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Die öffentliche Wahrnehmung des Bundesverfassungsgerichts

Christian Rath

/ 12 Minuten zu lesen

Die Beziehung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und der Öffentlichkeit ist eine gute und enge. Das Bundesverfassungsgericht braucht die Öffentlichkeit, zugleich ist es ein Liebling der Öffentlichkeit. Seit Jahrzehnten verfügt Karlsruhe, zusammen mit dem Bundespräsidenten, unter den Verfassungsorganen über die höchsten Vertrauenswerte in der Bevölkerung. So bekundeten zuletzt im Dezember 2020 in einer Umfrage von Infratest Dimap 80 Prozent der Befragten, (sehr) großes Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht zu haben – deutlich mehr als in die Bundesregierung (61 Prozent) und den Bundestag (57 Prozent).

Die Werte bestätigen nicht nur, dass das meist ausgleichende politische Agieren des Bundesverfassungsgerichts in der Bevölkerung gut ankommt. Sie zeigen auch, dass das höchste deutsche Gericht, wenn es seine Aufgabe gut erfüllt, ein wichtiger Stabilitätsanker für das politische System der Bundesrepublik ist.

Von entscheidender Bedeutung dürfte dabei sein, dass das Bundesverfassungsgericht, obwohl es eine politische Institution ist, doch vor allem als Gericht wahrgenommen wird. Hilfreich hierfür ist nicht zuletzt eine entsprechende Medienarbeit.

Ein Gericht als politische Institution

Das Bundesverfassungsgericht ist eine politische Institution. Es trifft politische Entscheidungen, indem es Gesetze und Gerichtsentscheidungen bestätigt, korrigiert und gegebenenfalls annulliert. "Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden", heißt es in §31 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. Wenn das Grundgesetz als Verfassung (nationalstaatlich) an höchster Stelle steht, dann profitiert von diesem Rang automatisch auch das Bundesverfassungsgericht als dessen Interpret und Wächter.

Diese Machtfülle scheint zwar dadurch begrenzt, dass das Bundesverfassungsgericht als Gericht konstruiert ist, das an vorgegebenes Recht – das Grundgesetz – gebunden ist, nur auf Antrag tätig werden beziehungsweise nur über vorliegende Klagen entscheiden kann. Faktisch sind diese Grenzen aber relativ schwach.

So sind die Vorschriften des Grundgesetzes meist abstrakt. Geschützt werden etwa Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde. Was das konkret bedeutet, entscheidet das Bundesverfassungsgericht. Auch die Grundrechte werden so konkretisiert. So sind zum Beispiel auch Mieter:innen durch das Grundrecht auf Eigentum geschützt, obwohl sie gerade keine Eigentümer:innen sind. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk erhielt von den Richter:innen in zahlreichen Entscheidungen eine Bestands- und Entwicklungsgarantie, obwohl er im Grundgesetz nicht einmal erwähnt ist.

Vermeintliche Lücken im Grundgesetz füllt das Bundesverfassungsgericht selbstbewusst. So entwickelte es ein Grundrecht auf Datenschutz (informationelle Selbstbestimmung) und band Auslandseinsätze der Bundeswehr an einen Beschluss des Bundestags. Jüngste Entdeckungen der Richter:innen waren Anfang 2020 das Recht auf selbstbestimmtes Sterben und ein Jahr später die Anerkennung des Klimaschutzes als Staatsziel. Ganz ohne Verfassungsänderung entwickelt sich das Grundgesetz weiter, dank der Gestaltungskraft der Karlsruher Richter:innen. Zwar bindet sich das Gericht in gewisser Weise durch seine Rechtsprechung selbst. Es kann nicht in jedem Fall neue Maßstäbe entwickeln, sondern legt seinen Entscheidungen in der Regel die bisherige eigene Rechtsprechung zugrunde. Allerdings können die Richter:innen bei Bedarf ihre Rechtsprechung auch jederzeit ändern: 2008 sah Karlsruhe im Abgleich von Kfz-Kennzeichen mit Fahndungscomputern noch keinen Eingriff in Grundrechte. 2019 korrigierte sich das Gericht und entschied das Gegenteil.

Etwas verdeckter, aber noch einflussreicher ist die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Eingriffe in Grundrechte müssen geeignet, erforderlich und angemessen sein. Der Staat soll nicht "mit Kanonen auf Spatzen schießen". Was aber angemessen ist, entscheidet letztlich das Bundesverfassungsgericht selbst. Natürlich prüft auch der Gesetzgeber die Verhältnismäßigkeit. Es gibt aber keinen naturwissenschaftsgleichen, für alle und alles identischen Maßstab. Letztlich wägt das Gericht nach freiem politischem Ermessen ab und besitzt die Macht, seine Abwägung an die Stelle der Abwägung des Bundestags zu setzen.

Selbst der alte Satz "wo kein Kläger, da kein Richter" wurde vom Bundesverfassungsgericht faktisch in ein "Kläger finden sich immer" abgewandelt. Zwar sind Klagen prinzipiell nur zulässig, wenn jemand selbst, gegenwärtig und unmittelbar in seinen Grundrechten verletzt ist (oder das zumindest substantiiert vorträgt). Doch wenn es dem Gericht opportun erscheint, erlaubt es, mit unterschiedlichen Argumenten, auch jedermann und jederfrau die Klage: So könne, betont das Gericht etwa, bei heimlichen Ermittlungsmaßnahmen von Polizei und Verfassungsschutz ja niemand wissen, ob er oder sie persönlich betroffen ist. Deshalb können nun alle gegen neue Sicherheitsgesetze klagen, auch wenn sie eine persönliche Betroffenheit nicht nachweisen können. Ein zweites Beispiel: Durch die EU-Integration verliere, so das Bundesverfassungsgericht seit seinem Maastricht-Urteil von 1993, das Wahlrecht der Wähler:innen zum Bundestag an Wert – also müssen aus Karlsruher Sicht alle Bürger:innen gegen die Zustimmung des Bundestags zu EU-Verträgen klagen dürfen. Und beim Klimaschutz hat das Gericht schließlich den "intertemporalen" Grundrechtsschutz entwickelt. Bereits heute kann sich jeder ohne konkrete Betroffenheit gegen Grundrechtseinschränkungen wehren, die erst in Jahrzehnten drohen.

Am Bundesverfassungsgericht kann fristwahrende Post bis zur letzten Minute eingeworfen werden. (© picture-alliance/dpa, Jürgen Effner)

Das alles heißt natürlich nicht, dass die Kläger:innen mit ihren Klagen stets Erfolg hätten. Zunächst geht es nur darum, dass das Bundesverfassungsgericht sich selbst Zugang zu einem Problem verschafft, sodass es verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickeln und dann Gesetze und andere staatliche Akte an diesen Maßstäben messen kann. Das Bundesverfassungsgericht handelt also nach Regeln, die es größtenteils selbst entwickelt hat und anschließend selbst interpretiert. Kein anderes deutsches Verfassungsorgan hat eine so große politische Gestaltungsmacht.

Eine politische Institution als Gericht

Große Macht führt nicht zwingend zu hohem Ansehen. Doch das große Vertrauen, das das Bundesverfassungsgericht in der Bevölkerung genießt, zeigt, dass die Karlsruher Richter:innen mit ihrer Machtposition in den vergangenen 70 Jahren klug umgegangen sind.

Das beginnt damit, dass die Verfassungsrichter:innen in ihren Urteilen in der Regel den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers betonen. Sie lassen ihm Freiheit bei der Einschätzung der Lage und bei der Erforderlichkeit von Eingriffen. Die Richter:innen betonen meist, dass die Verfassung viele Lösungen für politische Probleme zulasse und das Bundesverfassungsgericht nur dann interveniere, wenn die seitlichen "Leitplanken" des Grundgesetzes durchbrochen werden. Sie lassen die Politik an der langen Leine und nehmen sich somit auch aus der Verantwortung für das mühsame Alltagsgeschäft.

So kann das Bundesverfassungsgericht insbesondere dann als eine Art oberster Schiedsrichter eingreifen, wenn wichtige politische Vorhaben gesellschaftlich hoch umstritten sind. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung kann Karlsruhe dann zum Beispiel neue Teilregelungen anordnen und so Bedenken der Kläger:innen aufgreifen. Kein Wunder, dass nach vielen Karlsruher Schiedssprüchen die meisten Beteiligten recht zufrieden sind.

Doch das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts folgt nicht nur aus seiner Arbeit als fähiger Mediator. Erleichtert wird seine Rolle auch dadurch, dass es ein Gericht ist, das Recht anwendet und Urteile spricht. Es ist eben nicht ein weiterer Akteur im vielstimmigen politischen Diskurs, sondern es ist die Institution, die am Ende entscheidet. Es hat das letzte Wort, es ist das Basta-Organ.

Gerade in Deutschland mit seiner verspäteten parlamentarischen Tradition war der Rechtsstaat viel früher entwickelt als die Demokratie. Die Hoffnung auf das Recht und unabhängige Richter ist in Deutschland tief verankert. Insofern passte auch das 1949 neu geschaffene Bundesverfassungsgericht gut in die noch autoritätsfixierte Nachkriegszeit. Hier sprachen juristische Experten Urteile und setzten die Verfassung gegen die Politik durch. Spätestens als das Verfassungsgericht 1961 Adenauers Plänen für ein Regierungsfernsehen die Stirn bot, hatte sich das Gericht als eigenständiger, mächtiger Akteur etabliert.

Ein Organ, das machtkontrollierend, machtverteilend und minderheitenschützend agiert, kann aber politisch schnell zwischen alle Stühle geraten. Die scheinbar neutrale Rolle als Gericht, das nur das vorgegebene Grundgesetz anwendet, ist dabei ein wirkungsvoller Schutz. Die im Ausland oft gestellte Frage, wie man einem Gericht so viel politische Macht anvertrauen kann, ist aus deutscher Sicht insofern genau umgekehrt zu beantworten: Gerade weil das Bundesverfassungsgericht ein Gericht ist und als Gericht gesehen werden will, kann es seine Rolle zwischen und über den Interessen so gut ausfüllen.

Sitzungszimmer im Bundesverfassungsgericht. (© picture-alliance/dpa, Uli Deck)

Die "Inszenierung" dieser Rolle geht bis in die Details. Die Richter:innen tragen Roben, ihre internen Auseinandersetzungen unterliegen dem Beratungsgeheimnis. Und wenn sie bei komplizierten Fällen Sachverständige anhören, wird dies "mündliche Verhandlung" genannt. Die Schlichtungssprüche firmieren als "Urteil" oder "Beschluss". Und: Die Argumentation muss immer auf das Grundgesetz zurückgeführt werden. Politische Argumente sind natürlich allgegenwärtig, aber nur in juristischer Übersetzung als Auslegung einer Verfassungsnorm nach "Sinn und Zweck" oder als abzuwägender Gesichtspunkt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Und natürlich gehört auch das Massengeschäft mit den tausenden unspektakulären Verfassungsbeschwerden zur Inszenierung des Bundesverfassungsgerichts als Bürgergericht. Versuche der Richter:innen, ein Verfahren der "freien Annahme" durchzusetzen, bei dem sie sich wie der US-Supreme Court auf bedeutende Fälle konzentrieren könnten, hatten in Deutschland nie eine Chance. Die Öffentlichkeit will ein Verfassungsgericht, das für alle da ist, und nicht eine Denkfabrik, die sich auf selbstgewählte Fragestellungen konzentriert. So sehr die Richter:innen über die Last des täglichen Klein-Klein stöhnen: Diese Last ist eben der Preis für die große Macht, die ihnen anvertraut ist.

Schlecht für das Ansehen als über allem Parteiengezänk stehende Richter:innen ist es aber, wenn das Bundesverfassungsgericht selbst gespalten ist. Phasen mit häufigen 5:3-Entscheidungen in den 1970er und in den 1990er Jahren waren zugleich Phasen einbrechender Popularität. Das Bundesverfassungsgericht wirkte damals nicht mehr wie der Gegenentwurf zur Politik, sondern wie ein neues Forum für den üblichen Streit. Deshalb hat das Gericht sich in den vergangenen zwanzig Jahren mit beachtlichem Erfolg bemüht, einstimmig oder zumindest mit großer, lagerübergreifender Mehrheit zu entscheiden. Dies erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Öffentlichkeit die Urteile als Recht akzeptiert und nicht als camouflierte Politik wahrnimmt.

Ähnliches gilt für Konflikte des Bundesverfassungsgerichts mit europäischen Gerichten, insbesondere mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Das Dilemma ist ganz aktuell: Im Mai 2020 hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zu den Anleihe-Ankaufprogrammen der Europäischen Zentralbank (EZB) dem EuGH vorgeworfen, er habe das EU-Recht methodologisch völlig falsch angewandt, weshalb sein Urteil in dieser Sache für Deutschland unbeachtlich sei. Abgesehen davon, dass es von wenig Verantwortungsbewusstsein zeugt, den EuGH ausgerechnet in einer Situation anzugreifen, in der die EU mit den ins Autoritäre abdriftenden Staaten Polen und Ungarn im Clinch liegt, hat sich das Bundesverfassungsgericht hier auch selbst keinen Gefallen getan. Wenn Gerichte streiten und sich gegenseitig Grenzüberschreitungen vorwerfen, leidet vor allem die Idee des Rechtsstaats, für die eben auch das Bundesverfassungsgericht steht.

Pressearbeit

Politische Berichterstattung fokussiert sich typischerweise auf Fragen der Machtverteilung. Wer hat bei einem Gerichtsverfahren gewonnen, und wer hat verloren? Wer wird welche Probleme bei der Umsetzung einer Entscheidung haben? Für politische Berichterstatter:innen ist die Justiz eine Black Box, bei der am Ende ein Urteil ausgeworfen wird. Der Weg dorthin interessiert schon deshalb wenig, weil nicht-juristische Journalist:innen ihn oft nicht so recht verstehen und beschreiben können.

Wenn das Ansehen der politischen Institution Bundesverfassungsgericht wesentlich davon abhängt, dass es als Gericht und nicht als politischer Akteur wahrgenommen wird, dann hat das Bundesverfassungsgericht ein objektives Interesse an einer medialen Berichterstattung, die diese Sichtweise unterstützt. Für das Gericht ist daher eine Medienberichterstattung wichtig, die nicht nur in Kategorien von Sieg und Niederlage analysiert, sondern ein Urteil als einen Akt der Rechtsfindung darstellt. Es profitiert von Journalist:innen, die auch seine juristischen Argumente beschreiben und bewerten.

In und um Karlsruhe hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein Kreis von rund drei Dutzend Journalist:innen angesiedelt, die über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts juristisch kompetent berichten und so die Sichtweise mittransportieren, dass hier Recht gefunden und gesprochen wird. Dieser juristisch orientierte Journalismus nützt dem Bundesverfassungsgericht. Dabei geht es nicht um unkritische Hofberichterstattung. Auch harte mediale Kritik an Entscheidungen wird in Karlsruhe akzeptiert, solange sie das Narrativ unterstützt, dass es sich hier um Rechtsprechung handelt, die zunächst juristisch zu bewerten ist. Eher unerwünscht ist dagegen Kritik, die den Richter:innen die Verfolgung individueller oder kollektiver Interessen unterstellt. Der Vorwurf oder auch nur die bloße Darstellung, das Bundesverfassungsgericht verfolge eine eigene Agenda, ist für das Gericht ja auch besonders problematisch, weil dabei seine Legitimationsbasis als selbstloser Schiedsrichter berührt ist.

Die Karlsruher Journalist:innen haben ihrerseits ein Interesse daran, die juristische Perspektive zu betonen, weil es ihr Alleinstellungsmerkmal gegenüber der politischen Berichterstattung ist, die in der Regel in den Berliner Korrespondentenbüros oder in der Zentrale des jeweiligen Mediums angesiedelt ist. Und weil eine kompetente verfassungsrechtliche Berichterstattung als Ausweis journalistischer Qualität gilt, verfügen alle Qualitätsmedien über spezialisierte Journalist:innen, meist sogar über eigene Korrespondent:innen vor Ort. Auch die ARD-Rechtsredaktion sitzt in Karlsruhe. Man könnte also von einem symbiotischen verfassungsjuristisch-medialen Komplex sprechen.

Um das Jahr 2000 herum diskutierten die Verfassungsrichter:innen, ob sie wie Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat auch nach Berlin umziehen sollten. Sie lehnten dies mit deutlicher Mehrheit ab, um die Distanz zur Politik zu wahren. Auch medienstrategisch war dies wohl die richtige Entscheidung, weil das Gericht in Berlin sehr viel mehr zum Gegenstand der allgemeinen Politikberichterstattung geworden wäre und sein juristisch-mediales Biotop verloren hätte.

Die Karlsruher Rechtskorrespondent:innen sind seit 1975 in der Justizpressekonferenz (JPK) zusammengeschlossen, einem Verein, der ähnlich wie die Bundespressekonferenz in Berlin oder die Landespressekonferenzen in den Landeshauptstädten funktioniert. Die JPK vertritt die Interessen der Journalist:innen gegenüber der Karlsruher Justiz und organisiert regelmäßig Veranstaltungen. Mitglieder müssen heute kein Büro mehr in Karlsruhe unterhalten, es genügt, wenn sie ständig über die Karlsruher Bundesjustiz berichten.

Eine Pressestelle gibt es am Bundesverfassungsgericht erst seit 1996. Zuvor wandten sich die Karlsruher Journalist:innen an die Präsidialräte des Gerichts, also an hohe Beamte der Justizverwaltung. Man konnte dies als Ausdruck des engen Verhältnisses zwischen Karlsruher Medien und Gericht deuten. Die Einrichtung der Pressestelle war dann eine Reaktion auf die letzte große Legitimitätskrise des Gerichts, die auf die umstrittenen Beschlüsse zum Pazifistenslogan "Soldaten sind Mörder", zur Strafbarkeit von Sitzblockaden und zum Verbot von Kruzifixen in bayerischen Klassenzimmern folgte.

Die Pressestelle veröffentlicht pro Jahr rund einhundert Pressemitteilungen. Da das Gericht in den meisten Fällen nicht mündlich verhandelt, sind diese Pressemitteilungen (neben den Entscheidungen selbst) die wichtigste Kommunikationsform des Gerichts mit der Außenwelt. Dabei wird in der Regel der Originalwortlaut der Entscheidungen in den Kernaussagen zusammengefasst. Es findet dabei, außer mitunter im ersten Absatz der Pressemitteilung, keine Übersetzung in nicht-juristische Sprache statt. Dies bleibt Aufgabe der Journalist:innen. Auch so stärkt das Gericht die Position der spezialisierten Berichterstatter:innen.

Erst 2020 wurde öffentlich bekannt, dass das Bundesverfassungsgericht am Vorabend der (seltenen) Urteilsverkündungen die jeweilige Pressemitteilung für die Mitglieder der JPK an der Pforte des Gerichts bereithält. Gegen diese Praxis klagt inzwischen die AfD, das Verfahren ist noch am Verwaltungsgericht Karlsruhe anhängig. In diesem Verfahren betonte der damalige Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle in einem Schriftsatz, diese Vorgehensweise stelle sicher, "dass die Öffentlichkeit zeitnah und kompetent über die häufig äußerst umfangreichen und komplexen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts informiert werden kann". Die Beschränkung der Praxis auf die Mitglieder der JPK begründete Voßkuhle mit der "Professionalität dieses Kreises". Obwohl sich das Bundesverfassungsgericht bei dieser Praxis der Vorabinformation mit Sperrfrist für ausgewählte Medien gerade nicht wie ein Gericht verhält, zeigt es doch, welch hohen Wert die Richter:innen auf eine spezifisch juristische Berichterstattung durch die spezialisierten Journalist:innen legen.

Weil das Gericht so selten mündlich verhandelt und seine Urteile verkündet, produziert es auch selten telegene Bilder. Umso wichtiger sind dann die rund zehn Urteilsverkündungen pro Jahr: Lange bevor dies 1998 gesetzlich geregelt wurde, ließ das Gericht bereits Fernsehaufzeichnungen und Übertragungen seiner Urteile zu. Anders als bei den übrigen Bundesgerichten, denen der Gesetzgeber 2017 die TV-Übertragung ihrer Urteile eher aufzwingen musste, war das Bundesverfassungsgericht hieran selbst interessiert. Wenn jeweils acht Richter:innen in roten Roben zu sehen sind, befördert dies die öffentliche Wahrnehmung des Bundesverfassungsgerichts als Gericht. Dass zeitweise der Begriff der "Roten Roben" sogar ein mediales Synonym für das Bundesverfassungsgericht war, kann durchaus als Erfolg der Karlsruher Ikonographie gewertet werden. Mehr Richtersymbolik geht kaum.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Christian Rath, Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 2013, S. 19ff.

  2. Vgl. z.B. BVerfGE 89, 1.

  3. So zuletzt in BVerfG, 1 BvR 2756/20, Beschluss vom 20.7.2021.

  4. Vgl. BVerfGE 65, 1.

  5. Vgl. BVerfGE 90, 286.

  6. Vgl. BVerfG, 2 BvR 2347/15, Urteil vom 26.2.2020.

  7. Vgl. BVerfG, 1 BvR 2656/18, Beschluss vom 24.3.2021.

  8. Vgl. BVerfGE 120, 378.

  9. Vgl. BVerfGE 150, 244.

  10. Vgl. BVerfG (Anm. 7).

  11. Vgl. Rath (Anm. 1), S. 36ff.

  12. Vgl. BVerfGE 12, 205.

  13. Vgl. z.B. Sebastian Felz, Duchesse-Schwerrot. Wie die Richter des Bundesverfassungsgerichts zu ihren Roben kamen und warum diese ein Symbol für die Autorität des Gerichts sind, in: Ad Legendum 4/2008, S. 246–249.

  14. Vgl. hierzu z.B. Uwe Kranenpohl, Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses, Wiesbaden 2010; Thomas Darnstädt, Verschlusssache Karlsruhe. Die internen Akten des Bundesverfassungsgerichts, München 2018.

  15. Vgl. Christian Rath, Pressearbeit und Diskursmacht des Bundesverfassungsgerichts, in: Robert Chr. von Ooyen/Martin H.W. Möllers (Hrsg.), Handbuch Bundesverfassungsgericht im politischen System, Wiesbaden 2015, S. 403–412.

  16. Vgl. BVerfGE 93, 266.

  17. Vgl. BVerfGE 92, 1.

  18. Vgl. BVerfGE 93, 1.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Christian Rath für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist promovierter Jurist und seit 1993 rechtspolitischer Korrespondent verschiedener Medien in Karlsruhe. Er berichtet regelmäßig über die Arbeit des Bundesverfassungsgerichts und ist seit 1995 Mitglied der Justizpressekonferenz, zurzeit Vorstandsmitglied.
E-Mail Link: ch-rath@t-online.de