags am 7. Oktober 1977, die "Nieder mit der DDR" schrien und mit Haftstrafen von bis zu vier Jahren verurteilt wurden. Dieser Protest gilt als der größte spontane Jugendprotest in der DDR. Die größte Gedenkblamage aber musste das Regime an seinem Ende erleiden, als es den 40. Jahrestag der DDR feierte, den es trotz der Massenflucht und der anschwellenden Montagsdemonstrationen mit großem Pomp inszenierte. Die Feier wurde zu einem Tag der Volks-Empörung. Nach vollendeter Militärparade lud Erich Honecker zum offiziellen Festakt in den Palast der Republik, unter den zahlreichen Gästen der skeptisch-spöttische Michail G. Gorbatschow. Zur selben Zeit demonstrierten Tausende Menschen auf dem nahe gelegenen Alexanderplatz und riefen: "Wir sind das Volk!", bis Polizei und Stasi-Leute vor den laufenden Kameras der internationalen Presse begannen, den Demonstranten zuzusetzen und auf sie einzuprügeln.

Demokratie feiern: Schlachten und Revolutionen

Nach 1945 erlebte die Demokratie einen globalen Siegeszug, der vielfach als zweite Welle der Demokratisierung bezeichnet wird. Eine Tendenz setzte sich nun durch, die schon in der Zwischenkriegszeit ihren Anfang genommen hatte: Die Nationen begannen, ihre Nationalgeschichten als Demokratiegeschichten zu erzählen. Interessanterweise führte das kaum dazu, dass die nationalen Feiertage an militärischem Schwung verloren. Vielmehr gestaltete sich ein Großteil der nationalen Gedenktage, wie etwa in ehemaligen Kolonien, als Feier der Unabhängigkeit, die oft mit kriegerischen Auseinandersetzungen verbunden war. Entsprechend finden in zahlreichen Ländern, etwa in Ghana, Finnland, in der Ukraine oder Indonesien am Unabhängigkeits- und Nationalfeiertag Militärparaden statt.

Dem entsprach eine weitere Entwicklung, die sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts beobachten lässt. Revolutionen hatten die längste Zeit als problematisch gegolten, ihre Erinnerung hatte abschreckend gewirkt und dadurch nicht selten die Reaktion befördert. Die Terreur der Französischen Revolution, aber auch die Gewaltexzesse während der europäischen Revolutionen von 1848/49 und die Pariser Kommune 1871 galten in breiten Teilen der Bevölkerung als abschreckende Beispiele – keineswegs nur in Deutschland. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Abscheu durch die Russische Revolution und den nachfolgenden Bürgerkrieg bestätigt, über deren Schrecken und Millionen von Toten weltweit detailliert berichtet wurde.

Die Einstellung zu Revolutionen änderte sich nun. Zugespitzt lässt sich sagen: Vom Beginn der Nationalfeiertage im 19. Jahrhundert bis zum Ende des 20. Jahrhunderts entwickelte sich das nationale Gedenken vielerorts von den großen Schlachten hin zu den großen Revolutionen. Zu untersuchen wäre, wie genau diese Entwicklung beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland mit einer revolutionären Gedenkkultur bei Straßennamen, Gedenkstätten oder Denkmälern einherging. Bereits 1948 wurde sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands die Revolution von 1848 als ein Höhepunkt der Demokratiegeschichte gefeiert; der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, gehörte zu den wichtigsten Förderern dieser neuen Erinnerungskultur. In der Bundesrepublik wurde 1954 mit dem "Tag der deutschen Einheit", der an den Aufstand in der DDR vom 17. Juni 1953 erinnerte, ein revolutionäres Geschehen ins Zentrum gerückt. Entscheidend für eine Neubewertung der Revolution waren zudem der Wertewandel der 1970er Jahre und die intellektuelle Rezeption des Marxismus in den nordatlantischen Ländern, der Geschichte als eine Abfolge von Revolutionen interpretiert. Fast unbestritten galt seither bei vielen das Marxsche Diktum von 1850: "Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte."

Die 200-Jahrfeier der Französischen Revolution 1989 besiegelte in gewisser Weise den Wandlungsprozess. Das Jubiläum war insbesondere in Frankreich zunächst hochumstritten, sorgte dann aber europaweit für eine neue, positive Revolutionsrezeption. Erst jetzt setzte sich in Frankreich der Konsens durch, die Revolution als wichtiges Gründungsereignis zu akzeptieren. Der französische Historiker François Furethat darauf hingewiesen, dass diese Entwicklung eng mit den Revolutionen in Ost- und Mitteleuropa und den Unabhängigkeitsbewegungen gegen die Sowjetunion zusammenhing.

Feier der Vielfalt

Die neue Vorliebe für Revolutionen aber bestätigte den alten Geist der Gewalt und schrieb diesen in die nationalen Demokratiegeschichten ein. Zwar hatten einige Länder von jeher einen nationalen Gedenktag, der an friedfertige Ereignisse erinnerte: In Dänemark oder Norwegen beispielsweise feiern die Menschen ihre Verfassung, in Portugal wird der Nationaldichter Luís de Camões geehrt. Aber doch gilt für eine überwältigende Mehrheit der Nationalfeiertage die martialische Grundierung. Demokratie wird in der gewaltaffinen Tradition des 19. Jahrhunderts gefeiert.

Das beginnt sich allerdings zu ändern. Typisch für die Pazifizierung der Erinnerung ist etwa der neue deutsche Nationalfeiertag: der 3. Oktober, der Tag der Deutschen Einheit, der den 17. Juni ersetzte. In Südafrika wird seit 1994 der Freedom Day als Erinnerung an die ersten freien Wahlen gefeiert. Mittlerweile gibt es auf der Welt rund 100 Demokratien. Bei aller Skepsis und bei aller Sorge um den antidemokratischen Backlash, den einige Gesellschaften im Moment erleben: Das ist insgesamt eine Erfolgsgeschichte. Diese Entwicklung und die gesellschaftlichen Veränderungen öffnen neue Horizonte für die Feier der Demokratie und lassen Forderungen nach einem produktiveren Umgang mit dem nationalen Gedenken lauter werden. Dabei lassen sich mindestens vier Perspektiverweiterungen feststellen:

Erstens steht die Friedfertigkeit stärker im Zentrum. Läutet sie ein Ende der anhaltenden Gewaltverherrlichung ein? Muss die Armee, so notwendig sie selbst für demokratische Staaten sein mag, im Zentrum der nationalen Identität und der Nationalfeiern stehen? Hinzu kommt, dass Untersuchungen zeigen, dass Unabhängigkeitsbewegungen und gesellschaftliche Transformationen im 20. Jahrhundert erfolgreicher waren und viel eher zu Demokratien führten, wenn sie friedlich verliefen. Vieles spricht dafür, dass das für das 19. Jahrhundert in ähnlicher Weise gilt. Auch wenn Revolutionen und Gewalt zweifellos eine eigene Rolle in den hochkomplexen Demokratisierungsprozessen spielten, muss ihre Bedeutung wohl doch relativiert werden. So bewirkten Reformen oft einen wesentlich nachhaltigeren Fortschritt. Die frühen deutschen Verfassungen und Wahlrechtregelungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts etwa, die 100 Jahre vor Weimar in vielen deutschen Ländern eine lebendige, intensive parlamentarische Tradition begründeten; oder das deutsche Wahlrecht von 1867/71, das in seiner Zeit äußerst progressiv war und den Grundstein legte für eine die ganze Gesellschaft fesselnde Parlamentskultur: Müssten diese Phänomene nicht viel stärker in den Gedenktagen der deutschen Demokratie auftauchen?

Der zweite Punkt einer Horizonterweiterung demokratischer Erinnerungskultur hängt damit eng zusammen: Die Transformationsforschungen zeigen, wie wichtig für einen erfolgreichen Protest die Frauen sind. Je gewalttätiger die Transformation abläuft (im Extrem beispielsweise über einen Militärputsch), desto weniger Frauen sind daran beteiligt, desto eher tendieren die Gesellschaften dazu, in einer Diktatur und nicht in einer Demokratie zu enden. Dabei geht es nicht zuletzt darum, dass Frauen (im Gegensatz zu einer kleinen, gewaltbereiten Gruppe von Männern) für eine breite Zivilgesellschaft stehen, die den neuen Staat tragen und Demokratie ermöglichen kann.

Ist es nicht grundsätzlich erstaunlich, dass Frauen in all den Nationalfeiertagen selbst noch im 20. Jahrhundert kaum Beachtung gefunden haben? Die gefeierten Akteure waren in aller Regel Krieger und Kriegsherrn, Revolutionäre und Unabhängigkeitskämpfer – eben jene Mannschaft, die sich auf den Denkmälern wiederfindet. Frauen wanden Kränze und streckten Blumen in die Luft. In überirdischer Gestalt tauchten sie zuweilen als Allegorie für die Revolution, für den errungenen Sieg oder für die Trauer um die Gefallenen auf. Mit dem 100-jährigen Jubiläum zur Einführung des Frauenwahlrechts, das in Deutschland und anderen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg installiert worden war, zeigte sich aber ein neues Bewusstsein dafür, dass der demokratische Staat nicht länger eine reine Männersache ist. Zahlreiche Länder feierten mit recht großem Aufwand die Demokratisierung ihrer Nationen durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts. Wenn man allerdings bedenkt, wie bescheiden sich diese Feste im Vergleich zum militärischen Pomp der Feiern zu Kriegsbeginn oder Kriegsende oder der Revolutionen immer noch ausnehmen, bleiben noch einige Wünsche offen. Gerade das vehemente Revolutionsgedenken im Weimarer-Republik-Jubiläumsjahr 2018 und die – gewiss nicht ganz unberechtigte – Forderung, dieses Ereignis endlich als gelungene Revolution zu feiern, haben die Frauen erneut überschattet.

Mehr Vielfalt im nationalen Gedenken würde einer Demokratie grundsätzlich gut zu Gesicht stehen. So wird etwa angesichts der zunehmenden weltweiten Migration und Fluchtbewegung die Bedeutung von Immigration immer klarer. Warum also nicht einen Gedenktag begehen, an dem Menschen mit Migrationsgeschichte gefeiert werden? In manchen Staaten findet am Nationalfeiertag bereits mit einem offiziellen Festakt eine Einbürgerungszeremonie statt. Auch an anderen Stellen ist die zunehmende Diversität schon in die offizielle Festkultur demokratischer Gesellschaften eingedrungen. So hissen beispielsweise am Christopher Street Day zahlreiche Rathäuser die Regenbogenflagge.

Aber wäre es nicht nötig, das Verständnis von Demokratie noch ganz anders zu weiten? Wie kam es eigentlich, dass der Blick, wenn es um die nationalen Feiern geht, auf die Staatsgründung verengt bleibt oder – in seltenen Fällen – auf die Verfassung? Ist nicht – um zum dritten Punkt zu kommen – der Sozialstaat eine zentrale Säule der Demokratie? Er ist vor allem ein Ergebnis der bereits erwähnten nachhaltig demokratischen Reformkultur, die angesichts der Überhöhung von Revolutionen ins Hintertreffen geraten ist. Der Sozialstaat trägt wesentlich dazu bei, dass Demokratien eine ihrer Kernaufgaben erfüllen können: allen ein Leben in Würde zu ermöglichen. Wäre es nicht sinnvoll, jene große Frauen zu ehren, die von Anfang an dieses Projekt befördert haben? Bettina von Arnim etwa, oder Alice Salomon oder Marie Juchacz? Sie sind Mütter des Sozialstaats und unserer Demokratie. Ihre Feier würde unser Bild von Demokratie komplizierter und reicher machen.

Noch ein letzter und vierter Punkt sei zur Erweiterung des demokratischen Horizontes genannt. Zunehmend gedenken demokratische Gesellschaften nicht nur ihrer Heldentaten, sondern auch ihrer Verbrechen. Der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar, dem Tag, an dem 1945 das Vernichtungslager Auschwitz befreit wurde, ist in Deutschland ein bundesweit gesetzlich verankerter Gedenktag. In den USA erinnert der Juneteenth am 19. Juni an die Befreiung der Sklaven im Jahr 1865 – aber zunehmend auch an die Menschenverachtung der Sklaverei und an die Verbrechen der Weißen. Womöglich ist das die interessanteste und hoffnungsfrohste Entwicklung: Nationen, die sich trotz vieler intellektueller Hoffnungen bisher nicht aufgelöst haben, können sich zu einer selbstkritischen, inklusiven Identität ermächtigen und müssen sich nicht zwangsläufig martialischen und exklusiven Selbstbildern hingeben.

Sie gehören allen

Nationalfeiertage sind Tage des Volkes, sie gehören allen. Dabei war der Begriff von Zugehörigkeit noch nie so weit wie heute, und es lohnt sich, das Gedenken und die nationalen Identitätskonstruktionen entsprechend zu weiten. Demokratien brauchen nicht länger ihre Geschichte als eine Abfolge von heroischen Männern und Gewaltexzessen zu erzählen. Sie können sich auf ihre Institutionen und Traditionen besinnen, die Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ermöglichen. Und sie können – als Mahnung – entsprechend ihrem Anspruch auf ein demokratisches, aufgeklärtes, kritisches Selbstbild problematische Aspekte ihrer Geschichte in das Gedenken aufnehmen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. etwa Jakob Tanner, Ist die Revolution reaktionär?, in: Das Magazin 14/2018, S. 4.

  2. Vgl. die Überlegungen zu Reformen und Revolution bei Andreas Fahrmeir, Revolutionen und Reformen. Europa 1789–1850, München 2010. Vgl. zu einer unheroischen Demokratiegeschichte Hedwig Richter/Kerstin Wolff, Demokratiegeschichte als Frauengeschichte, in: dies. (Hrsg.), Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa, Hamburg 2018, S. 35–56.

  3. Adresse von 49 badischen Gemeinden, Abdruck in: Theodor Schieder, Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Wiesbaden 1961, S. 133.

  4. Jörg Koch, Sedantag, in: ders., Dass Du nicht vergessest der Geschichte. Staatliche Gedenk- und Feiertage von 1871 bis heute, Darmstadt 2019, S. 44–60.

  5. Darauf verwies schon Schieder (Anm. 3), S. 125.

  6. Vgl. Dieter Langewiesche, Wirkungen des "Scheiterns". Überlegungen zu einer Wirkungsgeschichte der europäischen Revolutionen von 1848, in: ders. (Hrsg.), Die Revolutionen von 1848 in der europäischen Geschichte. Ergebnisse und Nachwirkungen, München 2000, S. 5–21, insb. S. 12.

  7. Vgl. zum Begriff der Inklusion Rudolf Stichweh, Leitgesichtspunkte einer Soziologie der Inklusion und Exklusion, in: ders./Paul Windolf (Hrsg.), Inklusion und Exklusion: Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit, Wiesbaden 2009, S. 29–44.

  8. Vgl. Karen Hagemann, Nation, Krieg und Geschlechterordnung, in: Geschichte und Gesellschaft 4/1996, S. 562–591.

  9. Friedrich von Bodelschwingh, Das deutsche Volksfest, Flugblatt nach einem Vortrag, 27.6.1871, zit. nach Schieder (Anm. 3), S. 135.

  10. Vgl. Schieder (Anm. 3), S. 127.

  11. Vgl. "Zur Tagesgeschichte", Süddeutsche Post, 5.9.1873, S. 1; Mareike König/Élise Julien, Verfeindung und Verflechtung. Deutschland und Frankreich 1870–1918, Darmstadt 2019, S. 45.

  12. Vgl. Étienne François, La guerre de 1870–1871 dans la mémoire de la Première Guerre mondiale, Paris/Berlin regards croisés, in: Jean-François Chanet et al. (Hrsg.), D’une guerre à l’autre. Que reste-t-il de 1870–1871 en 1914?, Paris 2016, S. 325–341, hier S. 333.

  13. Vgl. Jakob Vogel, Nationen im Gleichschritt. Der Kult der "Nation in Waffen" in Deutschland und Frankreich, 1871–1914, Göttingen 1997, S. 45–53.

  14. Redebeitrag Walter Simons, Verhandlungen des Reichstages, Berlin, 20.10.1920, Bd. 345, S. 870.

  15. Vgl. Nadine Rossol, Performing the Nation: Sports, Spectacles, and Aesthetics in Germany, 1926–1936, in: Central European History 4/2010, S. 616–638.

  16. Vgl. Christian Welzbacher, Edwin Redslob. Biografie eines unverbesserlichen Idealisten, Berlin 2009, S. 197ff.

  17. Vgl. zu den Festtagen als Plebiszit Ralph Jessen/Hedwig Richter, Elections, Plebiscites, and Festivals, in: Robert Gellately (Hrsg.), The Third Reich, New York 2018, S. 85–118, hier S. 105–117.

  18. Vgl. Mit Flaschen und Steinen zum Republikgeburtstag. Jugendkrawalle in der DDR, MDR Zeitreise, 25.9.2019, Externer Link: http://www.mdr.de/zeitreise/tumulte-alex-100.html.

  19. Vgl. Gérard Namer, La commemoration en France de 1945 à nos jours, Paris 1987; Pascal Ory, Une Nation pour mémoire, 1889, 1939, 1989 trois jubilés révolutionnaires, Paris 1992.

  20. Vgl. 1848–1948, in: Die Zeit, 18.3.1948; Till van Rahden, Demokratie. Eine gefährdete Lebensform, Frankfurt/M. 2019, S. 58.

  21. Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848–1850, in: Karl Marx/Friedrich Engels – Werke, Bd. 7, S. 64–94, hier S. 85.

  22. Vgl. Ory (Anm. 19).

  23. Vgl. François Furet, 1789–1917. Aller et retour, in: Le Débat 57/1989, S. 4–16.

  24. Vgl. den Überblick über Nationalfeiertage, Externer Link: http://www.laenderdaten.de/staat/nationalfeiertage.aspx.

  25. Vgl. Frank Bösch, Wir brauchen neue Jahrestage!, 4.11.2019, Externer Link: http://www.tagesspiegel.de/politik/erinnerungskultur-wir-brauchen-neue-jahrestage/25186552.html.

  26. Vgl. Erica Chenoweth/Maria J. Stephan, Why Civil Resistance Works. The Strategic Logic of Nonviolent Conflict, Columbia 2011.

  27. Vgl. ebd.

  28. Zu einem umfassenderen Zugang zur Demokratiegeschichte vgl. Tim B. Müller/Hedwig Richter, Demokratiegeschichten: Deutschland (1800–1933) in transnationaler Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft 3/2018 S. 325–335.

  29. Vgl. beispielhaft Edgar Wolfrum, Und sie tat ihre ersten Schrittchen. Die Novemberrevolution 1918, in: Der Tagesspiegel, 4.11.2018, S. 7.

  30. Vgl. dazu die Forschungen der Kommission des Deutschen Gewerkschaftsbundes zu "Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie", gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung: Externer Link: http://www.erinnerungskulturen.boeckler.de/index.htm.

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ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. E-Mail Link: hedwig.richter@unibw.de