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Katastrophenangst | Bevölkerungsschutz | bpb.de

Bevölkerungsschutz Editorial Katastrophenangst. Momente der Kulturgeschichte Zwischen Apokalypse und Alltagsunfall. Zur Geschichte des Bevölkerungsschutzes in der Bundesrepublik Deutschland Strukturen, Akteure und Zuständigkeiten des deutschen Bevölkerungsschutzes Stabsarbeit vor neuen Herausforderungen. Zur Einsatzführung im Bevölkerungsschutz Preppen. Private Krisenvorsorge zwischen Bürgerpflicht, Lebensstil und Staatsskepsis Opfer der Moderne. Geschädigte von Technikkatastrophen in Gesellschaft und Medien Das internationale humanitäre System. Eine Einführung

Katastrophenangst Momente der Kulturgeschichte - Essay

François Walter

/ 14 Minuten zu lesen

Besorgnis angesichts extremer meteorologischer Ereignisse, Furcht vor Ansteckung in Zeiten einer Pandemie, Schrecken eines Krieges: Immer äußern sich Ängste antizipatorisch, im Vorfeld einer möglichen Katastrophe. Darüber hinaus und losgelöst von punktuellen Befürchtungen erweisen sich bestimmte Zeiträume in der Geschichte als besonders angstauslösend: das 14. Jahrhundert mit der Großen Pest, das 17. Jahrhundert mit dem Dreißigjährigen Krieg, die brutale Zeit der Französischen Revolution, die Wende zum 19. Jahrhundert und natürlich die leidvollen Jahre der beiden Weltkriege. Solche kollektiven Ängste schreiben sich in den emotionalen Kontext der weit verbreiteten Überzeugung ein, dass die Zivilisation im Niedergang begriffen sei. Seit Kurzem fördern einige Angstphilosophien einen entsprechenden Bezug auf Umwelt und Ökologie. Die gegenwärtigen, wissenschaftlich geprägten Wahrnehmungsformen sind nur eine Variante der Erzählprozesse, die dazu beitragen, das vermehrte Auftreten von Ängsten zu kompensieren.

Angst im Zentrum der sozialen Ordnung

"Der Schrei", das berühmte, 1893 vollendete Gemälde Edvard Munchs, zeigt einen Mann auf einer Brücke, der sich vor gelb-rötlichem Hintergrund das schreckverzerrte Gesicht hält. Das Werk ist eine perfekte Illustration der antizipatorischen Angst, die im Vorfeld einer Katastrophe auftritt, deren bevorstehendes oder mögliches Eintreten sich zunächst nur durch Zeichen ankündigt. Die im Nachhinein vom Künstler selbst gelieferte Erklärung ist vielsagend: Er habe eine emotional stark bewegende Vorahnung einer Katastrophe erlebt, die seine Heimatstadt Oslo bedrohte, die im Hintergrund des Gemäldes zu erahnen ist. Munch datiert diese beängstigende Erfahrung auf 1883, also auf das Jahr der Eruption des Vulkans Krakatau in Indonesien, deren Auswirkungen in Europa durch eine rötliche Färbung des Himmels bei Dämmerung wahrgenommen werden konnten. Heute kann man sich dieses Phänomen mit den optischen Effekten des Sonnenlichts erklären, das sich an der Eruptionswolke aus Asche und Gasen brach.

Die Angst vor der Endlichkeit, also die Furcht angesichts einer Zukunft, die unweigerlich zum Tod führt, ist dem menschlichen Dasein eigen und betrifft Gesellschaften im Allgemeinen. Die heutige Zeit scheint wie gelähmt zu sein durch das der Physik entlehnte Gesetz der Entropie. Der 1865 formulierte zweite Hauptsatz der Thermodynamik erklärt die Eigenschaft der Energie, zum Gleichgewicht zu tendieren, also zu ihrem fortschreitenden Abbau oder ihrer Zerstreuung. Überträgt man dieses Konzept naiv auf den sozialen Bereich, haben alle Systeme eine natürliche Tendenz zur Unordnung und entwickeln sich unvermeidlich hin zum Untergang, zur Orientierungslosigkeit, zur Abschaffung moralischer und religiöser Werte und letztendlich zum Tod. In gewisser Weise kann das Gesetz der Entropie also als eine Art wissenschaftliche Metapher der christlichen Apokalypse bezeichnet werden.

Bis in die 1970er Jahre hinein wurden die Ängste vor dem Untergang in jüdisch-christlicher Tradition bisweilen durch den Glauben an eine bessere Zukunft kompensiert. Die Welt musste untergehen, um die Entstehung einer neuen Gesellschaft zu ermöglichen, die insbesondere im Mythos der kommunistischen Gesellschaft prophezeit wurde. Die Revolution steht hier für die notwendige Katharsis vor der Geburt des Neuen Jerusalem in Form eines sozialistischen Paradieses. Seitdem haben sich die Dinge geändert. Mit dem Niedergang der Ideologien, der auf den Fall der Berliner Mauer und den Zusammenbruch des Kommunismus folgte, ging eine Weltuntergangsvision einher, in der dieser Gedanke an das Ende der Werte und den Verlust der Orientierungspunkte häufig zutage trat. Verkündet wurden das Ende der Ideologien, der Politik, der Demokratie, des Individualismus, der Einbruch der Gesellschaft, die Einführung von Barbarei und Unmenschlichkeit, ein finsteres Ende des Jahrhunderts und selbst das Ende der Geschichte. Folgt man dem Soziologen Ulrich Beck, kann man heute sogar noch weiter gehen. Ihm zufolge hat der Individualismus als Wert par excellence der Moderne den Menschen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert dazu getrieben, sich vor der Gefahr zu schützen, also seine Ängste zu exorzieren. Heute, im Zeitalter der Postmoderne, sei die Angst zum Ergebnis der maximal fortgeschrittenen sozialen Ordnung geworden, und jegliche Distanzierung sei nunmehr unwahrscheinlich.

In den früheren Gesellschaften gab es keinen Raum für den Zufall. Alles war durch die göttliche Vorsehung geregelt, der nicht zu entkommen war. Diese allgemeine Erklärung für die Ereignisse des Lebens hatte zweifellos etwas Beruhigendes, zumindest aus intellektueller Sicht, denn die Verletzlichkeit der Gesellschaften blieb natürlich unverändert stark bestehen. Gegenwärtig kehrt die Unsicherheit hingegen mit aller Kraft zurück. Damit tritt der Zufall tendenziell an die Stelle der Vorsehung. Genau das hat der Mathematiker René Thom festgehalten, als er schrieb, der Zufall sei nichts anderes als ein "substitut laïque de la finalité divine", ein laizistischer Ersatz für die göttliche Bestimmung.

Es erfordert eine interaktive und dialektische Betrachtungsweise der religiösen, rationellen und wissenschaftlichen Lesarten, um vereinfachende Perspektiven zu vermeiden. Man kann nicht ohne Weiteres von einer Konfiguration, in der Angst in eine von Vorsehung geprägte Sichtweise eingeschrieben ist, zu einer anderen Konfiguration übergehen, in der sie an Unsicherheit gebunden ist. Darüber hinaus spielt sich diese existenzielle Überschreitung auf einer anderen Ebene ab: Früher bezogen sich Ängste und Gefahren auf die Natur oder gleichrangige Risiken, zum Beispiel Krieg, also auf den Bereich dessen, was man als die großen Geißeln der Menschheit bezeichnete. Heute erklären sich die meisten Risiken hingegen durch das Handeln der Menschen. Die Methoden der Bewertung von Gefahren und die mit ihnen assoziierten Ängste werden in historischen Kontexten neu definiert, die selbst im Wandel begriffen sind. Jede Gesellschaft wählt ihre Risiken und konstruiert sie anhand komplexer sozialer Herausforderungen neu.

Letzten Endes stehen wir noch immer vor einem "Mysterium", vor einem Wissen, das über die Fähigkeiten der menschlichen Vernunft hinausgeht und für das die großen Glaubensrichtungen Erklärungsansätze geliefert haben. Diesen zufolge ist angesichts scheinbar sinnloser geschichtlicher Ereignisse allein Gott fähig, den Menschen aus seiner Angst vor der Welt und dem eigenen Schicksal zu retten. In den verschiedenen religiösen Traditionen dient die Katastrophe also immer dem Zweck, die Erinnerungen an Zeit und Raum zu strukturieren, eine gewisse soziale und moralische Ordnung zu stärken und die essenziellen Werte des fragilen und vergänglichen Schicksals der Menschheit in Erinnerung zu rufen.

Philosophien der Angst und apokalyptisches Denkschema

Im deutschen Sprachraum hat die Frage nach dem Weltuntergang sehr früh ein breites Publikum angezogen. Es war der Philosoph Günther Anders (1902–1992), der die Katastrophe zu Ende dachte und als einer der Ersten verstand, dass die Menschheit eine Schwelle überschritten hatte, als sie mit ihrer Fähigkeit zur Selbstauslöschung experimentierte. Er bezeichnete das als "Holozid": "Mit dem 6. August 1945, dem Hiroshima-Tage, hat ein neues Zeitalter begonnen: das Zeitalter, in dem wir in jedem Augenblick jeden Ort, nein unsere Erde als ganze, in ein Hiroshima verwandeln können." Bereits 1956 verwies Anders mit Nachdruck auf das "prometheische Gefälle", das die Kluft zwischen der Macht zu handeln und der Fähigkeit, sich einen solch desaströsen Ausgang vorzustellen – also eine "Apokalypseblindheit" –, bezeichnet.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgte der Philosoph Hans Jonas (1903–1993) mit seinen von einer "Heuristik der Furcht" abgeleiteten Überlegungen. Er plädierte für die Wiederbelebung einer Ethik, die als Gegengewicht zur enormen Zerstörungsmacht der Menschheit fungieren kann. Darüber hinaus erinnerte Jonas an das beachtenswerte Novum des Konzepts der Unumkehrbarkeit im sozialen Bereich. Nach außen sei dem technologischen Handeln eine "verbindliche Dynamik", eine "autonome Trägheit" eigen, die es unumkehrbar mache. Der Leser von heute denkt hierbei wahrscheinlich an Umweltfragen und vielleicht auch an die Covid-19-Pandemie. Ein solches Verständnis war zu dem Zeitpunkt, als das Umweltbewusstsein gerade erst erwachte, bei Weitem nicht selbstverständlich. Von den 1970er und 1980er Jahren an wurde die Tendenz, den Erwartungshorizont der gegenwärtigen Gesellschaften mit einer programmierten Katastrophe zu belegen, zu einer wesentlichen Komponente der westlichen Kultur. Und aus genau diesem Nährboden erwachsen die düsteren Perspektiven, zu denen die Klimaerwärmung unweigerlich Anlass gibt. Seit dem Ende der 1980er Jahre steht dieses Thema im Mittelpunkt der Szenarien, die von Wissenschaftlern nunmehr furchtlos mit einer "baldigen Apokalypse" assoziiert werden.

In diesem Zusammenhang sei auf die nahezu schablonenartige Denkweise verwiesen, die von biblischen Bezügen getragen wird. In dem um 95 n. Chr. verfassten Buch der Apokalypse soll das Reich Gottes, das Neue Jerusalem, nach der Zerstörung der Welt zurückkehren; daher die interpretatorische Abweichung, die – für die breite Öffentlichkeit – Apokalypse und Endkatastrophe miteinander verbindet. Neben anderen Texten wird in einer Passage des Lukas-Evangeliums verkündet, wie die Nationen "verzagen" werden "vor dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde". Der Grad der Angst wird anhand der Identifizierung und Interpretation derjenigen Zeichen bemessen, die mit dem apokalyptischen Szenario einhergehen. Früher lieferten die Priester und Pastoren Erklärungen, heute sind es die Spezialisten der Umweltwissenschaften, die das Barometer der zeitgenössischen Angst gestalten: das Ausmaß des Rückgangs der Gletscher, das Schmelzen des Polareises, das Schicksal der Eisbären, der Verlauf der Wirbelstürme, die durchschnittlichen Jahrestemperaturen – zahlreich sind die Anzeichen für eine Naturkatastrophe, bestätigt durch die aktuelle Pandemie, die ihrerseits auch der Störung der Ökosysteme zugeschrieben wird.

In der Geschichte liegt es im logischen Verlauf der Dinge, nach jeder wie auch immer gearteten Katastrophe zu einer Traumabewältigung zu finden, die einen religiösen Sinn enthält. Und freilich gibt es eine Seelsorge der Angst, in der außergewöhnliche Ereignisse herangezogen werden, um Katastrophen als Folge verletzter moralischer Normen darzustellen. Ein solcher Verstoß löst unmittelbare Sanktionen aus, göttliche Vergeltung in all ihren Formen. Im Zeitalter der Aufklärung indessen wurde es zu einer weit verbreiteten Haltung, angesichts religiös begründeter Ängste Ironie oder Sarkasmus an den Tag zu legen. Mit anderen Worten war dies eine Art, die eigenen Stärken herauszustellen oder eine Art von Anerkennung dadurch zu erlangen, dass man sich von der allgemein geteilten Auffassung abhob. Voltaires Roman "Candide" von 1759 und dessen deutsches Pendant "Belphegor" von Johann Karl Wezel aus dem Jahr 1776 liefern hierfür einige Beispiele. Als wolle man die Angst exorzieren, soll laut und deutlich die Meinung verkündet werden, dass sämtliche Aspekte einer Katastrophe durch natürliche Faktoren erklärt werden können.

Nun ist die Überzeugung, dass Katastrophen Zeichen der Wut Gottes seien, seit dem 18. Jahrhundert stark zurückgegangen. De facto sind religiöse Bezugspunkte jedoch nach wie vor häufig das einzige Mittel, Ängsten einen Sinn zu verleihen und, was noch wichtiger ist, sie im Zaum zu halten. Der Rückgriff auf das Göttliche zeigt sich durch wiederholte Rituale aus öffentlichen Gebeten, Zurschaustellungen der Reliquien, Prozessionen und Dankgebeten. Diese Vorgehensweisen sind dermaßen tief in den kulturellen Gewohnheiten verankert, dass sie sich bis ins 21. Jahrhundert hinein gehalten haben. Spielte der Verstoß gegen moralische Normen in der traditionellen, von den Konsequenzen geprägten Ansicht – unmittelbare Vergeltung durch göttliche Strafe – noch eine bedeutende Rolle, so macht der selektivere Umgang mit der Angst in der gegenwärtigen Gesellschaft eine Distanzierung mitunter schwierig. Mit der aktuellen Pandemie hat sich der Tenor zweifellos geändert, und niemand reagierte mehr mit Ironie, als Papst Franziskus bereits im März 2020 zum Gebet um ein baldiges Ende der Pandemie aufrief. In seiner Enzyklika "Fratelli Tutti" vom Oktober 2020 griff er die allgemeine Angst vor Covid-19 auf und erklärte: "Wenn einer meint, dass es nur um ein besseres Funktionieren dessen geht, was wir schon gemacht haben, oder dass die einzige Botschaft darin besteht, die bereits vorhandenen Systeme und Regeln zu verbessern, dann ist er auf dem Holzweg."

Strategien zur Zähmung der Angst

Tatsächlich glauben viele Menschen, dass die Lösung für die aktuelle Pandemie technischer Art ist und in einer erhöhten Effizienz der medizinischen Mittel sowie einer allgemeinen Impfung besteht. Darin liegt eine Rückkehr zu einem Modell der Risikobewältigung, das bis zum Ende des 20. Jahrhunderts vorherrschend war und mittlerweile bereits teilweise überholt ist. Es beruht auf der Überzeugung, dass technische Systeme eine perfekte Sicherheit gewährleisten können. Doch tatsächlich vervielfacht die extreme Abhängigkeit von den miteinander verbundenen Netzwerken (Energie, Information, Transport) die Schwachstellen. Genauer gesagt hat der potenziell drohende Zusammenbruch des Gesundheitssystems, hervorgerufen durch den massiven Anstieg der Covid-19-Patienten in den Krankenhäusern, das staatliche Eingreifen und die Verhängung von "Lockdown"-Beschränkungen überhaupt erst erforderlich gemacht. Es war undenkbar, einzuräumen, dass es in einem Sozialsystem wie dem unsrigen tatsächlich unmöglich sein könnte, eine ausreichende Ausstattung der Intensivstationen und somit eine medizinische Versorgung aller zu gewährleisten. Und so wurde ein Rechtfertigungsdiskurs entwickelt, der sich auf eine zu vermeidende Katastrophe stützt und gleichzeitig die technischen Errungenschaften, die Solidarität unter den Bürgerinnen und Bürgern sowie das Können und die Effizienz der Gesundheitssysteme würdigend hervorhebt. Ohne diese Überzeugung wäre die aktuelle Pandemie mit rund 2,5 Millionen Toten Ende Februar 2021 "natürlich" verlaufen, so wie die Russische Grippe von 1889 (ein dem SARS-CoV-2 verwandtes Virus) oder die Hongkong-Grippe (Virus H3N2) von 1968, zwei fast komplett in Vergessenheit geratene Epidemien.

Tatsächlich glaubten viele Gesellschaften angesichts der bislang unbekannten und neu auftretenden Risiken seit den 1970er Jahren, in eine neue Konfiguration hineingewachsen zu sein, in der ihre Ängste vorhergesehen und die hypothetischen, potenziellen Risiken bereits vor ihrer Verwirklichung berücksichtigt würden, sobald ihre Plausibilität intellektuell bestätigt wird. Das bildete die Grundlage für das sogenannte Vorsorgeprinzip, das ab den 1990er Jahren institutionalisiert wurde. Gegenüber den zunehmenden Unsicherheiten ist man insbesondere bezüglich des Terrorismus, des nuklearen Risikos (Fukushima 2011) und der neuen Pandemien an die Grenzen dieses neuen Dogmas gestoßen. Das postindustrielle Risiko ist ein globales, ebenso unsichtbar wie kurzlebig, organisch und mutierend, sich fortwährend anpassend. Im Hinblick auf Covid-19 hat sich unsere Gesellschaft als von den Unsicherheiten vollkommen überwältigt herausgestellt. In der Tat ist es wahrscheinlich gar nicht das technische Defizit, das die Angst und Unsicherheit auslöst, sondern vielmehr die Schwierigkeit zuzugeben, dass von nun an das Risiko der Lebensweise selbst innewohnt. Es genügt nicht mehr, mit den äußeren Unwägbarkeiten umzugehen, sondern es ist wichtig, sich vor Augen zu führen, in welchem Ausmaß das Undenkbare und das Unsichere zum normalen Leben gehören, was die gegenwärtigen und zu lange als unwahrscheinlich abgetanen Manifestationen des Klimawandels und das Auftreten neuartiger Viren widerspiegeln.

Trotz dieser Entwicklungen ist die westliche Geschichte wie ein langer Prozess der Domestizierung kollektiver Ängste zu verstehen. Als ein gutes Mittel zur Zähmung der Ängste hat sich deren Mediatisierung erwiesen. Man weiß, dass Katastrophenberichte und Bilder (Gravuren) vor allem ab dem 18. Jahrhundert und während des gesamten folgenden Jahrhunderts dem Trend der Unheilsverkündung folgten, in deren Rahmen beispielsweise "furchtbare" Erdbeben oder "schreckliche Unglücksfälle" in den Vordergrund gestellt wurden. Diese Evokationen dienten dazu, die Emotionen in Schach zu halten; darüber hinaus entwickelten sie durch das Mitgefühl mit den Opfern auch eine kompensatorische Funktion. Ebenso spiegeln belletristische Werke (Literatur, Comics, Kino) und das Fernsehen eine gequälte Gesellschaft wider: Das Entsetzliche in Szene zu setzen, ist eine Art, Ängste zu exorzieren, indem das angsteinflößende Klima hochstilisiert und eine positive Reaktion erzeugt wird. Deshalb wurde Ende 2020 in Medien und sozialen Netzwerken vielfach die Bilanz eines "nie dagewesenen Jahres" gezogen, das insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht langfristig Spuren hinterlassen wird. Die kompensatorischen Verhaltensmuster tragen zur Förderung eines wissenschaftlichen Erklärungsmodells für Katastrophen bei, also zu einer anderen Form des konstruierten Narrativs.

Allgemein wird behauptet, dass die Wissenschaft weitgehend an der Desillusionierung der Welt mitgewirkt hat, indem sie Erklärungen für Phänomene lieferte und irrationelle Haltungen, zu denen die großen Ängste zählen, beiseiteschob. Wahrscheinlich ist der Sachverhalt aber komplexer. Man erinnere sich beispielsweise an das Thema der Kometen. Eine der großen Herausforderungen der Astronomen bestand darin, das genaue Datum der Wiederkehr der Kometen zu berechnen, was Edmund Halley im 18. Jahrhundert gelang. Er hatte mit einer gewissen Präzision vorausgesagt, wann ein 1607 beobachteter Komet wiederkehren würde. Doch anstatt die Angst zu schmälern, hat dieser wissenschaftliche Fortschritt eine neue Form der Panik ausgelöst, weil die Astronomen im gleichen Zuge von der Möglichkeit einer Kollision mit der Erde sprachen. Paradoxerweise kann ebendiese Wissenschaft, die sich anbietet, die Menschheit von ihrer irrationalen Angst im Hinblick auf die Sterne zu befreien, ungewollt neue diffuse Befürchtungen erzeugen. Der Komet stellt nun keine Ankündigung einer Katastrophe mehr dar und fungiert auch nicht als Warnzeichen für eine göttliche Strafe; er selbst ist eine potenzielle Gefahr für den Planeten Erde. Ein ähnlicher Ablauf lässt sich bei der Einführung der Schutzimpfung seit dem 19. Jahrhundert beobachten: Ist nicht das Heilmittel ebenso zu fürchten wie die Ansteckung? Es ist ein Paradox: Je größer der Platz ist, den die Wissenschaft und ihre Anwendungsgebiete, die Technologien, in der Lebensweise einnehmen, desto größer wird die Verletzlichkeit und desto stärker kommt die Unsicherheit zurück. Mit dem nuklearen Risiko und den neu auftretenden Viren ist von nun an keinerlei Distanzierung mehr möglich – das angstauslösende Objekt kann nicht einmal mehr wirklich identifiziert werden.

In der Vergangenheit richtete sich die Angst gezielt auf präzise Objekte und wurde bisweilen entschärft durch die Bestimmung von Sündenböcken, durch Verschwörungstheorien oder die Verbreitung von Fake News. Auch heute noch flüchten sich einige in die Verleugnung. Das lässt sich zum Beispiel an der Minderheit beobachten, die angesichts des Corona-Virus in einer leugnenden Haltung verharrt. Es gibt also eine Art Unbewusstheit rund um die Bedingungen der eigenen Existenz. So machen sich die meisten Menschen keine Gedanken mehr über den maßlosen Energiekonsum und sind allein darum bemüht, ihre Lebensweise aufrechtzuerhalten, auch wenn diese unbestritten äußerst umweltschädlich ist. Eine mögliche Erklärung liegt darin, dass der Mensch große Schwierigkeiten hat, Abstand von seinen kulturellen Gepflogenheiten zu nehmen. In gleichem Maße, wie die Distanzierung gegenüber der Natur fester Bestandteil der westlichen Beziehung zur Umwelt ist, wirft die notwendige kritische Distanz gegenüber der technischen Zivilisation große mentale Schwierigkeiten auf. Führen Angst und Stress zur Tendenz, sich von jeglicher realistischen Praxis zu entfernen? Kann man das Fehlen von konsequentem Handeln mit dem Sinnverlust in der westlichen Gesellschaft verbinden? Machen die Desillusionierungen und der Mangel an Zukunftsperspektiven apathisch gegenüber den Bedrohungen, und entbinden sie die Menschen von der Verantwortung? Das war der Fall in der Sowjetunion, wo die Gefahren unzureichend überwachter Nuklearanlagen die Bevölkerung vollkommen unberührt ließen.

Dieses Beispiel hebt die Grenzen dessen hervor, was einige als die "Pädagogik der Katastrophen" bezeichnen, die Auffassung, der zufolge nur große Ängste und Katastrophenfälle die Bevölkerung dazu bewegen, ihre Trägheit zu überwinden. Die Ankündigung eines programmierten Unglücks allein könne die zur Abwendung des Unheils notwendigen Reaktionen hervorrufen. Doch industrielle und nukleare Unfälle, der Klimawandel und die unverantwortlichen Verhaltensweisen angesichts der aktuellen Pandemie sind allesamt Phänomene, die Anlass zum Zweifel daran geben. Ein gewisser Fatalismus kann so weit gehen, dass reaktives Verhalten gelähmt wird, wodurch Raum für Irrationalität entsteht, auf die Gefahr hin, jedwede Resilienz zu verhindern. So hat es zum Beispiel auch sehr lange gedauert, bis die Öffentlichkeit dem mit dem neuartigen Corona-Virus verbundenen gesundheitlichen Risiko und der Notwendigkeit, sich hinreichend zu schützen, Glauben schenkte, auch wenn seine Gefährlichkeit bereits offensichtlich war. Übersetzung aus dem Französischen: Sandra Uhlig, Bonn.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Marc Angenot, C’est l’éruption de la fin! Le diagnostic crépusculaire: un genre culturel français des années 1980, in: Laurier Turgeon (Hrsg.), Les entre-lieux de la culture, Québec 1998, S. 29–55.

  2. Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986.

  3. René Thom, Halte au hasard, silence au bruit, in: Le Débat 3/1980, S. 119–132, hier S. 120.

  4. Vgl. François Walter, Geißel Gottes oder Plage der Natur: Vom Umgang der Menschen mit Katastrophen, Stuttgart 2016.

  5. Vgl. ders., Thinking the Disaster: A Historical Approach, in: Gabriele Dürbeck et al. (Hrsg.), Ecological Thought in German Literature and Culture, London 2017, S. 161–174.

  6. Günther Anders, Die atomare Drohung: Radikale Überlegungen zum atomaren Zeitalter, München 1981, S. 93.

  7. Ders., Die Antiquiertheit des Menschen: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956, S. 276.

  8. Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/M. 1979.

  9. Vgl. Stephen F. Haller, Apocalypse Soon? Wagering on Warnings of Global Catastrophe, Montreal 2002.

  10. Lukas 21, 25–26.

  11. Vgl. Walter (Anm. 4), S. 226–244.

  12. Vgl. ders., The Historical Roots of the European Culture of Catastrophes, in: Christian Wenkel et al. (Hrsg.), The Environment and the European Public Sphere: Perceptions, Actors, Policies, Winwick 2020, S. 37–53.

  13. Vgl. Olaf Briese, Die Macht der Metaphern: Blitz, Erdbeben und Kometen im Gefüge der Aufklärung, Stuttgart–Weimar 1998, S. 172–187.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: François Walter für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Universität Genf. E-Mail Link: francois.walter@unige.ch