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Das schrecklich schöne Jahr 1989 | bpb.de

Das schrecklich schöne Jahr 1989

Rimantas Kmita

/ 4 Minuten zu lesen

Die Menschen sangen. Auf Plätzen, in Stadien, auf dem Baltischen Weg, auf Rockmärschen und auch in den Kirchen, die sie zurückerhalten hatten und wo sie Gott um seinen Segen baten. Singende Menschen sind unbewaffnet, aber voller Mut...

1989 war ein schönes Jahr.

Die Menschen sangen. Auf Plätzen, in Stadien, auf dem Baltischen Weg, auf Rockmärschen und auch in den Kirchen, die sie zurückerhalten hatten und wo sie Gott um seinen Segen baten. Singende Menschen sind unbewaffnet, aber voller Mut. Singende Menschen wechseln in eine andere Dimension und werden zu so etwas wie Berserkern. Sie vergessen sich und kämpfen auf der Seite des Guten.

Außer Liedern erklangen auch Gedichte sowie öffentliche Bezeugungen von Schmerz, Verlust, Traumata und historischer Wahrheit. Zuvor hatte man die Geschichte mit Angst in Verbindung gebracht und nur leise, im Privaten angesprochen. Ein Konsens, mit dem die Obrigkeit, nicht aber die Bevölkerung zufrieden gewesen war. 1989 fanden sich die Menschen zu einem gewaltigen Ritual des Artikulierens von Wahrheit und Erinnerung zusammen. Menschen, die einander nicht kannten, spürten, wie viel sie verband und wie stark sie waren, sie spürten, dass sie eine Rolle spielten, und das Ritual kam so in Fahrt, dass niemand es mehr stoppen konnte. Die Wahrheit verband die Menschen. 1989 wussten alle, was gut war und was böse. Niemand wollte die Besonnenen mehr hören, die nicht von Unabhängigkeit, sondern von Souveränität, nicht von Freiheit, sondern von Autonomie sprachen. Niemand hatte mehr Verwendung für halbe Freiheit und halbe Wahrheit. Die Menschen kannten die Wahrheit, bezeugten sie und waren unbesiegbar, unsterblich.

1989 war ein schreckliches Jahr.

Aus dem Afghanistan-Krieg, den niemand einordnen konnte, kehrten die Soldaten heim. In Zinksärgen oder traumatisiert – physisch und/oder psychisch. Der sinnlose Krieg und seine Opfer interessierten hier kaum jemanden. Die Menschen kümmerte nur, dass man die jungen Männer nicht mehr zum Dienst in der ruhmreichen Armee einzog. Kaum jemand wollte die Rückkehrer verstehen. Und auch sie begriffen nichts, denn sie kehrten in ein Land zurück, das sich seit ihrer Einberufung völlig verändert hatte. Flaggen und Demonstrationen, die niemand mit Gewalt auflöst, klangvolle Reden von Freiheit und Unabhängigkeit.

1989 war ein naives Jahr.

Ich trug zwei Sticker am Revers – auf dem einen stand Sąjūdis, der Name der litauischen Unabhängigkeitsbewegung, auf dem anderen Perestroika. Meine Oma, deren Kinder alle in Sibirien geboren wurden, hatte mir noch kaum etwas erzählt. Viele fürchteten sich und sprachen nicht aus, was sie erlebt hatten, denn sie erinnerten sich an zu Vieles.

1989 kehrte die Politik nach Litauen zurück. Die Menschen wählten und die Resultate zeugten davon, dass die Wahlen nicht gefälscht wurden. Zum Kongress der Volksdeputierten der Sowjetunion fuhren Abgeordnete nach Moskau, die nach Freiheit strebten. Im Jahr darauf wählten die Menschen den Obersten Sowjet Litauens, der die Wiederherstellung der Unabhängigkeit erklärte. Schon zuvor hatten sich der Komponisten- und der Schriftstellerverband und sogar die Kommunistische Partei von den gesamtsowjetischen Organisationen abgespalten.

1989 erschienen erste Auszüge aus George Orwells Dystopie "1984" auf Litauisch.

1989 war ein schrecklich schönes Jahr.

Die meisten waren 1989 wohl frei. Denn Unfreie vermochten die Freiheit nicht zu erkämpfen.

Schrecklich schöne Jahre waren auch 1990, 1991, in denen die Wahrheitsrituale mit Blut besiegelt wurden.

Später aber erschraken die Menschen vor ihrem Mut. Die Freiheit ist eine schöne Abstraktion, solange man dafür kämpft und sich im Zustand berserkerhafter Trance befindet, in der Wirklichkeit aber zahlt man dafür einen hohen Preis. Nach dem Verlassen der rituellen Dimension begannen die Menschen die Wirklichkeit mit der Trance zu vergleichen. Und kamen zum Schluss, die Wirklichkeit entspreche nicht der in der Trance gesehenen. Die Kommunisten kehrten unter anderem Namen an die Macht zurück und schlugen einen Mittelweg ein. Der berserkerhafte Furor verpuffte, die Menschen fühlten sich ausgelaugt, ermattet, hungrig und schwach, von den Alltagssorgen erdrückt. Erneut hatten sie Angst. Zankereien und Vorwürfe traten an die Stelle der Lieder. Mit einem Mal konnte man sich nicht mehr einigen, was die Wahrheit betraf. Jetzt streiten wir über Themen, die damals kaum Zwist hervorriefen, und sind aufeinander wütend. Hat die Wahrheit Grenzen? Oder kümmerten wir uns vielleicht damals nicht um Details? Aber vielleicht sind das ja gar keine Details, sondern wichtige Nuancen.

Seit 30 Jahren erinnern wir uns nun an diese rituelle Euphorie und haben nichts, womit wir sie vergleichen könnten, und nichts Stärkeres erlebt. Wir quälen uns, weil wir nicht mehr so sind wie damals und, falls wir es müssten, heute wahrscheinlich nicht mehr so entschieden handeln könnten. Ein beträchtlicher Teil der Menschen, die damals sangen und die Menschen zum Ritual sammelten, leben heute im Ausland. Nicht wenige zweifeln an der Freiheit, denn sie können trotzdem nicht reisen und haben nicht das Bedürfnis frei und ungezwungen zu sprechen.

Offenbar brauchen wir im dritten Jahrzehnt der Unabhängigkeit mehr denn je einen Helden. Obwohl es auch 1980 und 1990 keinen mythischen Helden gab, der alles veränderte. Helden waren alle, die keine Angst hatten und sangen.

ist Lyriker, Literaturkritiker, Schriftsteller und arbeitet beim litauischen Nationalradio (LRT).