Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

EU-Skeptizismus in der türkischen Politik | Türkei | bpb.de

Türkei Editorial Der demokratische Reformprozess in der Türkei Die politische Rolle des Militärs in der Türkei EU-Skeptizismus in der türkischen Politik Die Kurdenfrage in der Türkei Die türkische AKP als Vorbild für die arabische Welt? Der transnationale Raum Deutschland -Türkei

EU-Skeptizismus in der türkischen Politik

Ismail Ermagan

/ 14 Minuten zu lesen

Sowohl in der regierenden AKP als auch in der größten Oppositionspartei CHP gibt es Kräfte, die einem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union skeptisch gegenüberstehen. Gründe für diese Haltung finden sich in der Geschichte der Türkei, in den Entwicklungen der Parteien und in der politischen Gegenwart.

Einleitung

Der Glaube daran, dass die Türkei ein Mitglied der Europäischen Union (EU) werden wird, nimmt sowohl auf türkischer als auch europäischer Seite seit 2005 kontinuierlich ab. Türkischerseits wurde diesbezüglich 2009 ein Tiefststand erreicht. Die Bekanntgabe der Türkei als potenzielles Beitrittsland 1999 und der Beginn der Beitrittsverhandlungen 2005 hat die türkischen Parteien in eine schwierige Position gebracht. Denn sie sind es, welche die für den EU-Beitritt der Türkei notwendigen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Reformen realisieren sollen. In diesem Zusammenhang ist die Untersuchung der Haltung bzw. des Skeptizismus gegenüber der EU der Regierungspartei Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, AKP) und der größten Oppositionspartei Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei, CHP) von besonderem Interesse.



Es ist zu erkennen, dass die aktuellen Geschehnisse in der türkischen Polit-Arena zu einer Entwicklung gehören, die bereits im 19. Jahrhundert eingesetzt hat und bis heute anhält. Die Reformen, die im 19. Jahrhundert durch die vom Westen inspirierten osmanischen Staatsmänner realisiert wurden, stießen in Teilen der osmanischen Gesellschaft auf Widerstand - nach dem Motto: "Das wollen wir aber nicht, mein Sultan" ("istemezük padişahım"). Eine ähnliche Reaktion gab es vor der Staatsgründung 1923, als bekannt gegeben wurde, dass die Staatsform des Landes eine Republik sein werde. Die Reformen, welche die CHP unter der Führung Mustafa Kemals, (der spätere Atatürk) realisierte, nur die letzten einer Reihe von Maßnahmen zur Modernisierung und Westausrichtung der Türkei, welche bereits die Osmanen eingeleitet hatten.

Die Eliten der "neuen" Türkei kämpften sowohl gegen die osmanische Monarchie als auch gegen den mit der Entente geschlossenen Vertrag von Sèvres (1920). Dieser sah vor, dass das Osmanische Reich, das den Ersten Weltkrieg verloren hatte, unter den westlichen Großmächten aufgeteilt wird. In ihm liegt das Wesen der skeptischen Wahrnehmung des Westens seitens der CHP begründet. Gleichwohl hatte in der frühen Republik die Hinwendung der Türkei zum Westen gemäß der Philosophie der "Westausrichtung trotz des Westens" Bestand. Ziel war eine eigenständige und unabhängige Außenpolitik und der Aufbau einer modernen Gesellschaft. Als das erste Parlament 1920 eröffnet wurde, kam es zu Auseinandersetzungen zwischen einer Fraktion, welche die Reformen der Republik unterstützte, und einem religiös-traditionellen Flügel, der diese ablehnte. Die Reformer setzten sich durch: Das Kalifat wurde abgeschafft, Derwischklöster und -kapellen, welche als ein Hindernis für die gedankliche Freiheit des Individuums galten, wurden geschlossen. Staat und Religion wurden formal getrennt, Gesetze zu Familie, Ausbildung und Wirtschaft von den westlichen Staaten übernommen und die arabischen Buchstaben durch das lateinische Alphabet ersetzt. Diese Neuerungen haben - im Sinne eines Übergangs vom Untertan zum Individuum - bei einem bedeutenden Teil der Gesellschaft Widerstand hervorgerufen, der bis heute anhält. Insbesondere der Gedanke, dass den Menschen die Religion quasi aus der Hand genommen wird, war entscheidend dafür, dass die republikanische Revolution nicht die Zustimmung der gesamten Gesellschaft fand und findet.

Die Führung der CHP entschied sich 1945, sowohl infolge innenpolitischer Forderungen als auch aufgrund außenpolitischer Notwendigkeiten, die Einparteienherrschaft zu beenden und den Staat in eine Mehrparteiendemokratie umzuwandeln. Die Demokratische Partei (DP), die 1950 an die Macht kam, entwickelte Positionen, die mit denen des religiös-traditionellen Flügels im ersten Parlament auf einer Linie lagen und in deren Tradition heute die AKP agiert. Hieraus erklärt sich heute wie damals ein Skeptizismus gegenüber dem Westen, der auf türkisch-islamischen Wertevorstellungen basiert.

EU-Skeptizismus der AKP

Die AKP ist 2001 aus der reformistischen Fraktion der islamistischen Fazilet Partisi (Tugendpartei, FP) hervorgegangen. Sie bot denjenigen konservativen Muslimen und gemäßigten Islamisten eine politische Heimat, die manche der Fehler der verbotenen Refah Partisi (Wohlfahrtspartei, RP), die Vorgängerin der FP, anerkannten, das kemalistische Regime und die Demokratie im Grunde nicht als "sündhaft" ansahen und für sich einen Platz innerhalb des Systems finden wollten. Statt die Ziele der RP zu verfolgen, wie beispielsweise die Gründung einer Islamischen Union und einer Art NATO der islamischen Länder, tritt sie für eine Außenpolitik ein, die westwärts gerichtet ist. Die AKP erhofft sich von der Annäherung an die EU größere Handlungsspielräume auch in religiösen Fragen und Konfliktfeldern (Kopftuchdebatte, Korankurse, Fachoberschulen für islamische Vorbeter). Als die AKP vor der Wahl 2002 die Chance sah, an die Regierung zu kommen, arbeitete sie mit rechten und nationalistischen Politikern zusammen, um diese Machtperspektive abzusichern und sich gleichzeitig als "normale", nicht islamistische Partei zu präsentieren. So erzielte sie schließlich 34 Prozent der Stimmen und schlug in der Periode vom November 2002 bis zum Dezember 2004 einen dezidiert pro-europäischen Reformkurs ein.

Der Reformeifer der Partei ließ ab 2005 deutlich nach, was manchen Beobachter zu der Einschätzung veranlasste, die AKP verfüge nicht über einen "genügend langen Atem" für den EU-Beitrittsprozess. Kritiker der Regierungspartei behaupten, sie beherrsche nunmehr das System und unterstellen ihr, den politischen Wandel, verbunden mit einem höheren Stellenwert der Freiheitsrechte, verstärkte Demokratisierung etc., in Wirklichkeit gar nicht oder nur begrenzt anzustreben. Denn die westlichen Werte und die Lebensart, die sich die AKP vorstelle, würden sich ideologisch nicht vertragen. Nach Meinung anderer wird es einige Zeit brauchen, bis die Gegnerschaft zum Westen, die sich in der AKP aus einer Mischung von Islamismus und Nationalismus gebildet hat, abnimmt.

Bei den Regionalwahlen am 29. März 2009 konnte die AKP zehn Prozent weniger an Stimmen erringen als bei der Parlamentswahl von 2007, als sie 49 Prozent erzielte. Zum einen wurde sie für die Folgen der weltweiten Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht, zum anderen artikulierten viele Wählerinnen und Wähler so die Befürchtung, der verfassungsmäßig garantierte Laizismus sei durch sie gefährdet. Ministerpräsident Tayyip Erdoğan (AKP) hat auf die Stimmenverluste mit einer großen Kabinettsumbildung reagiert. Außenminister wurde Ahmet Davutoğlu, was in vielen EU-Hauptstädten mit Skepsis aufgenommen wurde, weil befürchtet wird, dass Davutoğlu das Hauptaugenmerk der türkischen Außenpolitik auf den Nahen Osten legen möchte. Davutoğlu versuchte der Besorgnis entgegenzuwirken, indem er sagte, dass "es nicht möglich ist, die EU zu vergessen. Denn dieser (Annäherungs)Prozess macht sich selbst unvergesslich." Das verstärkte Engagement der Türkei im Nahen Osten und in Kaukasien schwäche die Beziehung zur EU nicht. Vielmehr gewinne die Türkei an Wert, da sie in diesen Regionen Einfluss habe. Gleichzeitig stärke der EU-Prozess die Rolle der Türkei, insofern seien beide Komplexe als untrennbare Teile eines Ganzen zu betrachten. Die wesentlichen Gründe für das Stocken der Reformen lägen im Inland, wie der Prozess zur Wahl des Staatspräsidenten (April bis August 2007), die Zunahme des PKK-Terrors (Oktober 2007) und die Verbotsklage gegen die AKP (März 2008). Die vergangenen zwei bis drei Jahre seien verlorene Zeit gewesen. Dennoch seien unter anderem mit der Gründung des ersten staatlichen Fernsehkanals in kurdischer Sprache TRT 6, dem Stiftungsgesetz, welches die Eigentumsrechte der christlichen und jüdischen Minderheiten stärkt und der Änderung des Paragraphen 301 des türkischen Strafgesetzbuches, welcher die Herabsetzung der türkischen Nation unter Strafe stellt, wichtige Schritte unternommen worden. Für den erlahmten Reformeifer machte Davutoğlu auch die Art und Weise verantwortlich, mit der die EU das Zypern-Problem angegangen sei. "Die EU hat sich nicht an ihr Wort gehalten", so Davutoğlu. "Der dritte verlangsamende Faktor war, dass das Gespann Chirac-Schröder ging und an seine Stelle Sarkozy-Merkel traten."

Im Zusammenhang mit dem EU-Skeptizismus der AKP sind insbesondere die EU-kritischen Tendenzen innerhalb ihrer Wählerschaft zu erläutern, deren Erwartungen der Partei immer wieder Probleme bereitet haben. So wollte die AKP 2004 beispielsweise Ehebruch per Gesetz unter Strafe stellen, musste aber angesichts des großen Widerstands in der türkischen Öffentlichkeit davon wieder Abstand nehmen. Distanzieren musste sie sich 2008 auch von einem "Gesetzentwurf zum Jugendschutz", der vorsah, Käufer pornografischer Artikel staatlich zu registrieren und Jugendlichen unter 18 Jahren den Besuch von Internetcafés zu verbieten. Parteichef Erdoğan selbst bezeichnet die AKP als Volkspartei, die viele verschiedene politische Überzeugungen unter einem Dach vereine. Ein liberal-reformfreundlicher, ein religiöser, ein nationalistischer und ein bürgerlich-konservativer Flügel sind klar zu unterscheiden. Die Rivalitäten dieser Flügel blockieren bisweilen die Regierungsarbeit.

Zudem ist hier die Beeinträchtigung der nach 2002 entstandenen guten Beziehung zwischen der AKP und liberalen Kräften in der türkischen Gesellschaft zu erwähnen: Nach der Wahl von 2007 strebte die AKP mit deren Unterstützung eine Verfassungsreform an, das gemeinsame Ziel war die Demokratisierung der Türkei. Weil die AKP hinsichtlich dieses neuen Verfassungsentwurfs die Freiheiten über religiöse Forderungen, wie beispielsweise die nach der Aufhebung des Kopftuchverbots an den Universitäten, definieren wollte, kam es teilweise zum Bruch dieser zweckorientierten Zusammenarbeit. Nach Ansicht der Liberalen war es ein schwerer taktischer Fehler, sich auf die Diskussion über das Kopftuch zu konzentrieren und die Freiheiten nicht im größeren Zusammenhang einer Verfassungsreform zur Stärkung aller Bürgerrechte anzugehen.

Die EU-skeptische Neigung der AKP kam in einer Aussage ihres Vorsitzenden Tayyip Erdoğan 2008 zum Ausdruck, als er sagte: "Wir haben von der EU nur deren Unanständigkeiten übernommen." Dies erregte großes Aufsehen in der europäischen Öffentlichkeit. Mit Bezug auf die Aussage Erdoğans formulierte die islamistische Zeitung "Vakit" die Grundthesen der skeptischen Haltung der AKP, die auf Sittlichkeit, Moral und Religion basiert, wie folgt:

  • Der Wert der Familie als Institution ist in den europäischen Gesellschaften zerstört. Anstelle der Ehe sind alternative Formen des Zusammenlebens getreten. Der Anteil der jungen Menschen an der Gesamtbevölkerung nimmt jedes Jahr ab.

  • Ältere Menschen werden in Altersheime abgeschoben.

  • Anormale Lebensweisen, so beispielsweise Homosexualität, werden unter dem Namen sexuelle Freiheit propagiert.

  • In vielen europäischen Ländern ist das Alter für erste sexuelle Erfahrungen auf zehn bis elf Jahre gesunken.

  • Selbst unter Grundschülern gibt es schon Alkohol- und Drogenabhängigkeit, vor allem von Heroin.

  • Es gibt keinen Nachbarschaftssinn und keine Solidarität mehr. Der westliche Mensch lebt einsam unter Millionen.

  • Die Glaubenskrise bedroht alle westlichen Länder. In Europa ist die Hälfte der Bevölkerung ohne Glauben.

Die EU versteht sich als Wertegemeinschaft, die von ihren Mitgliedern klare Grenzen zwischen Religion und Staat, Gleichberechtigung von Frauen und Männern sowie die Garantie der Freiheitsrechte (Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit etc.) fordert - allesamt Themen, die Fragen hinsichtlich der Haltung der AKP gegenüber der EU aufwerfen, obwohl die Partei zum Beispiel im derzeitigen Parlament mit 28 Abgeordneten die meisten Frauen stellt.

EU-Skeptizismus der CHP

Die CHP wurde 1923 von Mustafa Kemal gegründet. Grundsätzlich tritt die Partei - damals wie heute - für die sechs Prinzipien des Kemalismus ein: Republikanismus, Populismus, Laizismus, Nationalismus, Etatismus und Reformismus. Hatte die CHP die pro-europäische Politik der AKP-Regierung zwischen 2002 und 2004 noch unterstützt, erklärte der CHP-Vorsitzende Deniz Baykal vor der Parlamentswahl von 2007, dass seine Partei den Reformkurs nicht mehr befürworte. Die Haltung der CHP zur EU ist am besten durch ein "Ja, aber" zu definieren. Für die Wandlung von einer EU-unterstützenden zu einer EU-skeptischen Position waren folgende Faktoren entscheidend:

  • die Kontrolle über den EU-Beitrittsprozess durch die (von der CHP als islamistisch angesehene) Regierungspartei AKP,

  • das eigene politische Schicksal als Oppositionspartei seit 2002 und das Verbleiben in der Opposition nach der Niederlage bei der Parlamentswahl von 2007 gegen die pro-europäische AKP,

  • die innerparteiliche Entwicklung der CHP, das heißt die Dominanz des kemalistisch-nationalistischen und "anti-imperialistischen" Flügels,

  • die exogenen Faktoren des EU-Annäherungsprozesses bzw. die Reflexionen über ein "Vertrauensproblem" hinsichtlich der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei.

Wie die CHP sind auch die laizistischen Eliten der Republik und kemalistisch geprägte Institutionen wie die Armee und die Justiz skeptisch bezüglich eines echten Wandels der AKP hin zu einer "normalen" Partei. Der AKP wird vorgeworfen, sie verfolge die EU-Mitgliedschaft als taktisches Ziel: Mit Hilfe der liberalen EU-Attitüde ließe sich der Alltag noch leichter islamisch prägen. Für die CHP ist nicht nachzuvollziehen, wie die AKP - eine Partei, die das Laizismusprinzip einer liberalen Demokratie nicht völlig verinnerlicht habe - eine EU-Mitgliedschaft akzeptieren kann. Die pro-europäische Haltung und entsprechende Reformen der AKP führten zwischen 2002 und 2005 sowohl zu deren Erfolg bei der Wählerschaft als auch zur materiellen und machtbezogenen Schwächung der AKP- bzw. EU-skeptischen Elite. Die CHP wurde zunehmend kritisch gegenüber der EU, nachdem "Meinungsumfragen deutlich machten, dass die CHP keine Chance besaß, die nächsten Wahlen (2007; Anm. des Autors) zu gewinnen". Bei der EU-skeptischen Positionierung der CHP darf daher ihre Rolle als Oppositionspartei seit 2002 nicht ignoriert werden.

Daneben ist ihre innerparteiliche Entwicklung von Bedeutung: In ihrer Geschichte gab es parteiintern immer wieder Auseinandersetzungen um den Widerstreit zwischen Europäisierung einerseits und Nationalismus sowie Laizismus andererseits, wobei sich die CHP stets auf die Grundsätze des Kemalismus berief. Während die Türkei auf dem Weg in Richtung EU voranschreitet, soll sie nach Auffassung der CHP ihr einheitliches Staats- und Nationenverständnis bewahren, welches vom kurdischen Separatismus bedroht werde. Zudem solle die Türkei das Laizismusprinzip gegenüber dem islamistischen Fundamentalismus verteidigen. Die Türkei könne sich nur dann weiter demokratisieren und europäisieren, wenn der kurdische Separatismus und der fundamentalistische und gemäßigte Islamismus marginalisiert seien. Andernfalls bestehe die Gefahr, dass die Türkei in ethnische und religiöse Gruppen aufgespalten und somit die gesamte Ordnung zerstört werde.

Darüber hinaus kamen Ende 2004 äußere Faktoren der türkischen EU-Mitgliedschaft ins Spiel, wobei die Haltung der CHP gegenüber der EU durch die skeptische Türkei-Politik einiger EU-Länder negativ beeinflusst worden ist. Obwohl die CHP-Wähler größtenteils den EU-Beitritt befürworten, wandelte sich die CHP von einer EU-enthusiastischen zu einer EU-skeptischen Partei. Der islamistische Fundamentalismus, der kurdische Separatismus und der "europäische Imperialismus" wurden dabei von der CHP zu einem Feindbild verknüpft. Des Weiteren ist zu festzustellen, dass die CHP 16 Gesetzesvorhaben, welche die Türkei dem EU-Beitritt näher bringen sollten, behindert hat. Dies veranlasste Gegner der CHP immer wieder zu der Fundamentalkritik, dass die Partei ihre antidemokratischen Elemente, die in ihrer Identität schon immer vorhanden gewesen und auch heute noch von Bedeutung seien, während des EU-Annäherungsprozesses und der demokratischen Konsolidierung nicht verheimlichen könne. Dies sei der wahre Grund, warum sie mit der EU, die eine liberale Politik einfordere, nicht auf einer Linie sei. Dabei muss betont werden, dass die CHP zwischen ihrem Selbstverständnis als Staatsgründerpartei und einer ideologischen Linksorientierung schwankt und sich zu einer Elitenpartei gewandelt hat. Die CHP streitet gleichwohl ab, eine Partei der EU-Gegner oder -Skeptiker geworden zu sein.

EU: Einflussfaktoren bei AKP und CHP

Die Herangehensweise der EU an den Integrationsprozess eines Beitrittslandes und bei der Verwirklichung der Beitrittsbedingungen ist sowohl bezüglich der Entstehung als auch der Ab- und Zunahme des EU-Skeptizismus in der Türkei ein relevanter Faktor. Diesbezüglich wirken folgende Umstände gleichsam auf AKP und CHP:

  • die Gegnerschaft von Bundeskanzlerin Angela Merkel gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei: "privilegierte Partnerschaft" statt Vollmitgliedschaft;

  • die Gegnerschaft des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy: Mittelmeer-Union statt Vollmitgliedschaft;

  • Merkmale der Beitrittsverhandlungen wie ihre Ergebnisoffenheit;

  • die Betonung der Aufnahmekapazität der EU als neues Kriterium für die Aufnahme der Türkei;

  • die Aussetzung von 8 der 35 Kapitel der Beitrittsverhandlungen wegen der ungelösten Zypernfrage;

  • die Annahme des Armenier-Gesetzes in Frankreich im Jahre 2006, welches das Leugnen eines Völkermords an den Armeniern ("la contestation de l'existence du génocide arménien") in der Endphase des Osmanischen Reichs unter Strafe stellt;

  • die Äußerungen Papst Benedikt XVI. zum Islam und zum Propheten Mohammed sowie die Mohammed-Karikaturen in den westlichen Medien (dieses Argument ist häufiger bei der AKP vorzufinden);

  • die Zulassung des PKK-nahen Fernsehkanals Roj TV in Dänemark.

Abschließende Bewertung

Bezüglich der Haltung der AKP gegenüber der EU ist Hannes Swoboda, stellvertretender Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE), folgender Auffassung: "Insgesamt betrachtet hat die AKP im Vergleich zu früheren Regierungen - vielleicht nicht immer mit der geschicktesten Form - sicherlich mehr gemacht. Das Problem ist, dass wir noch immer keinen wirklichen Verfassungsentwurf haben. Aber da hat man natürlich Angst, die Dinge wirklich grundsätzlich anzugehen und das ist sicherlich absolut notwendig." Darüber hinaus schätzt er die EU-Politik der CHP wie folgt ein: "Die CHP hat gesehen, dass sie sich mit ihrer Politik immer mehr von europäischen Parteien und Strukturen entfremdet. Daher versucht sie, sich dahingehend ein wenig zu korrigieren, allerdings bisher sehr zögerlich und noch nicht wirklich durchgreifend."

Als Ergebnis ist festzuhalten, dass die EU-Mitgliedschaft für die Türkei und die Mehrheit der Bevölkerung das wichtigste demokratische, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungsprojekt ist. Für die Parteien, welche diesen allgemeinen Wunsch nach Veränderung in ihrer Politik nicht zur Sprache bringen und umsetzen, ist die politische Zukunft ungewiss. Seit 2005 kommt die AKP dem Wunsch der Gesellschaft nach dem Beitritt zur EU nur in gemäßigtem Tempo nach, was sie damit begründet, dass ihr sowohl im In- als auch im Ausland Steine in den Weg gelegt würden. Es bleibt abzuwarten, welche Lehren sie in Bezug auf ihren moralisch begründeten EU-Skeptizismus aus dem Rückschlag bei den Regionalwahlen 2009 zieht. Es gilt dem Vertrauensschwund entgegenzuwirken, der in letzter Zeit bei manchen EU-Akteuren gegenüber der AKP wegen ihres Laizismusverständnisses liberaler Demokratien entstanden ist. Um auch 2011 die Regierung zu stellen, brauchen Erdo?an und seine Mitstreiter zweifelsohne neuen Schwung.

Auf der anderen Seite sieht die CHP, die sich seit Gründung der Türkischen Republik am Westen orientiert hat, die EU-Mitgliedschaft prinzipiell als eine "Krönung der republikanischen Reformen" an. Allerdings hat sich ihre Haltung gegenüber der EU von einer kritischen in eine gegnerische gewandelt. Grund hierfür war zum einen, dass die EU die Beitrittsgespräche als einen Prozess mit offenem Ende anging, an dessen Ende nicht automatisch die Vollmitgliedschaft winkt. Zum anderen warf sie der EU vor, beim Verbotsverfahren gegen die AKP vor dem türkischen Verfassungsgericht einseitig Partei für diese ergriffen und somit deren geheimes Ziel unterstützt zu haben, den Staat zu islamisieren. Zudem gibt es innerhalb der CHP einen kemalistisch-nationalistisch begründeten EU-Skeptizismus. Seit Anfang 2009 ist allerdings zu beobachten, dass die CHP wieder zu ihrer Rolle als EU-Unterstützerin zurückfindet. So haben CHP-Politiker wie der Parteivorsitzende Deniz Baykal bei seinem Brüssel-Besuch im Februar 2009 wieder verstärkt auf die Bedeutung der EU-Mitgliedschaft hingewiesen. Nur mit der Profilierung als pro-europäische Reformpartei könnte die CHP der AKP bei der Parlamentswahl 2011 Schwierigkeiten bereiten und sich so vielleicht sogar den Weg in die Regierung ebnen. Dies erscheint aber aus heutiger Sicht sehr unwahrscheinlich.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Udo Steinbach, Geschichte der Türkei, München 2000; Feroz Ahmad, Geschichte der Türkei, Essen 2005.

  2. Vgl. Serdar Şen, AKP Milli Görüşçü mü? Parti programlarında Milli Görüş [Ist die AKP eine Anhängerin der Milli Görüş? Die Milli Görüş in Parteiprogrammen], Istanbul 2004, S. 9-19.

  3. Vgl. M. Hakan Yavuz (ed.), The Emergence of a New Turkey. Democracy and the AK Parti, Salt Lake City/UT 2006.

  4. Vgl. Interview mit Cengiz Aktar, in: Milliyet vom 15.12. 2008, S. 12.

  5. Vgl. Ahmet Hakan, İslamcımız milliyetçidir vom 22.12. 2008, in: http://hurarsiv.hurriyet.com.tr/goster/haber.aspx?id=106175 08&yazarid= 131&tarih= 2008 - 12 - 22 (21.5. 2009).

  6. Zit. nach: Star gazete vom 21.5. 2009, in http://stargazete.com/gazete/yazar/mustafa-karaalioglu/davuto glu-ab-icin-ne-dusunuyor-189601.htm (21.5. 2009).

  7. Zit. nach ebd.

  8. Vgl. International Crisis Group, Turkey and Europe: The Decisive Year Ahead, Europe Report No. 197 - 15 December 2008, S. 4-9.

  9. Erdoğan: Batının ahlaksızlıklarını aldık, in: http://arsiv.ntvmsnbc.com/news/432704.asp (28.7. 2009).

  10. Vgl. Vakit vom 26.1. 2008; zur Bewertung der Thesen vgl. Ahmet Hakan, On üç maddede Batı ahlaksızlıkları, in: http://hurarsiv.hurriyet.com.tr/goster/haber.aspx?id= 8114470&yazarid=131 vom 28.1. 2008 (1.8. 2009).

  11. Zur frühen Geschichte der CHP siehe Kemal Karpat, The Republican People's Party 1923 - 1945, in: Metin Heper/Jacob M. Landau (eds.), Political Parties and Democracy in Turkey, London 1991, S. 42 - 64.

  12. Vgl. Hikmet Bila, CHP 1919 - 2009, Istanbul 2008.

  13. Hakan Yılmaz, Euroskeptizismus in der Türkei, in: Gabriele Clemens (Hrsg.), Die Türkei und Europa, Münster 2007, S. 217.

  14. Zum Zusammenhang zwischen EU-Skeptizismus und politischer Opposition siehe Nick Sitter, The Politics of Opposition and European Integration in Scandinavia, in: West European Politics, 24 (2001) 4, S. 22 - 39.

  15. CHP, Tam Üyelige Evet, Özel Statüye Hayir [Parteipapier: Ja zur Vollmitgliedschaft, nein zur Privilegierten Partnerschaft], 2005.

  16. In diesem Sinne wird durch nationalistische Linke behauptet, dass es sich bei der EU-Erweiterung um eine kulturelle, politische und wirtschaftliche Ausweitung der westlichen Hegemonie handele.

  17. Vgl. Ismet Berkan, CHP'den neden ümidi kestim?, in: www.radikal.com.tr/Radikal.aspx?aType= Radikal YazarYazisi&ArticleID= 846447&Date=22.4.2008& CategoryID=97 vom 22.4.2009 (28.7. 2009); Umut Özkırımlı, CHP milliyetçiliği, etnik milliyetçiliktir, in: www.radikal.com.tr/haber.php?haberno= 187334 vom 15.5.2009 (28.7. 2009).

  18. Interview des Autors mit Hannes Swoboda in dessen Brüsseler Büro im Europäischen Parlament am 16.2. 2009.

M. A., geb. 1976; Doktorand am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, Universität Erfurt, Am Hügel 1, 99084 Erfurt.
E-Mail: E-Mail Link: ismail.ermagan@stud.uni-erfurt.de