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Ein Jahr Arbeitsschutzkontrollgesetz | bpb.de

Ein Jahr Arbeitsschutzkontrollgesetz Grundlegender Wandel in der Fleischindustrie?

Thorsten Schulten Johannes Specht

/ 14 Minuten zu lesen

Lange wurde die deutsche Fleischindustrie mit menschenverachtenden Arbeitsverhältnissen verbunden. Das im Dezember 2020 verabschiedete Arbeitsschutzkontrollgesetz ist ein erster Schritt, um das Geschäftsmodell der Branche grundlegend neu zu ordnen.

Lange wurde die Fleischindustrie wie kaum eine zweite Branche in Deutschland mit Ausbeutung und menschenverachtenden Arbeitsverhältnissen verbunden. Geprägt wurde das Bild durch vornehmlich aus Osteuropa stammende Arbeitsmigrant:innen, die in ihren Heimatländern angeworben wurden, um als Werkvertragsbeschäftigte in den hiesigen Schlachthöfen und Fleischfabriken zu arbeiten. Wiederkehrende Berichte über extrem harte Arbeits- und Lebensbedingungen der Fleischarbeiter:innen erinnerten dabei eher an Upton Sinclairs 1906 erschienenen Roman "Der Dschungel" über die Chicagoer Schlachthöfe des ausgehenden 19. Jahrhunderts als an eine Beschreibung der Gegenwart in Deutschland.

Mit dem zunehmenden Einsatz osteuropäischer Arbeitsmigrant:innen war es der deutschen Fleischindustrie ab den 1990er Jahren unter Ausnutzung des starken Lohngefälles im europäischen Binnenmarkt gelungen, vormals bestehende Tarifvertragsstrukturen aufzukündigen. Im Ergebnis waren hochgradig prekäre Arbeitsverhältnisse entstanden, die neben der zunehmenden Industrialisierung der Landwirtschaft für die Fleischindustrie die wichtigste Grundlage eines neuen Geschäftsmodells bildeten, das im Wesentlichen darauf beruhte, billige Massenware herzustellen.

Nachdem bislang alle Ansätze für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie weitgehend wirkungslos geblieben waren, wurde im Dezember 2020 das Gesetz zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz (Arbeitsschutzkontrollgesetz) verabschiedet. Mit diesem Gesetzespaket wurde ein umfassendes Maßnahmenbündel beschlossen, in dessen Mittelpunkt ein Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit in der Schlachtung, Zerlegung und Fleischverarbeitung steht. Damit wurde die deutsche Fleischwirtschaft gezwungen, ihr bisheriges Geschäftsmodell grundlegend neu zu ordnen.

Ob mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz tatsächlich auch eine grundlegende Verbesserung der Arbeitsbedingungen einhergeht, lässt sich noch nicht abschließend beurteilen. Die bisherigen Erfahrungen zeigen ein ambivalentes Bild. Einerseits haben die Fleischkonzerne immer wieder versucht, durch die Übernahme vormaliger Subunternehmen alte Arbeitsstrukturen auch unter neuen Bedingungen aufrecht zu erhalten. Andererseits hat das Werkvertragsverbot die Möglichkeiten der gewerkschaftlichen und betrieblichen Interessenvertretung wieder erheblich verbessert und im ersten Schritt die Möglichkeit für einen neuen Tarifvertrag über einen branchenweiten Mindestlohn eröffnet. Für einen grundlegenden Wandel des auf Billigproduktion basierenden Geschäftsmodells der deutschen Fleischindustrie müssten die Arbeitsbedingungen in der Branche jedoch deutlich aufgewertet werden.

Billige Massenware als Geschäftsmodell

Bis in die 1980er Jahre hinein war die deutsche Fleischindustrie eher klein- und mittelständisch geprägt und produzierte im Wesentlichen für lokale und regionale Märkte. Die Schlachtung erfolgte entweder durch die Betriebe selbst oder wurde von kommunalen Schlachthöfen übernommen. Die meisten Fleischunternehmen waren an regionale Branchentarifverträge gebunden, die die wichtigsten Arbeitsbedingungen festlegten und durch regelmäßige Lohnverhandlungen für kontinuierliche Lohnzuwächse sorgten.

Während die kommunalen Schlachthöfe bereits ab den 1970er Jahren zunehmend privatisiert wurden, setzte ab Ende der 1980er Jahre eine grundlegende Restrukturierung der deutschen Fleischindustrie ein. In einer großen Konzentrations- und Übernahmewelle etablierten sich einige wenige große Fleischkonzerne, die bis heute den Markt dominieren. Der mit Abstand größte Konzern ist dabei die Tönnies-Gruppe, gefolgt von dem niederländischen Vion-Konzern und dem Genossenschaftskonzern Westfleisch. Auf diese drei entfallen 58 Prozent aller Schweineschlachtungen in Deutschland. Neben den wenigen großen Fleischkonzernen gibt es nach wie vor eine Vielzahl kleiner und mittlerer Unternehmen. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit arbeiteten Mitte 2020 etwa 150.000 Beschäftigte in der Fleischverarbeitung und knapp 35.000 auf den Schlachthöfen.

Ab den 1990er Jahren wurden in der deutschen Fleischindustrie zunehmend Stammbelegschaften durch osteuropäische Arbeitskräfte ersetzt. Deren Einsatz wurde zunächst durch bilaterale Verträge mit einzelnen osteuropäischen Staaten geregelt, bis Ende der 2000er Jahre mit der EU-Osterweiterung und dem Auslaufen der Übergangsregelungen die vollständige Arbeitnehmerfreizügigkeit für die osteuropäischen EU-Staaten hergestellt wurde. Zunächst wurden die osteuropäischen Arbeiter:innen von in ihren Heimatländern ansässigen Unternehmen nach Deutschland entsandt, wo sie aufgrund einer fehlenden verbindlichen Lohnuntergrenze zu extrem niedrigen Löhnen beschäftigt wurden. Das große Gefälle zu den deutschen Löhnen führte dazu, dass der Anteil osteuropäischer Werkvertragsbeschäftigter immer größer wurde. In vielen Fleischbetrieben bestand bis in das Jahr 2020 die Mehrheit der Belegschaft aus Werkvertragsbeschäftigten, die formal bei Subunternehmen angestellt waren.

Diese Entwicklung hatte zugleich auch Rückwirkungen auf die Arbeitsbedingungen der verbliebenen, meist deutschen Kernbelegschaften. Nahezu alle Branchentarifverträge in der Fleischindustrie wurden im Laufe der 1990er Jahre von den Arbeitgebern nicht mehr verlängert, sodass die Tarifbindung immer weiter zurückging und nur noch einige wenige Haustarifverträge in Betrieben mit einem vergleichsweise hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad übrigblieben.

Die durch den wachsenden Einsatz osteuropäischer Werkvertragsbeschäftigter stark reduzierten Arbeitskosten bildeten die Grundlage dafür, dass die Fleischkonzerne immer mehr billige Massenware produzieren konnten. Die deutsche Fleischindustrie entwickelte sich dadurch in den 2000er Jahren von einer eher binnenorientierten Branche zu einer expandierenden Exportindustrie. Zugleich begannen ausländische Fleischunternehmen wie Vion oder Danish Crown hierzulande Schlachtkapazitäten zu übernehmen und einen Teil der Produktion aus Kostengründen aus ihren Heimatländern nach Deutschland zu verlagern.

Schließlich wurde das auf billiger Massenware beruhende neue Geschäftsmodell der deutschen Fleischindustrie auch durch große Handelskonzerne vorangetrieben. Während sich der Absatz von Fleischprodukten immer mehr hin zu großen Supermarktketten und Discountern verschoben hat, nutzen Letztere ihre zunehmende Marktmacht, um gegenüber den Fleischproduzenten immer niedrigere Preise durchzusetzen.

Ansätze zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen

Obwohl die Arbeitsbedingungen der Werkvertragsbeschäftigten durch Medienberichte regelmäßig skandalisiert wurden, gab es lange Zeit keinen Hebel, diese zu verbessern. Dies änderte sich erst ab 2015 mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns, der erstmals auch für die Werkvertragsbeschäftigten eine verbindliche Lohnuntergrenze definierte. Hinzu kam, dass 2014 auch ein tarifvertraglicher Branchenmindestlohn für die Fleischindustrie vereinbart worden war. Die Arbeitgeber waren hierzu bereit gewesen, da sie auf diese Weise für eine Übergangsperiode noch einen Lohn unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns festlegen konnten. Nach deren Auslaufen verloren sie jedoch ihr Interesse an einer tarifvertraglichen Regelung.

Während von nun an das Lohnniveau der Werkvertragsbeschäftigten formal durch den gesetzlichen Mindestlohn bestimmt wurde, fanden die Subunternehmen der Fleischindustrie immer neue Wege, um den tatsächlichen Lohn zu drücken. Beispielsweise mussten die Werkvertragsbeschäftigten in erheblichem Maße unbezahlte Mehrarbeit leisten, sodass ihr Stundenlohn de facto deutlich unterhalb des Mindestlohns lag. Zugleich wurden den Beschäftigten verschiedene Beträge vom Gehalt abgezogen, etwa überteuerte Wohn- und Transportkosten oder verschiedene Gebühren für Arbeitskleidung oder -werkzeug ("Messergeld").

Die zunehmende öffentliche Kritik an diesen Praktiken führte schließlich dazu, dass die Fleischindustrie 2015 eine freiwillige Selbstverpflichtung für bessere Arbeitsbedingungen beschloss. Die Unternehmen verpflichteten sich darin, den Anteil der eigenen Stammbelegschaften wieder auszubauen und nur noch solche Subunternehmen zu beschäftigen, die ihre Mitarbeiter:innen nach deutschem Sozialversicherungsrecht anstellen und die deutschen Arbeitsgesetze einhalten. In der Praxis erwies sich die Selbstverpflichtung jedoch im Wesentlichen als Feigenblatt, ohne die Arbeitsbedingungen nennenswert zu verbessern.

Die Politik reagierte schließlich 2017 mit dem Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischwirtschaft (GSA Fleisch), mit dem das Prinzip der Generalunternehmerhaftung eingeführt wurde. Die Fleischbetriebe waren von nun an dafür verantwortlich, dass die Subunternehmen angemessene Sozialversicherungsbeträge bezahlen und die deutschen Arbeitsgesetze einhalten. Um eine weitere Umgehung des Mindestlohns zu verhindern, wurde außerdem festgelegt, dass Arbeitsmittel, Schutzkleidung und -ausrüstung unentgeltlich vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellt werden müssen. Der Kern des auf Werkverträgen basierenden Geschäftsmodells blieb jedoch auch mit dem GSA Fleisch unangetastet.

Arbeitsschutzkontrollgesetz

Mit den an Häufigkeit wie Fallzahlen umfangreichen Corona-Ausbrüchen in einigen großen deutschen Fleischbetrieben gerieten im Frühjahr 2020 die seit Langem bekannten Missstände erneut in den Fokus der Öffentlichkeit. Die Kritik erreichte hierbei ein Ausmaß, das auch den Fleischkonzernen deutlich machte, dass grundlegende Reformen nicht mehr zu verhindern waren. Im Dezember 2020 verabschiedeten Bundestag und Bundesrat mit großer Mehrheit das Arbeitsschutzkontrollgesetz, das erstmalig den Kern des bisherigen Geschäftsmodells berührte und damit zu einer Zäsur für die Fleischindustrie werden sollte.

Das Arbeitsschutzkontrollgesetz umfasst ein Gesetzespaket, mit dem eine Reihe bestehender Gesetze verändert und erweitert werden. Die wichtigste Änderung besteht hierbei in einer Ergänzung des GSA Fleisch, wonach ab dem 1. Januar 2021 in den Bereichen Schlachtung, Zerlegung und Fleischverarbeitung keine Werkvertragsbeschäftigten mehr eingesetzt werden können. Gleiches gilt ab dem 1. April 2021 für Leiharbeitsbeschäftigte, wobei für eine Übergangszeit von drei Jahren noch im begrenzten Umfang Leiharbeit eingesetzt werden darf, wenn dies im Rahmen eines Tarifvertrags vereinbart wurde. Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber explizit einen Anreiz für die Aufnahme von Tarifverhandlungen setzen.

Darüber hinaus enthält das Arbeitsschutzkontrollgesetz eine Reihe von Maßnahmen, die die Einhaltung bestehender Arbeitsgesetze verbessern sollen. Hierzu gehört die verpflichtende Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung, die Betrachtung von Rüst-, Umkleide- und Waschzeiten als Teil der Arbeitszeit, die Einführung einer Mindestquote von fünf Prozent pro Bundesland für Kontrollen in der Fleischindustrie sowie eine Verdopplung der Geldbußen bei Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz auf 30.000 Euro. Schließlich werden durch eine Änderung der Arbeitsstättenverordnung auch neue Mindestanforderungen für von den Unternehmen betriebene Gemeinschaftsunterkünfte außerhalb des Betriebsgeländes formuliert.

Bisherige Auswirkung

Nachdem das Arbeitsschutzkontrollgesetz nun knapp ein Jahr inkraft ist, fällt die bisherige Bilanz eher gemischt aus. Einerseits haben die Fleischunternehmen tatsächlich das Werkvertragssystem weitgehend beendet. Andererseits sind andere Punkte des Gesetzes, etwa die Frage der Unterkünfte oder die erhöhte Kontrollquote, noch nicht entscheidend vorangekommen. Auch die Arbeitsbedingungen der ehemaligen Werkvertragsbeschäftigten haben sich in vielen Unternehmen bislang kaum verbessert.

Ab Herbst 2020 haben die Fleischunternehmen in Erwartung des Arbeitsschutzkontrollgesetzes damit begonnen, schrittweise die Beschäftigten der Subunternehmen selbst anzustellen. Vor allem die großen Fleischkonzerne haben hierbei oft die kompletten Werkvertragsunternehmen mit der gesamten Belegschaft übernommen. Zum Ende des Jahres 2020 waren mehrere Zehntausend ehemalige Werkvertragsbeschäftigte nun direkt in den Unternehmen der Fleischindustrie angestellt. Allein bei Tönnies sind nun 6.000, bei Westfleisch 7.000 und bei Vion 3.300 ehemalige Werkvertragsbeschäftigte tätig.

Um neue Arbeitskräfte zu rekrutieren, arbeiten viele Fleischunternehmen jedoch nach wie vor auch mit Subunternehmen zusammen. Letztere treten nun als Personalvermittler auf und bieten an, neue Beschäftigte in verschiedenen osteuropäischen Staaten zu rekrutieren. Hierzu organisieren sie Fahrten nach Deutschland, regeln die Formalitäten und kümmern sich um die Unterkünfte. Dabei gibt es auch Fälle, wo die ehemaligen Subunternehmer selbst Anweisungen geben und in den Arbeitsablauf eingegliedert sind, indem sie etwa die neu angekommenen Beschäftigten aus Osteuropa einarbeiten. Ob diese Art des On-sight-Managements ein Umgehungsversuch des Arbeitsschutzkontrollgesetzes darstellt, wird sich klären, wenn durch die Kontrollbehörden einzelne gut dokumentierte betriebliche Fälle geprüft werden.

Mit der Übernahme kompletter Subunternehmen wurden jedoch auch deren Hierarchiestrukturen und problematische Arbeitskulturen mit übernommen und unter neuem Gewand fortgeführt. So wurden nicht nur die ehemaligen Werkvertragsbeschäftigten, sondern auch deren Vorarbeiter:innen und Leitungskräfte in den Fleischunternehmen eingestellt, wo sie oft nahtlos ihre frühere Funktion fortsetzen. Genau diese Personengruppe aber war es, die in den Subunternehmen den direkten Druck auf die Werkvertragsbeschäftigten ausübte und mit einer enormen Machtfülle ausgestattet war: Wer als einfache:r Beschäftigte:r in Ungnade fiel, weil er oder sie angeblich zu langsam arbeitete, wer sich krankmeldete, wer einen Arbeitsunfall meldete, wer mit Gewerkschaftsvertreter:innen sprach oder wer nicht bereit war zu überlangen Arbeitstagen und Sonderschichten, bekam im mildesten Fall eigentlich zugesagten Urlaub und damit den Familienbesuch im Heimatland gestrichen. Im schlimmsten Fall wurde er oder sie angebrüllt, schikaniert, bedroht, innerhalb kürzester Zeit aussortiert und verlor den Job. Da an die Arbeit auch meistens der Schlafplatz in der Wohnung gekoppelt war, bedeutete das von einem Tag auf den anderen das Ende des Traumes, in Deutschland mit harter Arbeit genug Geld zu verdienen, um in der Heimat die Familie zu unterstützen. Wer wagt es, angesichts so einer Lage, auf seinen Ansprüchen zu bestehen, sein Recht einzufordern? Alleingelassen, ohne Sprachkenntnisse oder Kenntnisse des deutschen Arbeitsrechts, ohne Betriebsrat, hat sich faktisch nur ein sehr geringer Teil der Menschen gegen solche Praktiken gewehrt. Die Fortsetzung der alten Hierarchie- und Arbeitsstrukturen in den Fleischunternehmen führt dazu, dass viele ehemalige Werkvertragsbeschäftigte seit der Einführung des neuen Gesetzes kaum Veränderungen ihrer konkreten Arbeitssituation erlebt haben.

Im Hinblick auf die Wohnverhältnisse haben einige große Konzerne begonnen, die miserabelsten Unterkünfte sanieren zu lassen oder deren Anmietung zu beenden. Hier und da kündigt ein Unternehmen den Erwerb oder Neubau von Werkswohnungen an. Auch hierfür gelten die Vorgaben des Arbeitsstättenrechts, wo Mindeststandards für Unterkünfte festgeschrieben sind. Es wird aber darauf ankommen, ob die zuständigen Kontrollbehörden diese Standards auch durchsetzen.

Zur Bilanz nach einem Jahr Arbeitsschutzkontrollgesetz gehört auch, dass hiermit keineswegs automatisch eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen verbunden ist. Das Gesetz hat, vor allem mit dem Verbot der Werkverträge, die "Spielregeln" in der Branche neu bestimmt und damit die Chancen erhöht, bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Entscheidend für die Neuordnung der Branche wird vor allem die Entwicklung der betrieblichen und gewerkschaftlichen Interessenvertretung sein. Nur starke Betriebsräte und Gewerkschaften mit umfassenden Tarifverträgen werden auf Dauer eine substanzielle Verbesserung der Arbeitsbedingungen gewährleisten können, die über die gesetzlichen Mindeststandards hinausgeht.

Neugestaltung der Arbeitsbeziehungen

Die Entwicklung der Fleischindustrie stand in den vergangenen beiden Jahrzehnten auch exemplarisch für die Erosion des deutschen Modells der Arbeitsbeziehungen mit hoher Tarifbindung und entwickelten Mitbestimmungsstrukturen. Die Zäsur, die mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz für die Branche verbunden ist, birgt nun die Chance für eine grundlegende Neugestaltung der Arbeitsbeziehungen.

Der erste Ansatzpunkt hierfür wurde in der Tarifpolitik deutlich. Nachdem die Fleischindustrie, von einigen wenigen Haustarifverträgen abgesehen, zu einer weitgehend tarifvertragslosen Zone geworden war, zeigen sich nun erste Ansätze für eine Reorganisation der Tarifvertragsbeziehungen auf Branchenebene. Erstmals seit Langem wurden im März 2021 Tarifverhandlungen für einen spezifischen Mindestlohn in der Fleischindustrie aufgenommen, die im Juni 2021 zum Abschluss eines branchenweiten Mindestlohntarifvertrags führten. Beide Tarifvertragsparteien haben im Anschluss die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags beantragt, damit er für alle Unternehmen und Beschäftigte der Branche greift. Der vereinbarte Branchenmindestlohn beträgt ab Januar 2022 11 Euro und soll bis Dezember 2023 schrittweise auf 12,30 Euro steigen.

Anschließend wurden auf Ebene der Betriebe und Konzerne weitere Tarifverhandlungen geführt, um die Löhne oberhalb des neuen Branchenmindestlohns deutlich anzuheben. Im Konzern Vion gelang es, erstmals einen bundesweit gültigen Konzerntarifvertrag für alle eigenen Schlachtstandorte in Deutschland abzuschließen. Beim Konkurrenten Westfleisch haben Tarifverhandlungen über weitergehende tarifliche Regelungen begonnen. Insgesamt zeigt sich eine leichte Tendenz, die vormals schwache Tariflandschaft in der Branche weiter auszubauen.

Die Tarifvertragsparteien schlossen neben dem Branchenmindestlohn auch noch eine Regelung zur Leiharbeit ab, womit sie die tarifdispositive Öffnungsklausel des Arbeitsschutzkontrollgesetzes nutzten. Unternehmen der Fleischverarbeitung, die etwa Schinken, Bratwürste oder Pasteten herstellen, dürfen in begrenztem Umfang Leiharbeiter:innen einstellen, wenn sie tarifgebunden, also Mitglied in einem regionalen Arbeitgeberverband sind. Dieser sogenannte Tarifvorbehalt war bewusst so im Gesetz festgesetzt worden, um Tarifverhandlungen in der Branche zu unterstützen. Anders als der Mindestlohntarifvertrag soll dieser Tarifvertrag ausdrücklich nicht allgemeinverbindlich erklärt werden, sodass er ausschließlich verbandsgebundenen Unternehmen zugutekommt und einen Anreiz zur Mitgliedschaft in einem der regionalen Arbeitgeberverbände schafft. Im Bereich der Schlachtung und Zerlegung besteht hingegen weiterhin ohne Ausnahme ein striktes Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit.

Die Tarifverhandlungen wurden auf Arbeitnehmerseite von zahlreichen Aktionen und Warnstreiks begleitet, die für die Branche äußerst ungewöhnlich sind. Dies gilt erstens für Umfang und Intensität der Aktionen: Einige Schlachthöfe wurden ganztägig bestreikt und damit de facto stillgelegt. In vielen Betrieben gab es zum ersten Mal überhaupt Warnstreiks. Insgesamt wurden von der zuständigen Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) bundesweit über hundert kleinere oder größere Aktionen registriert. Zweitens wurden die Streiks in erheblichem Umfang von osteuropäischen Arbeiter:innen getragen. Durch die aktive Beteiligung ehemaliger Werkvertragsbeschäftigter mussten Flugblätter und andere Streikmaterialien in bis zu zehn Sprachen übersetzt werden. Die Gewerkschaft NGG verzeichnete während der Tarifauseinandersetzung etwa 1.800 neue Mitglieder, von denen etwa zwei Drittel ehemalige Werkvertragsbeschäftigte waren.

Von nicht zu unterschätzender Bedeutung war auch der weitere Ausbau von Unterstützungsnetzwerken für die Beschäftigten der Fleischwirtschaft, in dem neben den Gewerkschaften die Beratungsstellen von Faire Mobilität und anderen Organisationen, kirchliche und soziale Gruppen, kommunalpolitisch Aktive und andere Helferkreise zusammenarbeiten. Diese Unterstützungsnetzwerke, die sich aus sozialen und ethischen Motiven für die Menschenwürde in der Arbeitswelt einsetzen, haben wesentlich dazu beigetragen, die osteuropäischen Beschäftigten über ihre neuen Rechte nach dem Arbeitsschutzkontrollgesetz zu informieren und während der Tarifauseinandersetzungen zu unterstützen.

Nach dem gemeinsamen Willen von Arbeitgebern und Gewerkschaft sollen die branchenweiten Tarifvertragsbeziehungen auch zukünftig weiter ausgebaut werden. Vereinbart wurde, als nächsten Schritt über einen Manteltarifvertrag zu verhandeln, der bestimmte Arbeitsbedingungen wie Arbeitszeiten, Urlaubstage, Sonderzahlungen und Zuschläge für Mehr- oder Nachtarbeit regelt. Bislang gelten für viele Beschäftigte der Fleischindustrie hier nur die gesetzlichen Mindestbestimmungen. Die Zusage für Verhandlungen über einen branchenweiten Manteltarifvertrag wurde bislang jedoch nur von den großen Schlachthöfen und Zerlegebetrieben erteilt, während die Unternehmen der Geflügelwirtschaft sowie der gesamte Bereich der Fleischverarbeitung erklärt haben, derzeit kein Interesse an weiteren Tarifverhandlungen zu haben.

Neben dem Neuaufbau branchenweiter Tarifvertragsstrukturen ermöglicht das Arbeitsschutzkontrollgesetz auch eine Neugestaltung der betrieblichen Mitbestimmungsstrukturen. Bislang waren die Betriebsräte in den Fleischunternehmen lediglich für die Stammbelegschaften zuständig, die oft nur eine Minderheit der Beschäftigten repräsentierten. Mit der Integration der ehemaligen Werkvertragsbeschäftigten verändern sich auch die Anforderungen an die betriebliche Interessenvertretung, die nun die gesamte Belegschaft in den Blick nehmen muss. Mit den im Frühjahr 2022 anstehenden Betriebsratswahlen werden zudem viele neu zusammengesetzte Betriebsratsgremien entstehen. Auch ehemalige Werkvertragsbeschäftigte haben dann die Chance, für einen Betriebsrat zu kandidieren und ihre Anliegen selbst in die Hand zu nehmen.

Ausblick

Mit dem Arbeitsschutzkontrollgesetz wurde eine Zäsur in der Fleischindustrie eingeleitet, die an die Grundfesten ihres bisherigen Geschäftsmodells rührt. Ausgelöst durch die Corona-Ausbrüche wurde dies möglich durch den öffentlichen Druck einer breiten zivilgesellschaftlichen Allianz von Umwelt- und Verbraucherverbänden, Tierschützer:innen, politischen Parteien und Gewerkschaften, die aus unterschiedlichen Perspektiven das vorherrschende Modell der Fleischproduktion kritisieren. Hierbei geht es um Fragen des Tierwohls und des Fleischkonsums, um die Umweltfolgen industrieller Fleischproduktion sowie um die Arbeitsbedingungen der Fleischarbeiter:innen. Auch wenn mit diesen Fragen unterschiedliche und teilweise auch widerstrebende Interessen verbunden sind, so implizieren sie doch alle die Notwendigkeit eines umfassenden Wandels hin zu einem sozial und ökologisch nachhaltigen Geschäftsmodell.

Die Veränderung der Arbeitsbedingungen ist für einen solchen Wandel von zentraler Bedeutung. Das bisherige Geschäftsmodell billiger Massenproduktion beruht vor allem auf menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und insbesondere der Ausbeutung Zehntausender osteuropäischer Arbeitsmigrant:innen. Das Arbeitsschutzkontrollgesetz allein führt noch nicht zu guten Arbeitsbedingungen. Es verändert aber die Spielregeln der Branche und damit die Chance der Beschäftigten, bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Eine nachhaltige Veränderung erfordert jedoch auch eine grundlegende Neugestaltung der Arbeitsbeziehungen, die ein kooperatives Miteinander von Unternehmen und Beschäftigten möglich macht. Voraussetzung hierfür ist eine neue Machtbalance in der Branche, für die es wiederum eines Ausbaus betrieblicher Mitbestimmungsstrukturen, der Entwicklung eines umfassenden branchenweiten Tarifvertragssystem und nicht zuletzt einer Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht bedarf.

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ist wissenschaftlicher Leiter des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf und lehrt als Honorarprofessor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen.
E-Mail Link: thorsten-schulten@boeckler.de

leitet die Tarifabteilung in der Hauptverwaltung der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) in Hamburg.
E-Mail Link: johannes.specht@ngg.net