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Ein Reich für alle? | 150 Jahre Reichsgründung | bpb.de

150 Jahre Reichsgründung Editorial Eine Möglichkeit von vielen. Die Reichsgründung und ihre Vorgeschichte Ein Reich für alle? Wie das Deutsche Reich innerlich zusammenwuchs Von Helden, Schurken und Sonderwegen. Interpretationen der Reichsgründung und des Kaiserreichs seit 1870/71 Warum sich eine Beschäftigung mit der Reichsgründung heute lohnt Versailles und der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71

Ein Reich für alle? Wie das Deutsche Reich innerlich zusammenwuchs

Siegfried Weichlein

/ 12 Minuten zu lesen

"Wir haben Italien gemacht. Jetzt müssen wir die Italiener schaffen", soll der italienische Politiker Massimo d’Azeglio nach der Staatsgründung 1861 gesagt haben. Wenn es auch eine Ex-post-Zuschreibung war, so charakterisierte es doch gut die Situation. Eine Reihe von kleineren Fürstentümern war im neuen Königreich Italien aufgegangen.

Ähnlich lagen die Dinge in Deutschland: Hier zerfiel 1866 der Deutsche Bund. Auch das Königreich Hannover, das Kurfürstentum Hessen-Kassel, das Herzogtum Nassau und die Freie Reichsstadt Frankfurt am Main fanden sich nun in Preußen wieder. "Deutsche" aber waren sie dadurch noch nicht. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 kamen die Elsässer und Lothringer zu Deutschland. Diese Erfahrung hatten die Dänen, die in Schleswig wohnten, bereits 1864 gemacht. Die alte Ordnung des Wiener Kongresses von 1815 löste sich auf. Würde eine neue Ordnung entstehen? Würde der äußeren eine innere Reichseinigung folgen? Und würde die deutsche Bevölkerung dem neuen Staat gegenüber loyal sein?

Probleme, die bei der Staatsgründung nicht gelöst wurden, konnten langfristige Folgen haben. Das hatte sich in den Vereinigten Staaten gezeigt. Dort war die Sklavenfrage in der Verfassung von 1787 ausgeklammert worden; sie kehrte im Bürgerkrieg zwischen 1861 und 1865 mit Gewalt zurück. In Italien rächte sich, dass der Piemontese Camillo Benso von Cavour sein einiges Italien 1861 über die Köpfe der Bewohner des Südens hinweg gezimmert hatte, anstatt sich ihrer Loyalität zu versichern. Eine dringend nötige Landreform unterblieb, verarmte Bauern und ehemalige Soldaten bekämpften daraufhin als Briganten in den Wäldern die Grundbesitzer und die neue Obrigkeit aus dem Norden. Der Süden wurde faktisch vom Norden besetzt.

Schon Zeitgenossen wiesen auf die Gemeinsamkeiten der Nationalstaatsgründungen in Italien und Deutschland hin. In beiden Fällen handelte es sich um eine Vereinigung vorher getrennter Staaten. Bismarck wurde mit Cavour, Preußen mit dem Königreich Sardinien-Piemont verglichen. Beide Staaten entstanden nach einem militärischen Sieg. Die politischen Ordnungen unterschieden sich jedoch: Während das Deutsche Reich ein monarchischer Bundesstaat war, wurde Italien zu einem aus der Hauptstadt straff geführten Zentralstaat.

Es hat sich heute durchgesetzt, von der deutschen Reichsgründung als einem Ereignis zu sprechen, das ein Vorher und ein Nachher kannte: Zuerst gab es kein Kaiserreich, 1871 existierte es. Prozessbegriffe wie "Einigung" beschreiben dagegen den Vorgang nicht nur für Deutschland, sondern auch für Italien besser. Tatsächlich steckte die innere Einigung voller Widersprüche, und sie vollzog sich allmählich, über einen längeren Zeitraum hinweg, von 1867 bis etwa 1890, wenn nicht darüber hinaus. Das neue Bürgerliche Gesetzbuch für alle Deutschen trat zum Beispiel erst am 1. Januar 1900 in Kraft. 1871 wurden lediglich die Weichen gestellt, die zur inneren Gründung des Reiches führen sollten.

Grundkonflikte der Reichseinigung

Mehrere Grundkonflikte waren zwischen 1867 und 1871 sichtbar geworden, die den Prozess der inneren Einigung prägten. Was war das Reich überhaupt, ein Bund der Fürsten oder eine auf Verfassung und Parlament gestützte Ordnung? Wie würde sich das große Preußen mit seinem Militarismus gegenüber dem Rest des Reiches verhalten? Konnte aus der Gemeinsamkeit im Krieg gegen einen äußeren Feind ein friedliches Miteinander entstehen? Die innere Einheit des Reiches gründete nicht auf Gleichheit, sondern allein auf der Loyalität der Bevölkerung, gerade auch der Unterlegenen von 1866 und der beigetretenen Süddeutschen. Nationale Einheit bedeutete also nicht Homogenität, sondern beruhte auf dem Entschluss, zusammenzubleiben und Konflikte untereinander zu regeln.

Alle Sieger des Reichseinigungskrieges gegen Frankreich erhielten ihre symbolische Anerkennung: In Bayern feierte man die Schlacht bei Weißenburg, in Sachsen die bei Gravelotte als eigenen Triumph und Beitrag zur Gründung. Diese Erfolge fanden ebenso Eingang in Schulbücher und Gedenkkalender wie der Sieg bei Sedan durch preußische Truppen. So wurde die Erzählung gestärkt, dass die Bundesstaaten und ihre Armeen, letztlich also die Fürsten, das Reich gegründet hatten. Entstanden war es nach dieser Lesart durch Verträge zwischen souveränen Staaten – wenn auch unter tatkräftiger Mithilfe Bismarcks, der beim Kaiserbrief die Feder führte und auch sonst mit Drohungen, Lockungen oder, wenn nichts mehr half, mit Geld den Vorgang beschleunigte, wie beim chronisch klammen Ludwig II. aus Bayern.

Im Landtag in München stellte sich allerdings die Patriotenpartei, die über die Mehrheit der Sitze verfügte, zuerst gegen eine von Preußen angeführte Reichseinigung. Unter den Abgeordneten entbrannte eine Diskussion: Würde Bayern seine Selbstständigkeit retten, indem es nicht beitrat – oder sicherte nur ein Beitritt sein Fortbestehen? Der bayerische Außenminister Otto Graf von Bray-Steinburg hatte schon am 30. März 1870 bekannt: "Wir wollen Deutsche, aber auch Bayern sein." Selbst bei jenen bayerischen Abgeordneten, die eingefleischte Preußenfeinde waren, regten sich langsam Zweifel am Separatismus. Die bayerische Patriotenpartei spaltete sich über diese Frage. Eine Gruppe um den Augsburger Verleger Max Huttler befürchtete, dass die linksrheinische Pfalz und auch Franken den Bayern verloren gehen und der Staat der Wittelsbacher zerbrechen könnte, wenn man nicht beitrat. Schon deswegen war eine Vereinigung richtig, lautete nun die Logik vieler Patrioten. Am 21. Januar 1871 erreichten die Vertreter dieser Richtung ganz knapp die nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament.

Das Argument der bayerischen Patrioten galt auch für andere Landesfürsten: Wollten sie ihre Stellung wahren, mussten sie einen monarchischen deutschen Bundesstaat unter preußischer Führung akzeptieren. Auch in den übrigen süddeutschen Staaten setzte sich diese Überzeugung durch: Die Selbstständigkeit ließ sich nicht mehr gegen den Norddeutschen Bund, sondern nur im Deutschen Reich sichern – durch Mitarbeit im Bundesrat und durch Parteien, welche die eigenen Interessen vertraten.

War es bei der Wiedervereinigung 1990 so viel anders? Auch den fünf ostdeutschen Ländern, die wie im Fall Sachsens zum Teil sehr viel älter waren als die westdeutschen, ging es darum, ihre Selbstständigkeit in einer föderalen Bundesrepublik zu wahren. Ähnliches wiederholte sich auf europäischer Ebene: Für viele Polen oder Ungarn zum Beispiel garantierte in den politischen und ökonomischen Stürmen nach 1990 nur der Beitritt zur Europäischen Union die Fortexistenz des eigenen Landes.

Staatspolitische Modernisierung

Staatspolitisch führte die Einigung von 1870/71 zu einer Modernisierung: Die norddeutsche Verfassung wurde umgebaut, den süddeutschen Staaten mehr Mitsprache gewährt. Das Kaiserreich war insgesamt föderaler als der Norddeutsche Bund, weil der Bundesrat das politische Entscheidungszentrum bildete und Preußen hier keine Mehrheit besaß. Eine Koalition der süddeutschen Staaten konnte jederzeit ihr Veto gegen Verfassungsänderungen einlegen. Das entschärfte die Spannungen zwischen dem politischen Machtzentrum Berlin und den neu hinzugekommenen Staaten. Im neuen monarchischen Bundesstaat musste Preußen verhandeln und andere Regierungen überzeugen.

Dieses Prinzip, das 1871 festgeschrieben wurde, spurte sogar noch das ausgedehnte föderale Verhandlungssystem der Bundesrepublik nach 1949 vor. Zwischen 1867 und 1871 entstand eine zentrale föderale Institution, die von erstaunlicher Dauer sein sollte: der Bundesrat, in dem die Stimmen bis heute nach Bevölkerungszahl gewichtet werden und der die Vertretung der Länderexekutiven ist, nicht der Landtage. Anders als der Reichs- und heute der Bundestag mit seinen Legislaturperioden war und ist der Bundesrat ein kontinuierliches Gremium.

Der Staatsrechtler Paul Laband beschrieb das Reich als Bundesstaat, bei dem die Souveränität beim Gesamtstaat lag, und grenzte es so vom Deutschen Bund als einem Staatenbund mit souveränen Einzelstaaten ab. Juristen diskutierten mit einer gewissen Obsession ebendiese Souveränität: Sie erörterten die "Kompetenzen setzende Kompetenzkompetenz" oder die "Bundestreue", die stets als Treue der Einzelstaaten gegenüber dem Reich verstanden wurde, nie umgekehrt.

Wenn von "innerer Einheit" die Rede war, meinte dies meist, dass andere deutsche Staaten nachahmten, was Preußen vormachte. Der stärkste Staat im Bund wirkte durch seine schiere Größe und die Erfahrung seiner Verwaltung unitarisierend. Der Föderalismus schloss den Unitarismus also gerade nicht aus, sondern schien ihn voranzutreiben. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war es die preußische Verwaltung, die Gesetzentwürfe für den Reichstag ausarbeitete, nicht der Bundesrat. Der württembergische Minister Hermann von Mittnacht meinte 1872 im Reichstag, "dass die Rechtsanschauungen und die Rechtsbildung eines Staates [Preußen] doch vorzugsweise bestimmt sind, nationales Recht zu werden". Wenn Preußen und Bayern übereinstimmten, war dies eine vorweggenommene Entscheidung. Preußens Einfluss reichte bis in die Organisation von Universitäten und Schulen, klassischen Domänen der Länder.

Dennoch bestand ein Dualismus zwischen Preußen und dem Reich: Gerade die Anhänger eines spezifischen preußischen Staatsbewusstseins blieben skeptisch bis ablehnend gegenüber Bismarcks Politik. Ihr Horrorszenario war, dass Preußen einmal in Deutschland aufgehen könnte. "Der Bismarck ruiniert noch den ganzen preußischen Staat", war unter Beamten zu hören. Am schärfsten kritisierten ostelbische Rittergutsbesitzer den Reichskanzler, denn dieser bedrohte mit der preußischen Kreisreform 1872 deren lokale Vormachtstellung, um sie gefügig zu machen. Die Zollgesetzgebung schuf von 1879 an die Basis für eine neue Zusammenarbeit zwischen der Reichsführung und den Konservativen in Industrie und Landwirtschaft. Sie wurde gern als Koalition von "Roggen und Eisen" oder "Rittergut und Hochofen" bezeichnet. Nach 1871 wuchsen die deutschen Staaten tatsächlich zusammen. Man war nicht mehr entweder Bayer oder Deutscher, sondern man war Deutscher, weil man Bayer war (und man war Bayer, weil man Nürnberger war). Heimat war nichts Exklusives mehr, sondern jeder Deutsche besaß seine Heimat und seinen Bundesstaat.

Integration durch Demokratie

Die zweite Erzählung der Einheit kreiste um Volk, Reichstag und Verfassung. Das Reich beruhte demnach auf der Souveränität des deutschen Volkes. Entsprechend bot der Reichstag, vertreten durch seinen Präsidenten Eduard Simson, Wilhelm I. die Kaiserkrone an. Simson hatte dies bereits 1849 bei Wilhelms Bruder Friedrich Wilhelm IV. versucht, ohne Erfolg. Diesmal nahm der König zwar an, jedoch nur, weil ihm auch die deutschen Fürsten die Krone angetragen hatten. Als offiziellen Reichsgründungsakt feierten die Deutschen jährlich die Proklamation durch die Fürsten und Könige am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles – darum hatten die Sozialdemokraten allen Grund für bissige Kritik: Das Kaiserreich sei ein Fürstenstaat, kein Volksstaat. Und dennoch, auch wenn sie in den Dezember- und Januartagen 1870/71 in der zweiten Reihe hatten stehen müssen, entfalteten Reichstag, Parteien und Wahlen eine integrative Kraft.

Der Reichstag vereinheitlichte Münzen, Maße und Gewichte, führte ein neues Handelsgesetzbuch ein und begann die Arbeit am Bürgerlichen Gesetzbuch. Jeder Deutsche konnte sich im Reich niederlassen, wo er wollte, Zuzugsbeschränkungen wurden aufgehoben. Für Unterstützung bei Krankheit und Verarmung war der Wohnort zuständig, nicht wie früher der Heimatort. Die Reichsjustizgesetze von 1877, insbesondere das Gerichtsverfassungsgesetz, garantierten Rechtsgleichheit für alle Deutschen, ein kaum zu überschätzendes Moment der Egalisierung. In dieselbe Richtung wirkten die Anfänge der Sozialgesetzgebung: die Krankenversicherung 1883, die Unfallversicherung 1884, die Alters- und Invaliditätsversicherung 1889 und die Rentenversicherung 1891.

Das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht war ebenfalls integrativ: Süddeutsche Gegner Preußens gingen ebenso zur Wahl wie bayerische Patrioten und großdeutsche Demokraten aus Württemberg. Ihre Vertreter setzten sich dann im Reichstag für ihre Belange ein. Auf der Hand liegt der Vergleich mit 1990, als die Nachfolgepartei der SED, die PDS, bei den gesamtdeutschen Bundestagswahlen antrat und in den Bundestag einzog. Die KPD hatte das 1919 nicht getan und damit signalisiert, dass sie ihren Widerspruch gegen die Weimarer Republik nicht im Reichstag, sondern gegen ihn erheben würde.

Im jungen Kaiserreich formierte sich ein mehr oder weniger einheitliches Parteiensystem, das die reichsweiten politisch-sozialen Spannungen im Parlament abbildete. Die Integrationswirkung des Reichstags ist ablesbar an der hohen Wahlbeteiligung, besonders in den neu zu Preußen gekommenen Gebieten, in Sachsen und in Süddeutschland: In Bayern etwa lag sie 1871 mit 60 Prozent deutlich über dem Reichsdurchschnitt von knapp 53 Prozent. Überall stieg die Wahlbeteiligung, was auch den ausgeprägten Konflikten im Reich geschuldet war. Der Kulturkampf gegen die katholische Kirche nach 1872 schuf Gemeinsamkeiten zwischen dem Passauer und dem ermländischen, dem Aachener und dem schlesischen Katholiken: Sie alle wehrten sich, indem sie die katholische Zentrumspartei wählten. 1874 erreichte diese fast 28 Prozent aller Stimmen, neun Prozentpunkte mehr als 1871. Sie errang 91 Mandate und wurde erneut zweitstärkste Fraktion nach den Nationalliberalen. Ähnlich wirkten sich die Sozialistengesetze von 1878 bis 1890 auf die Sozialdemokraten aus: 1912 bekamen sie fast 35 Prozent der Stimmen und bildeten mit 110 Abgeordneten die bei Weitem stärkste Fraktion im Reichstag.

Die Parteien aggregierten ähnlich gelagerte Interessen aus den verschiedenen Teilen des Reiches zu einem einheitlichen Programm. Das traf auf Liberalismus, Konservativismus, politischen Katholizismus wie auch den Sozialismus zu. Auch die nationalen Minderheiten – 2,5 Millionen Polen, 200.000 Dänen sowie 1,5 Millionen Elsässer und Lothringer – waren im Parlament vertreten. Der Reichstag wurde zur Arena innerdeutscher Konflikte, die nicht mehr auf der regionalen Ebene verblieben, sondern auf nationaler Ebene ausgehandelt werden konnten.

Die wachsende Bedeutung der Presse flankierte diesen Prozess: Die meisten Blätter rechneten sich jeweils einer politischen Richtung zu; die Weltanschauungsparteien versorgten ihre Anhänger mit eigenen Nachrichten, die deren Ansichten untermauerten. Die wachsende nationale Partizipation ging jedoch mit wachsender Ausgrenzung und Aggression einher. Bismarcks Bündnis mit den Konservativen durch die Schutzzollgesetze von 1879 leitete einen konservativen Umbau des Nationalstaates ein: Den Gegnern der Ideen von 1848 gelang es, die Deutungshoheit über alles Nationale zu gewinnen. Fast vergessen schienen die Ideale der Paulskirche. Es ist kein Zufall, dass ebenfalls 1879 Heinrich von Treitschke seine Hasstiraden gegen Juden abließ und sie als polnische Hosenverkäufer und grundsätzlich undeutsch diffamierte. Der Antisemitismus stieg zur politischen Kraft auf; immer mehr Deutsche sprachen ihren jüdischen Nachbarn ab, Deutsche zu sein.

Ambivalente Einheit

Die deutsche Nation wirkte als "Wertegemeinschaft" und "Machtmaschine" zugleich, wie der Historiker Dieter Langewiesche es formulierte: Machtmaschine war das Reich durch die Kraftentfaltung seiner Wirtschaft, mehr noch durch das Militär zu Lande, später durch die Flotte auch zu Wasser. Aus Kriegen war das Kaiserreich geboren, und der Krieg blieb ihm eingeschrieben. Die Befehlsgewalt über das Militär lag beim Kaiser, nicht beim Reichstag. Des Kaisers Regierung kontrollierte den Heeresetat und ließ sich auch vom Bewilligungsrecht des Reichstags nicht zügeln. Im Gegenteil: Wurde seine militärische Kontrollgewalt auch nur entfernt infrage gestellt, suchte der Oberbefehlshaber den Konflikt mit dem Parlament.

Als der Reichstag 1887 Bismarcks Pläne für einen siebenjährigen Wehretat ablehnte, löste der Kanzler ihn auf und schrieb Neuwahlen aus. "Parlamentsheer" oder "kaiserliches Heer" lauteten nun die Wahlparolen von Sozialdemokraten und Linksliberalen auf der einen Seite sowie Konservativen und Nationalen, bekannt als Kartellparteien, auf der anderen. Das "kaiserliche Heer" errang einen deutlichen Sieg. Und an den Rockschößen des Bismarck-Kartells zog der erste offene Antisemit in den Reichstag ein, der "hessische Bauernkönig" Otto Böckel. Die aggressive Machtentfaltung der kaiserlichen Obrigkeit traf im Inneren die Sozialdemokraten und alle Linken, auch die Katholiken, doch vor allem die Juden.

Eine Machtmaschine war das Reich aber auch nach außen. Der anfangs gebremste, dann sehr offene Wunsch nach Kolonien und einer Flotte mündete in eine imperiale Außenpolitik. Bezeichnenderweise war die neue Flotte die einzige Waffengattung, die dem Reich unterstand, nicht den Ländern. Als 1913 ein neues Staatsbürgerschaftsrecht erlassen werden sollte, entbrannte ein Streit darum, ob die Ausbreitung des Deutschtums oder die Ableistung der Wehrpflicht im Reich der leitende Gesichtspunkt dafür sein sollte, wer deutscher Staatsbürger war. Das Auswärtige Amt und das preußische Kriegsministerium hielten Distanz zur ethnischen Definition eines Deutschen, was Deutschtum zu einem unverlierbaren Merkmal machte. Sie koppelten die Volksgemeinschaft an den staatlich abzuleistenden Wehrdienst, die Wehrgemeinschaft. Bei der Flotte folgte man dagegen dem Grundsatz: einmal Deutscher, immer Deutscher. Die Haltung des Militärs in dieser Frage zeigte die ganze Ambivalenz von deutscher Einheit und deutscher Machtmaschine.

Dieser Text ist eine um Literaturverweise erweiterte, leicht veränderte Fassung desselben Beitrags in: ZEIT Geschichte 4/2020. Alle Rechte verbleiben beim ZEIT Verlag.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Franz J. Bauer, Nation und Moderne im geeinten Italien (1861–1915), in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 1/1995, S. 16–31.

  2. Vgl. Daniel Ziblatt, Structuring the State: The Formation of Italy and Germany and the Puzzle of Federalism, Princeton 2006; Lucy Riall, Risorgimento: The History of Italy from Napoleon to Nation State, New York 2009; Francesco Traniello/Gianni Sofri (Hrsg.), Der lange Weg zur Nation: Das italienische Risorgimento, Stuttgart 2012.

  3. Vgl. Hans-Michael Körner, Staat und Geschichte in Bayern im 19. Jahrhundert, München 1992; Siegfried Weichlein, Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich, Düsseldorf 20062.

  4. Michael Doeberl, Bayern und die Bismarckische Reichsgründung, München–Berlin 1925, S. 88.

  5. Vgl. Dirk Götschmann, Der Funktionswandel des Föderalismus im Kaiserreich am Beispiel Bayerns, in: Gerold Ambrosius/Christian Henrich-Franke/Cornelius Neutsch (Hrsg.), Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive, Bd. 6: Integrieren durch Regieren, Baden-Baden 2018, S. 243–260.

  6. Vgl. Alan Steele Milward, The European Rescue of the Nation-State, London 1992.

  7. Vgl. Gerhard Lehmbruch, Der Entwicklungspfad des deutschen Bundesstaats – Weichenstellungen und Krisen, in: Gerold Ambrosius/Christian Henrich-Franke (Hrsg.), Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive, Bd. 2: Föderale Systeme: Kaiserreich – Donaumonarchie – Europäische Union, Baden-Baden 2015, S. 327–370.

  8. Vgl. Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871–1918), Frankfurt/M. 1997.

  9. So schon Arnold Brecht, Föderalismus, Regionalismus und die Teilung Preussens, Bonn 1949.

  10. Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat. Regelsysteme und Spannungslagen im Institutionengefüge der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 1998, S. 63.

  11. Vgl. Hans-Peter Goldberg, Bismarck und seine Gegner: Die politische Rhetorik im kaiserlichen Reichstag, Düsseldorf 1998.

  12. Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen Bund: 1867–1870, Düsseldorf 1985, S. 433ff.

  13. Vgl. Wolfgang Hardtwig, Nation – Region – Stadt. Strukturmerkmale des deutschen Nationalismus und lokale Denkmalskulturen, in: Gunther Mai (Hrsg.), Das Kyffhäuser-Denkmal 1896–1996. Ein nationales Monument im europäischen Kontext, Köln 1997, S. 54–84.

  14. Vgl. Andreas Biefang, Die andere Seite der Macht: Reichstag und Öffentlichkeit im "System Bismarck" 1871–1890, Düsseldorf 2009.

  15. Vgl. Michael Stolleis, "Innere Reichsgründung" durch Rechtsvereinheitlichung 1866–1880, in: Christian Starck (Hrsg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze. Bedingungen, Ziele, Methoden, Göttingen 1992, S. 15–41.

  16. Vgl. Helmut Dubiel, Integration durch Konflikt, in: Soziale Integration 39/1999, S. 132–143. Das Argument geht schon zurück auf Georg Simmel, Der Streit (1908), in: ders./Otthein Rammstedt (Hrsg.), Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt/M. 1992, S. 284–382.

  17. Vgl. Dieter Langewiesche, Was heißt "Erfindung der Nation"? Nationalgeschichte als Artefakt – oder Geschichtsdeutung als Machtkampf, in: Historische Zeitschrift 277/2003, S. 593–617.

  18. Vgl. Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001, S. 310–327.

ist Professor für Zeitgeschichte an der Université de Fribourg, Schweiz. E-Mail Link: siegfried.weichlein@unifr.ch