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Ethik des Impfens | Medizin und Ethik in der Pandemie | bpb.de

Medizin und Ethik in der Pandemie Editorial "Not kennt kein Gebot"? Ethische Perspektiven der Pandemie-Bekämpfung Ethik des Impfens. Impfentscheidungen, ethische Konflikte und historische Hintergründe Leben oder sterben? Triage im Wandel der Zeit Medizinische Apartheid in Zeiten von Corona. Rassismus im Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten Ethische Implikationen und rechtlicher Rahmen globaler Arzneimittelversuche Ethische Herausforderungen für die Pflege in der Covid-19-Pandemie

Ethik des Impfens Impfentscheidungen, ethische Konflikte und historische Hintergründe

Philipp Osten

/ 17 Minuten zu lesen

Im Februar 2020 wurde die Erkenntnis unausweichlich: Das Coronavirus hatte eine weltweite Pandemie ausgelöst. Fachleute hatten ein solches Szenario lange erwartet. One Health heißt das Forschungsfeld, das sich mit neu entstehenden Viren und mit ihrem Ursprung im Tierreich befasst. Laufend aktualisierte Pandemiepläne lagen schon lange bereit, um etwaige kommende Pandemien einzudämmen; die Pläne des Robert Koch-Instituts waren zuletzt 2017 aktualisiert worden. Auch wenn ab und an Maßnahmen etwa gegen die Vogelgrippe öffentlich diskutiert wurden, erschien der allgemeinen Öffentlichkeit die Vorstellung, von einer Seuche bedroht zu sein, wie aus der Zeit gefallen. Den Anachronismus bald durch medizinischen Fortschritt überwunden zu haben, war bereits in den ersten Wochen der Covid-19-Pandemie ein fester Topos. Die Frage "Wann haben wir eine Impfung?" stand von Anfang an im Mittelpunkt des öffentlichen Diskurses. Der Soziologe Armin Nassehi bemerkte die Überhöhung dieser Erwartung, er schrieb: "Die Impfung ist die Hoffnung. Die Impfung ist nachgerade eschatologisch aufgeladen."

Lange bevor genügend Impfstoff vorhanden war, begann die Debatte über eine Impfpflicht. Sie betraf zuerst die Mitarbeiter:innen von Kliniken und Altersheimen, inzwischen hat sie sich auf alle gesellschaftlichen Gruppen ausgedehnt. Kinder und Jugendliche rückten in den Fokus, noch ehe überhaupt ein einziger Impfstoff für sie in Europa zugelassen war. Bemerkenswert ist, dass die Diskussion über eine Impfpflicht selten von medizinischer Seite angestoßen wurde, sondern vor allem von Politik und Medien. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es nur wenige Befürworter:innen einer Pflicht zur Covid-Impfung. Bei anderen Vakzinen gibt es sie aber durchaus.

Die Debatte über Impfungen berührt naturwissenschaftliche und gesellschaftliche Aspekte. Beide können sich wandeln. Neue Sichtweisen und Argumente können neue Überzeugungen hervorbringen, und auch wissenschaftliche Befunde können durch neue Erkenntnisse ins Wanken geraten. Das Wissen über Covid-19 und seine Varianten wächst ständig. Zu Beginn der Pandemie musste man sich mit dem behelfen, was wir aus vorangegangenen Seuchen wussten. Primär bestimmten die Erfahrungen mit der Grippe, ganz konkret mit der Influenza-Pandemie der Jahre 1918 bis 1920, unseren Blick auf die Corona-Pandemie. Diese Grippe ging vorbei, ohne dass es eine Impfung gab. Staaten, die im vergangenen Jahr auf eine Durchseuchung ihrer Bevölkerung bei gleichzeitiger Isolation alter und besonders gefährdeter Menschen setzten, orientierten sich an diesem Modell. Belege dafür, dass SARS-CoV-2 sich so verhalten würde wie der Grippeerreger vor 100 Jahren, gab es freilich keine.

Auch die derzeitige Impfdebatte ist von dem Wunsch geprägt, sich auf Erfahrungen zu beziehen. In der Bundesrepublik stand das Beispiel der Masern im Mittelpunkt der Diskussion und bildete die Kulisse, vor deren Hintergrund über Zwang und Freiwilligkeit diskutiert wurde.

Stand der Debatte zu Pandemiebeginn

Dass genau zu Beginn der Covid-19-Pandemie in Deutschland zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung eine Impfpflicht in Kraft trat, war Zufall. In der DDR war es bis zu ihrem Ende vorgeschrieben gewesen, seine Kinder impfen zu lassen. In Westdeutschland endete die Impfpflicht 1975 mit der Pockenimpfung.

Seit März 2020 jedoch gilt das Masernschutzgesetz. Aus heutiger Sicht scheint die öffentliche Debatte darüber aus einer fernen Vergangenheit zu stammen – so unvorstellbar erscheint es heute, dass sich staatliche Maßnahmen zur Seuchenbekämpfung leise und fast unbemerkt vollziehen. Zwar gab es durchaus Diskussionen über die Masern-Impfung in den Fluren von Kindertagesstätten und auf Elternabenden, Zeitungen berichteten, die "Bild" sprach 2017 von einer großen Aufregung um den Plan von Gesundheitsminister Hermann Gröhe, impfunwilligen Eltern eine Strafe von 2500 Euro anzudrohen. Der Artikel war allerdings nur wenige Zeilen lang. In der breiten Öffentlichkeit war die Pflicht, Kinder gegen Masern zu impfen, kaum ein Thema. Das verabschiedete Gesetz selbst sieht keine Strafen für impfunwillige Eltern vor, anders als in der DDR. Das Wort "Impfpflicht" kommt ebenfalls nicht darin vor. Es verbietet Personen ohne Impfnachweis allerdings den Besuch von Betreuungseinrichtungen und die Arbeit dort.

Da spätestens mit der Einschulung die Masern-Impfung unausweichlich würde, sieht das Gesetz eine Ausnahmeregelung für Schüler:innen vor; ein Kindergartenbesuch aber ist für über Einjährige ohne Impfnachweis nicht möglich. Hinzu kommt, dass die Masern-Vakzine ausschließlich in Kombination mit Mumps- und Röteln-Impfstoff erhältlich sind. Im Vorfeld der Entscheidung hatte der Deutsche Ethikrat zwar an eine "allgemeine moralische Pflicht" zur Impfung appelliert, eine gesetzliche Masern-Impfpflicht (außer für ausgewählte Berufsgruppen) jedoch ausdrücklich nicht empfohlen.

Die Masern-Impfpflicht scheint recht effektiv zu sein. Doch kam sie auf Umwegen daher. Offenkundig gehört es zum guten Ton, den Körper betreffende Anordnungen des Staates eher unauffällig zu gestalten. Die Kampagne "Deutschland sucht den Impfpass" der Kölner Werbeagentur Kaiserkom sollte die Masern-Impfung propagieren und vermied alle Belehrung. Die Krankheit erwähnt sie nur am Rande, die mitgeimpften Mumps und Röteln gar nicht. Inszeniert wurde stattdessen die Abwesenheit einer staatlichen Impfkontrolle. Schon lange werden die Kampagnen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) von Werbeagenturen konzipiert.

Bei der im Dresdner Hygienemuseum konzertierten Gesundheitserziehung der DDR sah es ähnlich aus. Gesundheitsaufklärung war primär Werbung für die Leistungsfähigkeit und die Vielseitigkeit öffentlicher Angebote. Doch immer wieder gab es Ausnahmen von der Weichzeichnung. Während in der DDR Ende der 1980er Jahre gegen den Rat vieler Expert:innen das Thema Sexualität in Aufklärungskampagnen bewusst tabuisiert wurde (Dramaturg:innen und Journalist:innnen wichen mit ihren Anliegen auf Spielfilme und Reportagen aus), verschaffte sich die Kölner BZgA mit ihrer Kampagne "Gib AIDS keine Chance" Respekt. An diese Erfolge knüpft die aktuelle Kampagne zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten, "Juckt’s im Schritt?", an.

Masern-Impfkampagnen betonen beharrlich den Schutz der Geimpften, anstatt zu vermitteln, dass die Vakzinierung Gesunder im Sinne einer Herdenimmunität maßgeblich dem Schutz besonders anfälliger Personen dient. Mumps und Röteln, die beiden Krankheiten, gegen die stets in Kombination mit Masern geimpft wird, werden in den Kampagnen erst gar nicht erwähnt. Denn Mumps ist für Mädchen und Frauen weitgehend (wenn auch nicht vollkommen) ungefährlich, während er bei Jungen und besonders bei erwachsenen Männern Hodenentzündungen mit Folgen bis zur Unfruchtbarkeit verursachen kann. Röteln schaden Ungeborenen im Mutterleib, wenn sich Schwangere anstecken. Die Botschaft, dass die Masern-Mumps-Röteln-Impfung zu einigen Teilen aus Altruismus erfolgt, wird in den Kampagnen nicht vermittelt.

Ein weiteres Beispiel für eine sanfte Informationspolitik im Zusammenhang mit Seuchen ist die nach einer Überarbeitung erfolgte Umbenennung des Bundesseuchengesetzes 2001. Es heißt seitdem Infektionsschutzgesetz ("Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen"). Dass es weiterhin effektive seuchenpolizeiliche Maßnahmen legitimiert, drang erst im Frühjahr 2020 mit Vehemenz – und umso überraschender – in das öffentliche Bewusstsein. Das Thema Impfen, zuvor fast ausschließlich unter Fachleuten und Impfgegnergruppen diskutiert, füllt seit dem Sommer 2020 die Titelseiten der Zeitungen – und es sind die in der Herausarbeitung polarer Meinungen geübten Politikressorts, nicht die Wissenschaftsjournalist:innen, die sich des Themas primär annehmen.

Ein Impfzentrum im American Museum of Natural History in New York City, wo im Mai 2021 vor allem Jugendliche ab 12 Jahren geimpft wurden. (© picture-alliance, Globe-ZUMA, Sonia Moskowitz Gordon)

In den ersten Monaten der Covid-Pandemie beschäftigten zunächst die Sicherheit der neuen mRNA-Impfstoffe und ihre Testverfahren die Öffentlichkeit. Sobald die ersten Impfstoffe zugelassen worden waren, ging es um ihre Verteilung – sowohl auf internationaler Ebene als auch zwischen den verschiedenen Alters- und Bevölkerungsgruppen. Mit den Berichten über Nebenwirkungen kam die Frage hinzu, wem welcher Impfstoff zur Verfügung stehen sollte. Die jüngste Diskussion dreht sich um mögliche Privilegien Geimpfter: Ihnen könnte die Teilhabe an Aktivitäten gestattet werden, die Ungeimpften aufgrund von Eindämmungsverordnungen untersagt sind. Von einzelnen Medien aufgebracht und oft auf Pressekonferenzen angesprochen, steht eine Impfpflicht gegen Covid-19 gegenwärtig gleichwohl nicht ernsthaft zur Debatte.

Im Folgenden werden zunächst die ethischen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Corona-Impfung diskutiert. Dabei werden Beispiele aus der Geschichte des Impfens herangezogen – nicht zuletzt, um zu zeigen, wie sehr die jeweils herrschende Meinung über das Impfen von wissenschaftlichen Theorien und von politischen, historischen und sozialen Umständen abhängt.

Wer bestimmt, was ethisch ist?

Hinter dem Begriff der Ethik, der nach gutem, richtigem Handeln klingt, verbirgt sich bisweilen eine hässliche Realität. Ethik ist auch der Versuch, übergriffige Moralvorstellungen und rücksichtslose Menschenökonomie ebenso einzuordnen wie philosophisch begründete Überzeugungen und Forderungen nach Solidarität und Gerechtigkeit. Als Wissenschaft betrachtet ist Ethik also die Theorie der Moral. Von Ethiker:innen wird erwartet, dass sie möglichst objektiv die unterschiedlichen Positionen zu einem Thema darlegen.

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird unter Ethik aber etwas ganz anderes verstanden: die Entwicklung von moralisch fundierten Empfehlungen, Leitlinien und Handlungsanweisungen. In der Medizin können diese bisweilen sehr effektiv durchgesetzt werden. Über die Pflege- und Ärztekammern werden etwa ethische Leitlinien der Berufsorganisationen für all deren Mitglieder verpflichtend. Die normative Ethik stößt jedoch dort an ihre Grenzen, wo sie potenziellen Patient:innen Vorschriften macht. Denn diese sind nicht qua Beruf oder Anstellung einer Organisation beigetreten.

In der medizinethischen Diskussion haben sich zwei Fraktionen herausgebildet. Eine räumt der Autonomie des Einzelnen in Behandlungsentscheidungen oberste Priorität ein, die andere hat eher die Verteilungsgerechtigkeit im Blick. Die brisanteste Konfrontation erfuhr dieser Widerspruch während der Corona-Pandemie im Zusammenhang mit dem Thema der Triage. Medizinische Fachgesellschaften, aber auch Ethik-Arbeitskreise einzelner Kliniken, entwickelten Kriterien zur Verteilung lebenswichtiger Ressourcen. Der Gesetzgeber hingegen blieb in dieser Frage untätig.

Der Menschenrechtsanwalt Oliver Tolmein zweifelte an der Entscheidungskompetenz selbsternannter Ad-hoc-Gremien, weil er in den veröffentlichten Kriterienkatalogen eine besondere Gefährdung von Menschen mit Behinderungen erkannte. Er wandte sich als Vertreter von neun Menschen mit Behinderungen mit einer Beschwerde an das Bundesverfassungsgericht. Das Gericht stellte daraufhin im Juli 2020 fest, dass es "einer eingehenderen Prüfung" bedürfe, "wie weit der Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers für die Regelung konkreter medizinischer Priorisierungsentscheidungen reicht".

Ähnliche Konflikte gibt es in Zusammenhang mit der Verteilung von Spenderorganen. Diese erfolgt bis heute durch die Service-Organisation Eurotransplant, obwohl die Leopoldina – die nach der Wiedervereinigung als unabhängiges Beratungsgremium für Politik und Gesellschaft zur Nationalen Akademie der Wissenschaften erhoben wurde – 2015 empfohlen hatte, Entscheidungen dieser Tragweite "einer (halb-)staatlichen Stelle auf Bundesebene" zu überantworten.

Entscheidungen, die den Schutz des Lebens berühren, sollten in einer Demokratie nur von der Bevölkerung selbst getroffen werden, vertreten durch Parlamente und Regierungen. In Zusammenhang mit der Priorisierung der Covid-Impfstoffe hat man aus diesen Monita gelernt.

Impfpriorisierung

Der von Bundesregierung und Bundestag gemeinsam berufene Deutsche Ethikrat nimmt in der Covid-Pandemie eine Sonderstellung ein. Denn üblicherweise haben seine Entscheidungen kein rechtliches Gewicht. Bei der Festlegung der Impfreihenfolge wurden zwar Richtlinien entwickelt, die einer verbindlichen Norm gleichkommen. Allerdings geschah dies in einer gemeinsamen Kommission mit der Leopoldina und der Ständigen Impfkommission, einem vom Robert Koch-Institut koordinierten Expert:innengremium, das durch das Infektionsschutzgesetz seit 2001 dazu legitimiert ist, Impfrichtlinien zu erarbeiten. Das Kriterium eines (halb-)staatlichen Entscheidungsgremiums ist damit erfüllt.

Knapp fünfzig Tage vor Verabreichung der ersten Dosis Comirnaty (dem Vakzin von Pfizer/Biontech) wurde eine Priorisierungsliste bekannt gegeben. Auf den ersten Blick schien sie nicht den klassischen Regeln einer Impfkampagne zu entsprechen, wie sie Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre in Westdeutschland bei Pockenausbrüchen rasch und dennoch wohlgeplant auf die Beine gestellt worden waren. Das damalige Ziel war gewesen, Personen mit vielen Kontakten möglichst zuerst zu impfen. Die ersten Covid-Impfungen hingegen wurden zum Jahreswechsel 2020/2021, exakt den Vorschriften des Expert:innenpapiers folgend, in Altenheimen durchgeführt.

Bei den ersten Covid-Impfstoffen war zunächst nicht klar, ob und inwieweit sie eine sogenannte sterilisierende Immunität erzeugen, sie also nicht nur vor schweren Krankheitsverläufen schützen, sondern auch verhindern, dass sich der Erreger in den Geimpften vermehrt und von ihnen übertragen werden kann. Daran musste zunächst gezweifelt werden, da man wusste, dass herkömmliche Coronaviren im Menschen regelmäßig keine zuverlässige Immunität erzeugen. Die für viele andere Impfungen gültige Erkenntnis, dass man sich nicht nur für sich selbst, sondern auch zum Schutz ungeimpfter Dritter impfen lässt, trat damit in den Hintergrund. Oberstes Ziel der Priorisierung war es, die besonders gefährdeten Gruppen zu schützen und die öffentliche Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Die Impfung von Klinikmitarbeiter:innen mit Kontakt zu Infizierten erfolgte daher mit ähnlicher Dringlichkeit.

Die in den analogen und digitalen Medien klar erläuterte Priorisierung war gut vermittelbar. Zwar sahen Hamburger:innen mit Neid nach Berlin, da in Hamburg zehntausende Dosen Comirnaty entsorgt wurden – in Berlin aufgrund verschiedener Regulierungen aber nicht. Doch alles in allem erwies es sich als ausgesprochen günstig, dass die Priorisierung bundeseinheitlich erfolgte. Erst mit der Freigabe der noch immer knappen Impfstoffe im Mai 2021 (bundesweit ab dem 7. Juni) begannen die Probleme. Nun sollen Hausärzte die Reihenfolge der Impflinge unter ihren Patient:innen selbst bestimmen – eine höchst undankbare Rolle, hatte doch schon längst eine Debatte darüber eingesetzt, welche "Privilegien" Geimpfte genießen dürfen. Anders als bei der sensiblen Festlegung der Reihenfolge ist derzeit keine bundeseinheitliche Regelung dieser Frage absehbar. Personen, die den Erreger nicht verbreiten können, würden in der Wahrnehmung ihrer Grundrechte unzulässig beschränkt, wenn Eindämmungsverordnungen auch für sie gelten. Für Einzelne wäre das zu Beginn einer Impfkampagne unter Umständen noch vertretbar. Mit einer wachsenden Zahl Geimpfter verschärft sich das Problem jedoch.

Impfzwang?

Die Ausrottung der Pocken durch die Kuhpockenimpfung gehört zu den größten medizinischen Erfolgen der Menschheitsgeschichte. Die Pocken waren so ansteckend, dass jede:r sie bekam. Und 17 bis 20 Prozent der Infizierten starben daran. Sie waren ein wesentlicher Grund dafür, dass um 1800 in vielen Gegenden gerade einmal die Hälfte der Kinder ihren fünften Geburtstag erlebte. Die erste Pockenimpfpflicht überhaupt führten 1807 Bayern und Hessen ein. Die überwiegend des Lesens nicht mächtige Bevölkerung wurde in den Kirchen über die Impfungen informiert. Impfärzte blieben für viele die einzigen Mediziner, die sie in ihrem Leben zu Gesicht bekamen. Die Prozedur war brachial: Da Kuhpocken selten waren, wurden die Pockenblasen aufgeritzt, die sich sieben Tage nach einer Impfung bei den Kindern bildeten. Dann wurde das herausquellende Sekret gleichaltrigen Impflingen mit einem kleinen Messer unter die Haut geschoben. Der Akt ging mit staatlicher Kontrolle einher. Beamte der Innenbehörden übertrugen Kirchenbücher in Impflisten, aus ihnen wurden die ersten Melderegister Europas. Eine Impfgegnerschaft formierte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die akademische Medizin nicht mehr auf der Grundlage von Philosophie, sondern auf der Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnisse argumentierte. Die Diskussion über die Impfpflicht wurde zum Brennglas der Auseinandersetzung über den Alleinvertretungsanspruch der exakten Naturwissenschaften. Die Autonomie freier Entscheidungen, eine der zentralen Forderungen der Aufklärung, geriet in Konflikt mit einer anderen wichtigen Maxime, der Hinwendung zum rationalen Denken. Einen Ausweg aus der zunehmend spaltenden Debatte um die Impfpflicht fand das Britische Unterhaus im Jahr 1907. Der Vaccination Act befreite einzelne Kinder von der Impfung, wenn ihre Eltern ihre Beweggründe und Argumente dagegen ausführlich und schriftlich dargelegt hatten. Danach herrschte Rechtsfrieden. Die Zahl der aus Überzeugung Ungeimpften blieb gering. Ab 1930 waren die Pocken in Großbritannien nicht mehr endemisch. Bei alledem gilt aber: Ausrotten lassen sich nur Krankheiten, die ausschließlich oder ganz überwiegend den Menschen befallen. Die Pocken, die Kinderlähmung und die Masern gehören dazu, die Grippe und Covid-19 nicht.

Pockenimpfzentrum im Pariser Louvre Ende des 19. Jahrhunderts. (© Medizinhistorisches Museum Hamburg)

Welch hohes Konfliktpotenzial die Debatte über eine Impfpflicht heute beinhaltet, zeigte sich im Mai 2021 an einem Beschluss des 124. Deutschen Ärztetages. Die Delegierten sprachen sich für eine Impfstrategie für Kinder und Jugendliche aus. Sie forderten Politik und Verwaltung auf, die Zulassung von Impfstoffen für diese Gruppe zu beschleunigen, Vakzine bereitzustellen, die für ihre Verteilung erforderliche Logistik in Angriff zu nehmen und für die Impfung von Kindern zu werben. "Die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe erlangen Familien mit Kindern nur mit geimpften Kindern zurück", so der Ärztetag mahnend. Daraus konstruierte die AfD eine "Forderung des Deutschen Ärztetages nach einer faktischen Impfpflicht für Kinder". Die Ressortleiterin für Außenpolitik der "Welt" interpretierte den Beschluss der Bundesärztekammer ebenso. Sie schrieb: "So wichtig es ist, dass sich die Ärzte für eine rechtzeitige Impfstrategie starkmachen: Das Recht auf Bildung und gesellschaftliche Teilhabe für Kinder – und für ihre Eltern – daran zu knüpfen, geht zu weit." Die Auslegung des Beschlusses zeigt, wie schnell in dieser Debatte Ärzt:innen autoritäre Tendenzen zugeschrieben werden, die sich im Wortlaut des Beschlusses zum Ärztetag jedenfalls nicht finden.

Tatsächlich droht bis zu einer ausreichenden Bereitstellung von Impfstoffen für Kinder und Jugendliche bei hohen Inzidenzwerten die Fortführung von Wechselunterricht in den Schulen (Klassen werden in zwei oder drei Gruppen geteilt, um nicht zu viele Personen in einem Raum zusammenzubringen) und eines engmaschigen Schnelltestregimes. Nur so kann ohne eine Impfung die Gefährdung für Säuglinge, Schwangere und andere Ungeimpfte geringgehalten werden. Dem Ärztetag ging es nur darum, diesen Zustand nicht unnötig zu verlängern.

Aus Fachkreisen gab es, bis auf wenige Ausnahmen, kaum Forderungen nach einer Impfpflicht gegen Covid-19. Anders in der Politik. Am 10. Januar 2021 sagte der bayerische Ministerpräsident Markus Söder der "Süddeutschen Zeitung", es gebe "unter Pflegekräften in Alten- und Pflegeheimen eine zu hohe Impfverweigerung". Der deutsche Ethikrat solle deshalb untersuchen, "ob und für welche Gruppen eine Impfpflicht denkbar wäre".

Unter der wenig diplomatischen Überschrift "Ärzte halten Debatte über Impfpflicht für Gesundheitsberufe derzeit für medizinischen Unsinn" fasste das "Deutsche Ärzteblatt" die Diskussion um Söders Vorstoß zusammen. Pedram Emami, der Präsident der Hamburger Ärztekammer, hat die Debatte als überflüssig kritisiert. "Noch wissen wir nicht sicher, ob Geimpfte das Virus nicht trotzdem weitergeben", sagte er. Erste Daten hierzu würden in den kommenden Wochen erwartet. "Bis dahin handelt es sich um eine virtuelle Diskussion, die nur noch mehr Unruhe in eine ohnehin aufgeheizte Stimmungslage bringt."

Historische Parallelen

Die aufgeheizte Debatte unserer Tage wird zweifellos durch die Bestimmungen des Masernschutzgesetzes begünstigt. Denn dieses sieht ja tatsächlich vor, den Kindergartenbesuch an eine Impfung zu knüpfen. Aber die Masern-Impfung besitzt Eigenschaften, die nach bisherigem Forschungsstand für die gegenwärtig angebotenen Covid-Impfstoffe nicht angenommen werden können. Und auch die Masern selbst gehorchen einer anderen Epidemiologie. Anhand des Vergleichs lässt sich gut zeigen, dass die Beurteilung von Impfempfehlungen nicht gelingen kann, ohne sich mit den naturwissenschaftlichen Hintergründen, der Epidemiologie und den je spezifischen Eigenschaften der Erreger zu befassen.

Wer mit Covid-19 infiziert ist, steckt nach bisherigen Schätzungen im Durchschnitt etwa drei weitere Personen an. Dieser sogenannte R0-Wert gilt aber nur in einer Gruppe von Personen, in der niemand eine Immunität durch Impfung oder durch eine überstandene Infektion besitzt. Günstig beeinflusst wird der Wert unter anderem durch erfolgreiche Eindämmungsmaßnahmen, negativ wirken sich Virusvarianten mit längerer Prävalenz oder höherer Infektiosität aus. Die Masern sind deutlich ansteckender. Sie gehören zu den infektiösesten Krankheiten des Menschen. Ihr R0-Wert liegt bei 14. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts, als Postkutschen erstmals jeden Ort des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation erreichten, wurden sie ebenso endemisch wie die Pocken. Bevor die Impfung verbreitet war, steckten sich, zumindest in Ballungsräumen, quasi alle Menschen an. Die Überlebenden blieben lebenslang immun. Hatte sich ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung infiziert, kam die Epidemie zum Erliegen. Man spricht hier von Herdenimmunität. Sobald aber genügend Kinder "nachgewachsen" waren, um der Ausbreitung des Virus ein ausreichendes Erregerreservoir zu bieten, kam es erneut zu Ausbrüchen. Alle hoch ansteckenden Krankheiten wurden auf diese Art und Weise mehr oder weniger zu Kinderkrankheiten.

In Deutschland stirbt heute im Durchschnitt jede:r fünfhundertste Infizierte an den Masern. Vor 100 Jahren war es noch jede:r fünfzigste. Damals starben im Deutschen Reich jährlich 45000 Kinder an den Masern. Als mit Beginn der Weimarer Republik erstmals eine öffentlich finanzierte Kinder- und Jugendfürsorge auf kommunaler Ebene etabliert wurde, begannen Statistiker:innen in Hamburg und München, sich die Zahlen genauer anzusehen. Sie stellten fest: In ärmeren Stadtvierteln lag die Masern-Mortalität zwanzig Mal höher als in gehobenen Wohnquartieren. Die Ursachen hierfür waren vor allem Vorerkrankungen. Die Mangelkrankheit Rachitis grassierte in dunklen Hinterhöfen, Tuberkulose war mit beengten Wohnverhältnissen vergesellschaftet. Kinderärzt:innen zögerten, schwer kranke Kinder in Krankenhäuser einzuweisen, wenn sie die Masern noch nicht überstanden hatten. Zu hoch war die Wahrscheinlichkeit, sich in der Klinik zu infizieren und, geschwächt durch die Grunderkrankung, an den Masern zu sterben. In Ermangelung einer Impfung zapfte der Münchener Assistenzarzt Rudolf Degkwitz den gerade genesenen Masernkranken auf seiner Station Blut ab – und spritzte es neu aufgenommenen Kindern in den Gesäßmuskel. Die aus der Verzweiflung geborene Methode funktionierte, die transferierten Antikörper schützten für ein paar Wochen vor der Infektion.

Die katastrophale Gesundheitssituation des Kaiserreichs mit der damals höchsten Kindersterblichkeit in Europa ist Geschichte. Impfungen haben dazu ebenso beigetragen wie die Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse. Die Forderung nach Solidarität ist geblieben. Seuchen sind nach wie vor "die sozialsten aller Krankheiten". Das Schicksal von Menschen mit Vorerkrankungen begründet zwar eine moralische Verpflichtung, sich impfen zu lassen. Und diese Verpflichtung gilt umso mehr für Impfungen, die eine Weitergabe des Erregers blockieren. Eine Corona-Impfpflicht wird aber auch in Zukunft nicht ernsthaft zur Debatte stehen. Solange der Erfolg einer zweifachen Covid-Impfung vorwiegend dem eigenen Schutz dient, kann die Entscheidung darüber mit größerer Berechtigung den Einzelnen überlassen werden, als es etwa bei den Masern der Fall ist. Darüber hinaus gilt: Wenn auf freiwilliger Basis ausreichende Impfquoten erzielt werden, erübrigt sich die Diskussion über eine Impfpflicht.

An Schärfe zunehmen wird die Auseinandersetzung über die Verteilung von Impfstoffen. Sobald in Deutschland genügend Vakzine zur Verfügung stehen, werden Impfprivilegien nicht mehr als Ungerechtigkeit wahrgenommen werden. Doch diese Pandemie ist ein globales Ereignis. Die anfängliche Absage an einen "Impfnationalismus" blieb auf Europa beschränkt. Monate, bevor ihr Land von einer neuen Virusvariante überrollt wurde, hatten die Vertreter:innen Indiens bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf die Freigabe wichtiger Patente für die Impfstoffproduktion gedrängt. Die Antwort der EU wertete das geistige Eigentum der Patentinhaber jedoch bisher höher als die moralische Verpflichtung, weniger wohlhabenden Regionen zu gestatten, selbst die Produktion von Impfstoffen zu dirigieren. Klassische Nützlichkeitserwägungen könnten Europa von diesem Egoismus ebenso abbringen wie eine sich andeutende Politikänderung der Vereinigten Staaten in dieser Frage. So ist es durchaus denkbar, dass einige Patentregeln vorübergehend gelockert werden – mit der Motivation, die Entstehung neuer Virusmutationen zu verhindern, gegen die bisherige Impfstoffe potenziell machtlos wären. Wenn die Bedrohung durch die Corona-Pandemie abnimmt, sollte das Thema Global Health nicht erneut in den Hintergrund treten.

leitet das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf und das Medizinhistorische Museum Hamburg. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist das Verhältnis von Medizin und Öffentlichkeit. E-Mail Link: p.osten@uke.de