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Die retuschierte Wirklichkeit - Essay | Leseland DDR | bpb.de

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Die retuschierte Wirklichkeit - Essay

Marion Titze

/ 16 Minuten zu lesen

Was meint der Mythos vom "Leseland" DDR? Die florierenden Bibliotheken? Oder die Schriftstellerbasare, weil dort auf den Signiertisch kam, was sonst nur unterm Ladentisch zu bekommen war?

Einleitung

Nicht sofort, aber bald machte die DDR einen groben Fehler: Sie zerstörte in den 1970er Jahren noch die letzte privatwirtschaftliche Initiative. Und damit den Eigensinn überhaupt. Denn Initiative ist an Impulse des Eigensinns geknüpft, an eine Tatkraft, die nicht nur am Broterwerb orientiert ist.



Stellen wir uns vor: Jemand ist Inhaber eines der stolzesten Diplome, des Kapitänspatents, und seine Liebe hinge an seinem Schiff. Beim Bombenangriff auf Rostock lag es im Hafen und wurde schwer getroffen. Die einrückende sowjetische Armee aber fand für den noch schwimmfähigen Rumpf Verwendung. Bis zum Jahr 1947, dann bot sie das Wrack zum Kauf an. Unser Kapitän erwarb sein Schiff zum zweiten Mal und baute es unter unsäglichen Schwierigkeiten wieder auf. Es stach in See als Fahrgastschiff "Undine". Es fuhr zwei Jahre lang oder drei. Dann wurde es auf Weisung der Behörden des neu gegründeten Staates zum Bergungsschiff umfunktioniert, es lagen zu viele versenkte Kriegsschiffe auf dem Meeresboden der Ostsee. Später musste es Baustoffe transportieren. Doch 1954 durfte "Undine" wieder Fahrgastschiff sein. Bis 1975, da wurde es verstaatlicht, volkseigen, wird man später sagen. Unser Kapitän hatte nun zum ersten Mal Zeit, sein Leben lag brach, er wurde zum Leser.

Er verstand plötzlich auch, was es mit der kuriosesten aller Losungen, nämlich: Überholen ohne einzuholen auf sich haben könnte. Es könnte gemeint sein: Im Westen geht's aufwärts, im Osten nur vorwärts. Je länger die DDR existierte, desto mehr stellte sie Zeit her, nichts als Zeit. Man nahm dem Bauer die Kuh, dem Händler seinen Laden, der Jugend den Widerspruch. Die Verantwortung schrumpfte, und wo die Verantwortung schrumpft, wächst die Muße.

Eines der Gedichte, das wahrscheinlich alle DDR-Schulkinder lernten, war Bertolt Brechts "Fragen eines lesenden Arbeiters". Gleich in der Überschrift stößt man auf den Zusammenhang von Lesen und Fragen, mithin auf die Problematik, dass man Geister ruft, die man womöglich nicht wieder los wird. Plagegeister. Zwar gilt als ausgemacht, dass die DDR an ihrer Misswirtschaft zugrunde gegangen ist, aber angesichts der langen Lebensdauer von anderen Misswirtschaften neige ich der Auffassung zu, dass womöglich das Lesen die Ursache gewesen sein könnte. Denn auch meiner Erfahrung entspricht es, dass der Mensch, kaum hat er gelesen, alsbald auch fragt. Da der Sozialismus aber von seinen Funktionären als das Fraglose schlechthin gedacht war, ist ihm hier ein echtes Problem erwachsen. Und den Lesenden natürlich auch: Wer Fragen hatte und naiv genug war, sie zu stellen, galt als unbequem, als Querulant, letztendlich als Feind. Das war, wenn man so will, die unvermeidliche Karriere des Lesers. Da sich das Fragen aber nicht abschaffen ließ wie die Reisefreiheit und nicht anmeldepflichtig gemacht werden konnte wie der Besitz von Devisen, wurde die Chance, ein Naturrecht wiederzuerlangen, im Herbst 1989 beherzt ergriffen.

Ich weiß nicht, ob jemand Auskunft geben kann, was mit Leseland wirklich gemeint ist. Die florierenden Bibliotheken? Oder die Schriftstellerbasare, die Volksfesten glichen, weil dort auf den Signiertisch kam, was sonst nur unterm Ladentisch zu bekommen war? War es die Tatsache, dass Leute sich zum Hochzeitstag eine Reise zur Lesung ihres Lieblingsautors schenkten? Oder der Umstand, dass Lesen überhaupt einen hohen Stellenwert hatte, dass die Bücher billig waren, besser gesagt preiswert? Denn billig waren sie keineswegs. Gleich nach der "Wende" wurden viele Ost-Berliner von ihren neuen West-Berliner Bekannten für geradezu wohlhabend gehalten, weil sie nicht Taschenbücher, sondern schöne Leinenausgaben im Bücherregal hatten.

Die Bückware Buch, war es das, was zum Mythos vom "Leseland" beitrug? Viele der einstigen Bückwarebücher fristen heute ein Dasein, das ein wenig an Damen eines Adelsstiftes erinnert. Leicht vergilbt, ausgegliedert und verwahrt, ohne auf Interesse hoffen zu können. Dennoch erkenne ich sie, wenn ich ihrer ansichtig werde, bereits von Weitem. Neulich stieß ich auf so ein Grüppchen im Küchwald-Krankenhaus in Chemnitz. Ich musste auf meine Schwägerin warten, die nicht in ihrem Bett lag, sondern zu Untersuchungen in anderen Abteilungen war. Soviel Geduld zum Warten bringt man nur in einer fremden Stadt auf, ich beschloss, auszuharren und mich in das kleine Besucherzimmer zu setzen. Und da waren sie, die Helden meiner Jugend. Dies war eine Bibliothek für Patienten, aber die Kranken, die auf dieser Station ihre Tage zubringen mussten, waren viel zu schwach, um zu lesen. Sie erhielten ihre Chemotherapie, und wenn sie wieder am Leben teilnehmen konnten, wurden sie nach Hause entlassen.

Außerdem würden sie kaum Uwe Greßmann lesen. Greßmann war eine Art poète maudit, wie ihn jedes Land hat. Sie hinterlassen ein schmales Werk und eine Anhängerschaft, die sich oft deshalb bildet, weil einer früh gestorben ist und tapfer gelebt hat. Erst durch Nachrufe entsteht ihr Ruf. Ich ließ mich am Tisch vor dem Bücherregel nieder, griff nach dem Reclamband mit Greßmanns Zeichnungen, Gedichten und Briefen. "Denn es gibt einen Hunger nach authentischen Gestalten", schreibt Richard Pietraß im Nachwort, und schildert das Leben dieses Dichters, der kaum, dass er geboren war, ins Waisenhaus kam und es nur verließ, um in eine Heilstätte für Tuberkulose einzuziehen. Greßmann bekennt: "Die Krankheit kam wie eine Erlösung, die mir in fünf Jahren Kraft gab, mich zu finden. Nur an den Nadelstichen und Eingriffen, die ich bekam, merkte ich die Krankheit und an den Tabletten, die ich einnehmen mußte. Sonst war sie die freundliche Schwester innerer Anlagen. Und wie sie mich unterhielt, mich hieß zu zeichnen und zu dichten." Wir kennen solche Aussagen von Franz Kafka, wie aus der erlittenen und zugleich akzeptierten Isoliertheit die Sprache zum Trost wird und wie ein Erweckungserlebnis empfunden wird. Wahrscheinlich war Greßmann mein Kafka-Ersatz, denn als ich Kafka dann endlich hatte, da habe ich Greßmann vergessen.

Nie vergessen habe ich "Ole Bienkopp" von Erwin Strittmatter. Ich habe den Roman auf der Oberschule gelesen und war so inspiriert, dass ich die Figuren porträtierte. Es waren Kohlezeichnungen, und unser Kunsterzieher ließ sie rahmen und im Schulhaus aufhängen. Auch schenkte er mir, was noch schmeichelhafter war, ein kleines Inselbändchen mit Zeichnungen von Rembrandt. Wenn ich es recht bedenke, war ich nie wieder so erfolgreich. Trotzdem habe ich Ole Bienkopp verraten.

In den Jahren meiner beruflichen Isoliertheit hatte ich, wie der Kapitän der "Undine", plötzlich unfreiwillig Zeit. Ich konnte den Ungereimtheiten nachgehen, die sich im Laufe meiner Arbeit als Journalistin aufgetürmt hatten. Wo war Trotzki auf den Fotos mit Lenin? Wer hatte ihn wegretuschiert und warum? Wer war Hannah Arendt, und warum hatte ich noch nie von ihr gehört? Fragen einer lesenden Arbeiterin in den 1980er Jahren. Doch anders als bei Brecht, dessen Teppichweber und Hirsebauern durch Fragen zur Einsicht in ihr Klassenbewusstsein gelangten, kam mir das meinige sukzessive abhanden. Mir wurde klar, dass es fast keinen Bereich gab, der auf Wahrheit beruhte, dass Lüge und Machtmissbrauch, zum notwendigen Übel erklärt, längst legitim waren, dass die Wirklichkeit retuschiert wurde. Nur diese Denkart erklärt die unglaubliche Loyalität derer, die es besser wussten und Schweigen über Verbrechen wahrten, Denunziation hinnahmen und das Brechen vormals stolzer Menschen, die nicht selten ihre Freunde waren, zuließen. Was sollte das für ein Gelobtes Land sein, wenn man es auf solchen Voraussetzungen gründen wollte?

Mir war ein wenig so, als habe man zufällig das Buch der Familie gefunden und erfahren müssen, dass die Eltern nicht die richtigen Eltern sind. Es wird nie wieder gut werden, war das deutliche Gefühl, das ich damals hatte. Das Entdeckte würde auf seine Verheimlicher zurückfallen mit einer Wucht ohnegleichen. Ich war nicht religiös und wusste kaum, was das Jüngste Gericht ist, und nie hätte ich mir träumen lassen, dass der Antifaschistische Schutzwall eines Tages einfach so umfällt, es war nicht mal so, dass ich es wünschenswert fand. Es war lediglich so, dass ich nichts mehr zu tun haben wollte mit dem Ganzen.

Ich wandte mich ab von Anna Seghers und von Brecht. Und von Strittmatter eben auch, denn sein "Ole Bienkopp" hatte sich in meiner Erinnerung als der Roman eingenistet, als der er noch heute beschrieben wird, ein Kollektivierungsepos, LPG und so weiter. Günther Rüther gibt sein Leseerlebnis folgendermaßen wieder: "Der Nationalsozialismus und die Schrecken des Krieges veranlassen Bienkopp, der bis dahin im Dorf als Eigenbrötler und Sonderling galt, aus seiner Isolierung herauszutreten und unter den veränderten politischen und sozialen Verhältnissen der fünfziger Jahre an der Kollektivierung der Landwirtschaft aktiv mitzuwirken. Dabei stößt er auf vielfachen Widerstand. Zunächst hat er sich mit den alten Kräften im Dorf auseinanderzusetzen, dem Sägemüller Ramsch und dem Großbauern Serno, die ihre herausgehobene Stellung nicht aufgeben wollen. Aber Bienkopp setzt sich durch. Er gründet eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG), um soziale Ungerechtigkeit zu verhindern. Doch sein Tatendrang und Initiativgeist schaffen ihm neue Probleme: dieses Mal mit der Partei, der Bürgermeisterin des Ortes, Frida Simson, und dem Parteisekretär Wunschgetreu. Der eigensinnige, vorwärtsdrängende, zum LPG-Vorsitzenden avancierte Bienkopp schert sich nicht um die Anweisung der Behörden. Er geht weiter seinen Weg, auch gegen die bürokratischen Hemmnisse der Partei. Am Ende stirbt er, vereinsamt, bei der Arbeit, weil er ohne Hilfe der Partei und des Staates seiner Aufgabe nicht gerecht werden kann."

Gerade hat Daniel Kehlmann uns wissen lassen, und das sogar zum Thema seines neuen eben erschienen Buches gemacht: Eine Romanfigur stirbt in erster Linie, weil der Autor es so will. Und das verhält sich in einer Diktatur kaum anders. Es darf folglich bezweifelt werden, dass Ole Bienkopp aus den oben genannten Gründen ins Gras beißt. Aber weil es mir im Lauf der Jahre entfallen ist, weiß ich, während ich vor der seltsam betagten Patientenbibliothek sitze, nichts mehr vom Bienkopp-Tod. Vielmehr sucht mein Blick sofort nach einem Buch, das hierher gehören würde und das wie kein zweites in meiner Generation einschlug, weil es so mutig, so leichthändig, so umwerfend selbstverständlich Schluss machte mit dem ganzen Hokuspokus von kampferprobt und innerparteilich und der lächerlichen Vorstellung, dass der Segen des Sozialismus derart weit reichend ist, dass niemand zu Tode kommt. Seit Edgar Wibeaus Abgang in Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W." verfiel die Staatsmacht der fixen Idee, dass der Tod etwas Pessimistisches sei und dazu kein Grund bestehe im Sozialismus.

Und dann kam Maxie Wander mit ihren Gesprächsprotokollen unter dem Titel "Guten Morgen, du Schöne". Sie hat das Erscheinen des Buches gerade noch erlebt, bevor sie 1977 an Krebs starb. Wohl aus Pietät durfte es über sie heißen: "Sie war eine unbequeme Zeitgenossin, unbequem, weil unbestechlich und von Zorn erfüllt über die Korruptheit, das Konsumdenken, das blinde Sichfügen und Resignieren vieler Menschen in unseren Reihen." Maxie Wanders Arbeit löste eine Welle des Dokumentarischen aus, von der am meisten der Dokumentarfilm profitierte. Junge Filmemacher taten sich zusammen, um zu gründen, was man heute ein eigenes Label nennen würde, was aber damals Fraktionsbildung hieß, Zusammenrottung. Ich befand mich auch unter ihnen. Natürlich fragten wir uns, warum eine Generation Etablierter es ignorierte, dass man die ganze nächste Generation so ins Abseits stellte. "Vor den Vätern sterben die Söhne", hieß das makabre Spiel, das Söhne wie Thomas Brasch nicht länger Revolution nennen wollten.

Warum aber stirbt Ole Bienkopp? Jeder passionierte Leser weiß, dass ein Buch, welches wirklich den Weg ins vitale Gedächtnis finden soll, mindestens ein zweites Mal gelesen werden muss. Meist sind es Verfilmungen, die uns dazu verführen, ein bestimmtes Buch nach Jahren wieder zur Hand zu nehmen. Wir wollen vergleichen, ob der Regisseur sich an den Text hielt. Wie sieht Anna Karenina bei Tolstoi aus, und können Buchstaben überhaupt mithalten mit der Opulenz eines Filmballs, den hinreißend gedrehten Walzern?

Erwin Strittmatter wird durch die Fernsehverfilmung seiner Romantrilogie "Der Laden" das Glück solchen Gelesenwerdens erfahren haben, längst pilgern Touristen zum Heimatort des Erzählers, seit er Originalschauplatz für die Dreharbeiten gewesen ist. Bestimmt wird sich die Familiensaga um Esau Matt im kulturellen Bewusstsein verankern. Ole Bienkopp aber wird in der Versenkung verschwinden und bestenfalls auftauchen auf den Werklisten des belächelten Sozialistischen Realismus. Ohnehin ist gerade die stabile Welt des Gedruckten auf dem Rückmarsch, und gewiss ist der Satz Sören Kierkegaards, sich ein Buch zu leihen, sei die beste Art, mit einem Mädchen in Verbindung zu kommen, kein Tipp mehr zum erfolgreichen Flirt.

War ich eigentlich damals in Verbindung mit einem Jungen gekommen, wo doch meine Zeichnungen an den Wänden der Schule hingen? Nein, alles, wozu ich gekommen war, war ein weiteres Buch, das Geschenk von meinem Zeichenlehrer. Das mit den Büchern hat seine Grenzen, meinte meine Mutter schon damals und stellte sie zweireihig in die Schrankwand, was dazu führte, dass sie Stalin mit h schrieb, was nicht passiert wäre, wenn die Bände in der ersten Reihe hätten bleiben dürfen.

Ich gebe zu, die Geschichte ist erfunden. Ich sah den Namen Stalin ein einziges Mal mit h geschrieben und zwar in den 1990er Jahren am Blechtor einer verlassenen russischen Kaserne, auf die jemand "Stahlin verpiß dich" gesprayt hatte. Ich wollte mit dem Umschreiben der Geschichte auch nur sagen, dass es Menschen gibt, welche die Welt der Bücher vom Standpunkt des Staubwischens aus betrachten, Leute, die die Arbeit machen, während wir die Beine hochlegen und lesen. Auch im Leben von Uwe Greßmann hat es so eine Frau gegeben: "Herr Greßmann hat sehr viele Bücher (...) und teilweise auch hochgeschichtet, so daß es in dem an sich schon engen (1/2) Zimmer noch enger wird (...). Auch steht unter Bett und Sofa alles voll von Büchern, daß es mir einfach nicht möglich ist, diese Stellen zu säubern, was ich auf die Dauer nicht hinnehmen kann." Was aber ist nun mit Bienkopp?

In der dritten Stunde meines Wartens im Besuchsraum hatte ich den Roman fast bis zur Hälfte gelesen. Das erste, was mir auffiel, war die Musikalität des Textes, und ich dachte unweigerlich an Vaslav Nijinsky, an etwas kraftvoll Durchgetanztes, vom Atem Geschaffenes. "Ich bin ein Philosoph, der fühlt", hat der legendäre Tänzer der Ballets Russes von sich gesagt. Sein Tagebuch ist auch gleichsam getanzt geschrieben, die Eindrücke scheinen unmittelbar von der Netzhaut auf das Papier zu fallen, ja, das Präsens ist geboten, denn noch beim Lesen glaubt man, dabei zu sein.

Doch während so ein Satzstakkato den Leser gewöhnlich rasch ermüdet, ist das beim Bienkopp-Roman anders, die Kapitel sind knapp gehalten, umfassen nicht mehr als fünf Seiten, und dauernd springt ein anderer Faun auf die Bühne, und jedes Mal möchte man Szenenapplaus spenden. Das Buch ist urwüchsig komisch, aber darunter entfaltet sich kaum hörbar ein melancholisches Drama, die Trauer darüber, dass ein Narr immer fremd in der Welt ist. Don Quijote kommt einem in den Sinn, und er wird auch Strittmatter vor Augen gestanden haben, aber anders als der Landjunker von Cervantes ist Ole kein weltfremder Träumer, er ist im Gegenteil der Scout der Bauern. Der, der den Schnee riecht, bevor er eintrifft, das Geheimnis der Bienen kennt, die Sprache der Flugenten, ein Pferdeflüsterer im weitesten Sinn, dazu ein vom Kopf auf die Füße gestellter Taugenichts, ein Taugealles, weil er die Natur kennt und wie ein Übersetzer vorgeht, der ihre Hinweise wahrnimmt und entziffert. Nein, Bienkopp setzt sich weder durch, noch drängt er vorwärts. Vorwärts ist genau die Vektorrichtung, die ihm suspekt ist.

Das Buch ist 1963 erschienen, lange bevor jemand überhaupt nur einen grünen Gedanken hatte. Zum Dilemma des Seiner-Zeit-Vorausseins kommt die Ansiedlung des Stoffs im Milieu der Kollektivierung. Vielleicht muss man ein thematisch ähnliches Buch parallel lesen, um zu begreifen, dass Strittmatter kein ostdeutscher Scholochow ist und "Ole Bienkopp" kein Bauernroman, obgleich er vom Dorfleben handelt, nur gleicht das Dorf mehr einer Urgemeinde, einem Kibbuz, alles muss irgendwie Hand in Hand gehen, und deshalb muss es freiwillig bleiben.

Das eigentliche Pendant zu Michail Scholochows "Neuland unterm Pflug" ist Bernhard Seegers Roman "Herbstrauch", erschienen 1961. Dort ist das Personal wirklich an die Scholle gekettet, und obwohl die Darstellung keineswegs plakativ ist, folgt der Autor dem Gedanken vom Eigentum als einer Geißel der Menschheit, einer Plage, die es abzuschütteln gilt, selbst wenn es schmerzt. Entsprechend beifällig sind die Kritiken, die der Klappentext mitliefert: "Herbstrauch ist durchglutet vom heißen Atem der Epoche und von heißer Liebe zu den arbeitenden Menschen. Die Lektüre wird zu einem Erlebnis, das sich tief in das Bewußtsein des Lesers einprägt. Man möchte dem Autor die Hand drücken, ihn fest umarmen und ihm sagen: Hab Dank Bernhard Seeger."

Natürlich ist es leicht, mit solchen Zitaten ein Werk dem Spott preiszugeben, aber dafür muss man die dreihundertfünfzig Seiten nicht lesen, schon gar nicht, wenn man noch kein Kapitän im Vorruhestand ist. Nein, die Romane so vergleichend zu lesen brachte mich zu der Erkenntnis, dass Strittmatter den geschichtsphilosophischen Ansatz im Innern nicht geteilt hat. Bei ihm ringt der Mensch nicht mit den Kräften einer gestaltungsmächtigen Geschichte, seine uneingeschränkte, fast symbiotische Sympathie gilt dem Blick auf die Welt aus der Perspektive des Schusterschemels.

Jakob Böhme ist Strittmatters Ahnherr, und dass sie die Herkunft aus der Niederlausitzer Landschaft teilen, scheint nur allzu logisch. In Böhmes "Schutzrede wider Gregorius Richter" von 1624 heißt es: "Seht doch zurück in die Welt, was Gott hat oft für einfältige Leute zu seinem Werk gebraucht... Wer waren die Erzväter? Schafhirten... Wer war Moses? Ein Schafhirte... Wer waren die Propheten?... Einfältige fromme Leute, welche mit Ackerwerk umgingen. Wer war Maria, die Mutter Christi? Ein arm, fromm, verwaiset Jungfräulein. Wer war Christi Pflegevater in seiner Kindheit? Ein Zimmermann. Wer waren Christi Apostel? Allesamt arme, einfältige Handwerksleute, als Fischer und dergleichen... S. Paulus war ein Schriftgelehrter, aber als er ein Christ ward, so mußte er erst in seiner Kunst und Weisheit ein Narr werden, auf daß die göttliche Weisheit in ihm möchte stattfinden."

Strittmatters Roman endet, wie er beginnt: "Die Erde reist durch den Weltraum. Was ist ein Dorf auf dieser Erde? Es kann eine Spore auf der Schale einer faulenden Kartoffel oder ein Pünktchen Rot an der besonnten Seite eines reifenden Apfels sein." Dazwischen stirbt Ole Bienkopp, der ein völlig neuer Heiliger ist, einer mit den Wesenszügen eines Ingenieurs. Er erlöst nicht die Armen, nicht die Leidenden, nicht die Kranken, sondern die Unbeholfenen, ja, die Unbeholfenheit selbst, weil er vorangeht im Sich-zu-helfen-Wissen. Er ist geprüft worden wie Hiob, er hat Wunder getan, und man hat sie ihm aus der Hand geschlagen, er hat sich nicht beirren lassen. Er hat auch Wunder erfahren, die Liebe zum Beispiel. Er hätte nicht zugrunde gehen müssen. Warum also stirbt er? Bienkopp stirbt einzig und allein, weil der Autor diesen Tod braucht. Man sagt ja, und man sagt es nicht nur, es ist wahrscheinlich so gewesen, dass Goethe den Werther in den Selbstmord getrieben habe, um nicht selbst Suizid zu begehen.

Das alles ist nun eine sehr private Lesart und nicht dazu angetan, sie in die Welt hinauszuposaunen. Dass es doch geschieht, liegt an diesem Artikel, den ich gerade schreibe, während immerfort zu hören ist, dass das Buch endlich gefunden sei, welches die DDR auf die literarische Formel bringe. Uwe Tellkamps "Der Turm" sei das ultimative Kennenlernbuch in Sachen DDR. Ich kann die Begeisterung verstehen, sogar teilen. Was aber definitiv nicht stimmt, ist, dass der Weiße Hirsch die DDR war. Die DDR bestand mindestens zur Hälfte aus Grünflächen und aus Menschen, die nicht in Villen gewohnt haben. Sie war nicht etwa das "Leseland" eines Bildungsbürgertums, sondern massenhaft kleiner Leute, die Stalin mit h schrieben und ihm schon deshalb nicht gefallen konnten.

Wie wenig clever sie waren, zeigt auch das Schicksal des Fahrgastschiffs "Undine": "Als die Wende kam und die Privatisierung der Reederei Weiße Flotte Stralsund einsetzte, wurde klar, daß ein so altes Schiff mit seiner unzeitgemäßen Technik nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben war. Nach vielfältigen Bemühungen, den ollen Kahn, auf dem einige Millionen Fahrgäste schöne Urlaubserlebnisse hatten, trotzdem zu erhalten, fand sich endlich der vermeintliche Retter", schreibt Robert Rosentreter, ein Rostocker Journalist und Historiker, der die Geschichte der "Undine" festgehalten hat. Seinem Bericht zufolge gab sich der Retter als Dr. med. aus und ließ sich erst einmal von einem eigens gegründeten Förderverein hofieren. Er stellte Ausflüge mit Freizeitbesatzungen auf die Beine, so nach Kühlungsborn, zur neuen Seebrücke. Auf der Adels-Nostalgie-Welle schwimmend, erhielt das Schiff den Namen "Kronprinz": "Das alles aber erbrachte nicht die gewünschten Einnahmen und Erfolge. Im Gegenteil liefen Kosten für Reparaturen auf." Die "Kronprinz" hatte die neue Seebrücke beim Anlegemanöver gerammt: 50 000 DM Schadensersatz und Schulden bei der Werft in Höhe von 56 000 Mark. "Beides wurde nicht bezahlt", schreibt Rosentreter.

Doch der arme Förderverein fand Mitleid in Kühlungsborn und Entgegenkommen bei einer Hamburger Werft. Allein die Stadt Rostock musste es ablehnen, einen bestimmten Liegeplatz am Alten Strom zur Verfügung zu stellen, weil die begehrte Anlegestelle für den Seenotkreuzer reserviert war.

Nun entschloss sich der Retter, die Stadt unter Druck zu setzen, aber: "Dieser Nötigungsversuch schlug fehl. Längst war es auch zu Unstimmigkeiten mit dem Förderverein gekommen, der jedoch inzwischen erreicht hatte, das Schiff auf die Liste der Technischen Denkmale zu setzen. Als der Bruch mit den Rostocker Förderern und der Stadt unvermeidbar wurde, entschloß sich der Retter den Rostocker Hafen zu verlassen und das Schiff nach Barth zu verlegen, wo man ihn mit offenen Armen empfangen würde. Doch dazu kam es nicht. Am 13. Januar 1993 lief das Schiff in die komplizierten Boddengewässer ein und geriet nahe Kinnbackenhagen auf Grund. Alle Versuche, es freizubekommen, schlugen fehl. Im Gegenteil schob ein starker Sturm den Havaristen noch weiter auf das Land zu. Das war nun das Aus. Doch als der Wasserstand die nötige Höhe erreichte, und der Wind aus entsprechender Richtung zunehmend wehte, entschloß sich Armin Pfeiffer, Geschäftsführer der Barther Werft, gemeinsam mit der Firma Bossow Wasserbau das gefangene Schiff zu befreien und in die Werft zu bringen."

Unser Hochstapler jedoch verschwand bei Nacht und Nebel. Er wurde später in Hamburg verhaftet. Bestimmt hat er nun auch Zeit zum Lesen. Wahrscheinlicher aber ist, dass er eine neue Geschäftsidee ausbrüten wird. Wie heißt er doch, der Slogan der Deutschen Bank? Leistung aus Leidenschaft.

Was aber das Verhältnis von Mythos und Wirklichkeit angeht, da scheint ein Gedanke des französischen Erzählers Jules Barbey d'Aurevilly ins Schwarze zu treffen: Man findet Herculaneum unter der Asche wieder, aber einige Jahre verschütten die Sitten einer Gesellschaft besser als aller Staub der Vulkane.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Uwe Greßmann, Lebenskünstler, Leipzig 1982, S.240.

  2. Ebd., S. 240 f.

  3. Günther Rüther, Greif zur Feder, Kumpel, Düsseldorf 1991, S. 113.

  4. U. Greßmann (Anm.1), S.193 f.

  5. Hier zitiert nach: Jakob Böhme, Glaube und Tat, Berlin 1976, S.5.

  6. In: Schiff und Zeit, Nr. 65 (2007). Dort auch die folgenden direkte Zitate.

Geb. 1953; Schriftstellerin, Journalistin und Filmemacherin; hat das DDR-Fernsehen aus politischen Gründen verlassen; seit 1988 freischaffend.
E-Mail: E-Mail Link: marion.titze@googlemail.com