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Globale Gesundheitspolitik zwischen Anspruch und Widersprüchlichkeiten | Weltgesundheit | bpb.de

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Globale Gesundheitspolitik zwischen Anspruch und Widersprüchlichkeiten

Elena Sondermann

/ 17 Minuten zu lesen

Die aktuelle Corona-Pandemie und die damit verbundenen internationalen Abstimmungsprozesse halten der globalen Gesundheitspolitik den Spiegel vor und zeigen ihre Schwächen auf: Die globale Gesundheitsarchitektur ist geprägt von Fragmentierung und Ungleichheiten. Fragmentierung herrscht auf der institutionellen Ebene ebenso wie mit Blick auf Ziele und Grundsätze, die die politischen Entscheidungs- und Umsetzungsprozesse von global health anleiten beziehungsweise normativ prägen sollten. Diese Konflikte existieren seit Beginn der internationalen Gesundheitszusammenarbeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In der heutigen Zeit, in der zwar die meisten Krankheiten technisch bekämpfbar sind und "Gesundheit für alle" machbar erscheint, weiterhin aber große Gefälle im Zugang zu Gesundheitssystemen und auseinanderdriftende Gesundheitssituationen vorherrschen, sind sie jedoch mehr denn je Ausdruck von struktureller Ungleichheit.

Globale Gesundheit als Anspruch

Häufig wird bei der Verwendung des Begriffs "globale Gesundheit" auf die Gesundheit armer Bevölkerungsgruppen oder die Gesundheitssituation in Ländern des Globalen Südens fokussiert, mitunter steht auch die Einhegung übertragbarer Krankheiten im Rahmen wirtschaftsverträglicher Maßnahmen im Mittelpunkt. Diese Anliegen waren bereits Hauptaufgaben kolonialer Gesundheitspolitik und im 20. Jahrhundert konstituierend für die Herausbildung internationaler Gesundheitskooperation sowie eines der Gründungsanliegen für die Schaffung der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Globale Gesundheit ist heute verbunden mit einer veränderten Wahrnehmung von Interdependenz in zweierlei Hinsicht.

Erstens sind die Gesundheitssituationen einzelner Teile der Weltbevölkerung unmittelbar und nicht auflösbar verbunden mit der von räumlich und sozial getrennten Bevölkerungsgruppen. War in den 1980er und 1990er Jahren noch der Glaube an den technisch-medizinischen Fortschritt in Industrieländern so gefestigt, dass man glaubte, Seuchen besiegt zu haben, erwies sich dies mit Blick auf die HIV/Aids-Pandemie und zum neuen Jahrtausend unter anderem SARS und die Vogelgrippe als Trugschluss. Die sich im Zuge der Globalisierung beschleunigende Mobilität von Personen und Gütern intensivierte in Industrieländern die Wahrnehmung von Verwundbarkeit durch Infektionskrankheiten. Gleichzeitig glichen sich Lebensweisen an und führten zu einer stärkeren Belastung durch nicht übertragbare chronische Krankheiten wie Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Schwellen- beziehungsweise Entwicklungsländern mittleren Einkommens.

Zweitens wird Gesundheit stärker als früher als das Produkt sozialer, wirtschaftlicher, politischer und ökologischer Faktoren wahrgenommen. Gesundheit wird mehr denn je als Ausdruck sozialer Determinanten gesehen, wie Lebensweise (Ernährung, Bewegung, Arbeitsrealitäten) und gesellschaftspolitische Bedingungen (Bildung, Gesundheitsversorgung, Migrations- und Geschlechterpolitik, Armutsbekämpfung). Diese hängen ab von Entscheidungen in anderen Lebensbereichen sowie von politischen Maßnahmen beziehungsweise Entwicklungen außerhalb des Gesundheitssektors. Antibiotikaresistenz bei Menschen lässt sich auf Tiermassenhaltung und Fleischproduktion zurückführen, die Ausbreitung etwa von Malariagebieten auf den globalen Temperaturanstieg infolge des Klimawandels. Vor allem das internationale Handelsregime hat massive Auswirkungen auf Gesundheit. So sind (fehlende) Vorgaben für Zuckeranteile zum Beispiel bei Softdrinks, Produktplatzierungen von Süßigkeiten in Supermärkten und Werbeverbote für Alkohol und Tabak immer wieder mit Blick auf ihre Kosten für Gesundheit und Gesundheitssysteme in der Diskussion. Insbesondere die Auswirkungen der handelsbezogenen Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum (Agreement on Trade-related Aspects of Intellectual Property Rights, TRIPS) sorgen immer wieder für Konflikte, seit Anfang der 2000er Jahre antiretrovirale Therapien für die Behandlung von HIV/Aids verfügbar wurden, für Entwicklungsländer allerdings unerschwinglich blieben.

Aus diesen einleitenden Überlegungen ergibt sich globale Gesundheit als Anspruch und Auftrag in dreierlei Hinsicht.

Gesundheit für alle

Im Kern wohnt global health der normative Anspruch inne, Gesundheit für die gesamte Weltbevölkerung umzusetzen, unabhängig vom Ort der Geburt, der sozialen oder nationalen Zugehörigkeit oder des politischen und wirtschaftlichen Status quo. Dementsprechend sollte Politik die Menschen ermächtigen, verhaltensabhängige und umweltbedingte Krankheitsursachen zu verringern und eine gesunde Lebensführung umzusetzen. Mit dem Slogan "leave no one behind" wurde außerdem das Ziel, Ungleichheiten zu verringern, in den Mittelpunkt der globalen Nachhaltigkeitsagenda 2030 gestellt. Dies bleibt eine große Herausforderung. Denn auch wenn sie überall steigt, liegt zwischen der Lebenserwartung beispielsweise in Japan und der Zentralafrikanischen Republik mit 85 beziehungsweise 53 Jahren eine riesige Spanne. In Afrika bleibt Kindersterblichkeit ein großes Problem, hier ist die Sterblichkeitsrate achtmal höher als in Europa. Ebenso wie Müttersterblichkeit sind diese Todesfälle zum großen Teil verhinderbar und reflektieren dramatische Ungleichheiten im Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen, wie der Behandlung durch Hebammen und Ärzt*innen.

Viele Gesundheitssysteme in Schwellen- und Entwicklungsländern haben zudem infolge des epidemiologischen Wandels seit mehr als zwei Jahrzehnten mit der doppelten Krankheitslast zu kämpfen: Nicht mehr nur Infektionskrankheiten oder armutsbedingte Krankheiten, sondern auch die sogenannten Zivilisationskrankheiten, die als Folge veränderter Arbeits- und Lebensweisen auftreten, belasten die Bevölkerung. Weltweit verursachen nicht übertragbare Krankheiten mehr als zwei Drittel der globalen Todesfälle, darunter vor allem Herzinfarkte, Schlaganfälle, chronische Lungenerkrankungen und Krebs. Die in den Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) formulierte Forderung nach allgemeiner Gesundheitsversorgung (Universal Health Coverage) zielt auf horizontale Maßnahmen, um Gesundheitssysteme zu stärken und gegen finanzielle Risiken abzusichern, die ansonsten mit Gesundheitsdienstleistungen verbunden sind. Dahinter verbirgt sich das massive Problem, dass ein Großteil der Weltbevölkerung keinen gesicherten Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen hat und die Zahl der Menschen, die einen großen Teil ihres monatlichen Einkommens für sogenannte Out-of-pocket-Gesundheitszahlungen verwenden müssen, weiterhin steigt. Mit ihrem aktuellen Arbeitsprogramm hat es die WHO bis 2023 zur Priorität erhoben, eine allgemeine Gesundheitsversorgung zu schaffen – "zusätzlich eine Milliarde Menschen profitieren von allgemeiner Gesundheitsversorgung" – und ein gesundes Leben neben dem Schutz vor Gesundheitsnotfällen zu fördern.

Kohärenz

In einem menschenrechtsbasierten Verständnis von "Gesundheit für alle" tragen Staaten die Hauptverantwortung für die Durchsetzung eines menschenwürdigen und gesunden Lebens der Einzelnen. Dafür müssten Entscheidungen in anderen Politikbereichen wie etwa in der Handelspolitik diesem Ziel untergeordnet und Instrumente entwickelt werden, um auch andere (private) Akteure darauf zu verpflichten. Doch meist wird Gesundheit nicht als oberster Wert, sondern als Mittel für andere Zwecke bearbeitet – ob als Voraussetzung für gesellschaftliche oder wirtschaftliche Entwicklung oder für Stabilität und Sicherheit.

Als Plädoyer für global health als bereichsübergreifende Aufgabe können die SDGs gesehen werden. Auf Kohärenz zielt auch der "One Health"-Ansatz, allerdings nicht zwischen verschiedenen Sektoren, sondern zwischen der Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt. Pandemien wie Covid-19, Ebola, Cholera oder SARS sind auf die Übertragung durch Wildtiere zurückzuführen, und rund drei Viertel neu auftretender Krankheiten haben ihren Ursprung im Tierreich. Die Zerstörung von Ökosystemen wiederum gefährdet Lebensräume und bringt den Menschen in engeren Kontakt mit Wildtieren. "One Health" betont vor diesem Hintergrund die notwendige Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Bereichen und die in den SDGs angelegte Überwindung des sektorspezifischen Handelns.

Demokratische und effiziente Steuerung

Da globale Gesundheitspolitik unmittelbar auf die Lebenssituation der Weltbevölkerung zielt, sollte sie sowohl transparent und nachvollziehbar als auch offen für eine möglichst breite Beteiligung einer Vielzahl an Akteuren sein. Wenn sie dem Ziel "Gesundheit für alle" über Politikbereiche hinweg dienen soll, muss sie effizient gestaltet werden. In diesem Sinne sind Institutionen gefragt, die politisch legitimiert und akzeptiert sowie finanziell und personell in der Lage sind, dieses Mandat auszuüben. Dies ist im Gesundheitsbereich eine große Herausforderung.

Fragmentierte Gesundheitspolitik

Globale Gesundheitspolitik ist geprägt von einem Neben- beziehungsweise Durcheinander von Institutionen, Regelwerken und Governance-Formen. Neue Steuerungsinstrumente und Politikgestaltungsformate haben alte Kooperationsformen nicht abgelöst – vielmehr sind sie hinzugekommen und haben teils parallele, teils miteinander verwobene Strukturen etabliert. Während nicht staatliche Akteure zunächst neben und mit diesem vormals nationalstaatlich geprägten internationalen Gesundheitsgefüge agierten, wurden sie seit den 1990er Jahren verstärkt über neue Kooperationsformate eingebunden. Globale Public Private Partnerships (GPPP) wurden von verschiedenen UN-Organisationen unter Generalsekretär Kofi Annan und seinem Nachfolger Ban Ki-moon aktiv gefördert.

Nicht zufällig begann dies in einer Zeit der massiven Kritik an den vermeintlich aufgebläht-bürokratischen und ineffizienten UN-Institutionen, an Entwicklungspolitik generell und an der als undemokratisch wahrgenommenen Politikgestaltung auf transnationaler Ebene. Die Einbindung nicht staatlicher Akteure versprach eine Relegitimierung in vielerlei Hinsicht: mehr finanzielle Mittel und Effizienz als Folge des unternehmerischen und technischen Wissens privater Akteure einerseits sowie demokratische Legitimation über die Einbindung der Zivilgesellschaft in Politikprozesse andererseits.

Mehr Akteure, neue Strukturen

Die Entstehungsgeschichte des Global Fund to Fight Aids, Tuberculosis and Malaria (GFATM) und der Impfallianz Gavi verdeutlichen den Zeitgeist von Gesundheitspolitik zu Beginn des neuen Jahrtausends sowie fortbestehende Herausforderungen, die mit der Ausweitung von GPPPs und der Einbindung privater Akteure einhergehen. Angetrieben vom Erfolg weltweiter Impfkampagnen zur Ausrottung von Pocken und Polio, im Einklang mit dem internationalen UN-Zielkatalog der Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) und nicht zuletzt aus eigenen Sicherheitsinteressen setzten sich einige mächtige Industrieländer dafür ein, mehr finanzielle Mittel für die Bekämpfung nicht nur von HIV/Aids, sondern auch von einigen anderen in Entwicklungsländern weit verbreiteten Infektionskrankheiten bereitzustellen. Explizit sollte ein globaler Fonds aber nicht unter dem Dach der Vereinten Nationen, sondern als globale Partnerschaft angelegt werden, um eine vermeintlich effektivere Verwendung der Mittel und eine zügigere Umsetzung zu sichern. Beide Partnerschaften zielen auf die ärmsten und am stärksten betroffenen Länder der Welt, und ihr Erfolg scheint dem Ansatz Recht zu geben.

Die Bill und Melinda Gates Stiftung war maßgeblich an der Anschubfinanzierung dieser beiden neuen Governance-Formate beteiligt. Die thematische und institutionelle Ausrichtung entspricht dem Anliegen der Stiftung und vieler anderer privater Akteure und GPPPs, sich auf enger definierte Probleme beziehungsweise einzelne Krankheiten zu konzentrieren und gezielte technologische Lösungen zu entwickeln, etwa in Form von Impfstoffen, und somit zügig messbare Ergebnisse zu erhalten. Mehr als hundert globale Gesundheitsinitiativen sind seit dem Jahr 2000 im Gesundheitssektor entstanden, viele explizit mit dem Ziel, den Fortschritt hinsichtlich der Gesundheits-MDGs voranzutreiben. "Horizontale" Maßnahmen, die auf eine langfristige Stärkung der Gesundheitssysteme hinarbeiten und somit der Resilienz von Gesellschaften und weniger der Bekämpfung einzelner Krankheiten dienen, rückten demgegenüber in den Hintergrund.

In der Akteursvielfalt liegt zwar auch eine Chance mit Blick auf Ressourcen, unterschiedliche Wissensformen, Kooperationsmöglichkeiten und Teilhabe heterogener und zivilgesellschaftlicher Gruppen. Letztere sind entscheidend für die Umsetzung von Gesundheitsprogrammen in den Ländern, haben aber kaum Zugang zu den Entscheidungsprozessen. Vor diesem Hintergrund rücken die Nachteile der Akteursfragmentierung in den Mittelpunkt: Fehlende Absprache zwischen Gebern sowie die mangelnde Einordnung der Strategien von externen Akteuren und Geldgebern mit Blick auf Vorgaben von lokalen Organisationen sind eine enorme Belastung. Ein Großteil der globalen Gesundheitsprogramme wird in Ländern mittleren oder geringen Einkommens umgesetzt, wo dies angesichts knapper personeller und finanzieller Ressourcen ein bedeutendes Problem für die dortigen Institutionen darstellt.

Bessere Koordinierung?

Bemühungen um bessere Koordination gibt es seit vielen Jahrzehnten auf unterschiedlichen Ebenen. In den Mittelpunkt rückte Koordinierung über die Aid-Effectiveness-Agenda und die Erklärungen von Paris, Accra und Busan in den Jahren 2005 bis 2011, die in die Schaffung der Global Partnership for Effective Development Cooperation mündeten.

Die Schlagwörter und Normen der Paris-Agenda finden sich heute noch in zahlreichen Erklärungen und Maßnahmen. 2019 wurde der Global Action Plan for Healthy Lives and Wellbeing for All als Partnerschaft auf höchster Ebene von der UN-Generalversammlung verabschiedet, in der es darum geht, die Aktivitäten von zwölf großen Organisationen in der globalen Gesundheitspolitik abzustimmen und zu straffen, darunter die Impfallianz Gavi, der GFATM, das UN-Entwicklungsprogramm, die Weltbank und die WHO. Die vier Hauptanliegen sind engage, accelerate, align, account und ähneln sehr den Zusagen der Paris-Agenda. Erste Zwischenergebnisse scheinen auch deren Schwächen aufzuzeigen: Abstimmung zwischen Gebern in Form eines Austauschs findet statt, tiefere Koordinierung, die an die Rolle und Verantwortlichkeiten der einzelnen Akteure rühren würde oder ein weitergehendes Ausbuchstabieren der Teilhabe nicht staatlicher Akteure und der Rechenschaftspflicht umfassen würde, jedoch kaum.

Dies ist nicht verwunderlich: Bei allen Unterschieden zwischen Akteuren ist ihnen das Anliegen gemein, die jeweils eigene Sichtbarkeit und den Einfluss zu halten oder zu mehren. Hinzu kommen ganz unterschiedliche Ziele, die Akteure mit ihrem Engagement in der globalen Gesundheitspolitik verbinden. Auch wenn "man" sich auf Zielkataloge wie die MDGs und SDGs auf internationaler Ebene geeinigt hat, so stehen diese neben oder sogar in Konkurrenz zu Interessen der einzelnen Akteure.

Fehlende Steuerung

Damit zerfällt das Bild der Gesundheitsarchitektur, das ohnehin schon die Begrifflichkeit des einheitlich anmutenden globalen Gesundheitssystems abgelöst hat, und wird durch Assoziationen von Netzwerk-Governance, Nodal Governance oder Open-Source-Anarchie ersetzt. Darin drückt sich ein weiteres Hauptmerkmal der Fragmentierung und wichtiges Hindernis für bessere Koordinierung im globalen Gesundheitsbereich aus: Es fehlt an einer starken zentralen Steuerungsinstanz. Die WHO, der diese Rolle qua Mandat und institutionellem Aufbau eigentlich zugedacht ist, steht in ihrer Steuerungsfähigkeit immer wieder in der Kritik, zuletzt in ihrer Reaktion auf die Schweinegrippe-Pandemie 2009/10 und den Ebola-Ausbruch 2014/15 in Westafrika. Der relative Bedeutungsverlust, den sie über den Aufstieg anderer Akteure erleidet, wird über solche Glaubwürdigkeitskrisen, aber auch durch ihre chronische Unterfinanzierung und die damit verknüpften Einschränkungen ihres Handlungsspielraums noch verstärkt.

Eigentlich sollten die festen, am jeweiligen Wohlstand und der Bevölkerungszahl orientierten Pflichtbeiträge der Mitgliedsstaaten die WHO finanzieren. Seit 1993 ist die Höhe der Beiträge allerdings eingefroren und sinkt somit im Vergleich zur steigenden Wirtschaftsleistung und Preisentwicklung real. Darüber hinaus bleiben Staaten seit Jahren regelmäßig hinter ihren Verpflichtungen zurück, sodass sich die WHO in einem kontinuierlichen finanziellen Engpass befindet. Dementsprechend sind die freiwilligen Beitragszahlungen immer wichtiger geworden und machen mittlerweile mehr als 75 Prozent des Gesamthaushalts aus. Ein Großteil davon ist zweckgebunden und fließt damit in spezielle, vorher festgelegte Tätigkeitsbereiche der Organisation.

Das Budget, das nicht einmal einem Drittel der Gesundheitsausgaben des deutschen Bundeshaushalts entspricht, ist angesichts des Umfangs ihrer Aufgaben verschwindend gering: Für jede*n Einzelne*n der 7,8 Milliarden Menschen stehen der WHO knapp 50 Cent zur Verfügung, mit denen sie die Bekämpfung von Erkrankungen unterstützen, der Aufgabe eines weltweiten Gesundheitswarndienstes und Krisenmanagements nachkommen und medizinische Forschung, Standard- und Normsetzung sowie die Förderung der allgemeinen Gesundheit der Menschen weltweit vorantreiben soll.

Die freiwilligen Beiträge kommen im Unterschied zu den Pflichtzahlungen sowohl von Mitgliedsstaaten als auch von nicht staatlichen Organisationen. Seit einigen Jahren zählen dazu nicht mehr nur Non-Profit-Organisationen, sondern auch Unternehmen. Die WHO ist also zunehmend abhängig von den nicht verbindlich planbaren Präferenzen einzelner Regierungen oder Organisationen, die über die Zweckgebundenheit der Mittel auch die strategische und programmatische Ausrichtung der Arbeit bestimmen können.

Mit dem Amtsantritt des gegenwärtigen WHO-Generaldirektors Tedros Adhanom Ghebreyesus setzte 2017 ein Reformprozess ein, der die Koordinierungsfunktion innerhalb des UN-Systems sowie über verschiedene Strukturebenen hinweg stärken soll. Fortschritte sind weder mit Blick auf die fehlenden Beiträge der Mitglieder noch mit Blick auf eine übergeordnete Koordinationsstruktur erzielt worden. Vielmehr ist die Zukunft der UN-Sonderorganisation angesichts des angekündigten Rückzugs der USA ungewiss. US-Präsident Donald Trump begründete den Schritt nicht nur mit Verweis auf verspätetes WHO-Handeln in der Corona-Pandemie, sondern auch mit dem übermäßigen und schädlichen Einfluss Chinas. Auch wenn man diese Einschätzung nicht teilt, so erneuert sie die Fragen nach Transparenz von Entscheidungsprozessen und nach der demokratischen Kontrolle ungleichen Einflusses.

Ungleicher Einfluss

Die Gates-Stiftung ist zwar bei Weitem nicht das einzige, dafür aber das prominenteste Beispiel für den Bedeutungszuwachs transnationaler und in diesem Fall privater Akteure in der globalen Gesundheitspolitik. Ihr Einfluss stützt sich auf unterschiedliche Ressourcen und Kanäle. Das ist wiederum exemplarisch für die Veränderung des Politikfeldes, das von einem unübersichtlichen Mix unterschiedlicher Governance-Formen und Netzwerke gestaltet wird. Die Gates-Stiftung ist nun der größte Finanzier der WHO, an vielen Gesundheitspartnerschaften und -initiativen beteiligt und massiv in der Förderung von Gesundheitsforschung engagiert. Sie hat privilegierten Zugang zu politischen Austauschformaten, wie der "H8", einer informellen Gruppe von führenden globalen Gesundheitsorganisationen. So kann die Gates-Stiftung auf die globale Gesundheitsagenda Einfluss nehmen und Schwerpunkte gestalten. Kombiniert mit ihrem finanziellen Schwergewicht, lässt sich ihr Einfluss zwar kaum genau beziffern, aber auch nur schwer überschätzen.

Mangelnde verbindliche Möglichkeiten, die Aktivitäten nachzuvollziehen, Akteuren zuzuordnen und so zu überprüfen und zu bewerten, sind ein klassisches Problem inter- und transnationaler Politikgestaltung. Gleiches gilt für unzureichende Partizipationsmöglichkeiten für NGOs, Kommunen und soziale Bewegungen bei internationalen Aushandlungsprozessen. Auch an internationalen Organisationen wird in dieser Hinsicht deutliche Kritik geübt und grundlegender Reformbedarf gesehen. So sahen NGO-Vertreter*innen ihre Rolle bei der Weltgesundheitsversammlung im Mai 2020 und bei der Sitzung des WHO-Exekutivrats im Oktober auf eine reine "Alibifunktion" reduziert.

Zwar ist es vielversprechend, dass zivilgesellschaftliche Akteure in den vergangenen Jahren verstärkt auf Governance-Themen verweisen und für mehr Demokratisierung und bessere Einbindung werben. So setzen sie der Privatisierung und Informalisierung eine Gegenstimme entgegen und machen immer wieder auf ungleichen Einfluss und die vielfältigen und zum Teil gegensätzlichen Interessen der beteiligten Akteure aufmerksam. Bei hybriden und informellen Governance-Formen, wie GPPPs und der H8, wird die grundlegende Problematik der mangelnden Partizipation und Rechenschaftspflichtigkeit allerdings noch verstärkt: Eine Zurechenbarkeit von Handlungen bei solchen Multistakeholder-Partnerschaften ist von außen kaum möglich, und formale Vorgaben der Kontrolle gibt es nicht. Mangelnde Transparenz ist auch einer der Hauptvorwürfe gegenüber der Gates-Stiftung, deren interne Governance-Strukturen ebenso wenig einsehbar sind wie Details zu ihren finanziellen Beteiligungen und Förderentscheidungen. Wie bei vielen GPPPs und Initiativen, an denen Unternehmen beteiligt sind und Entscheidungen unmittelbar mitsteuern, ist allerdings ihre enge Verwobenheit mit Pharmaunternehmen bekannt.

Globale Gesundheitspolitik am Scheideweg

Mit der aktuellen Covid-19-Pandemie rücken mit der globalen Gesundheitspolitik auch ihre Schwächen in den Fokus der Öffentlichkeit, zugleich wird aber auch eine Bühne für die Anliegen und Herausforderungen von global health geschaffen. Dies sollte als Chance genutzt werden, um Probleme anzugehen und Reformen umzusetzen.

Die WHO steht im Zentrum des Krisenmanagements. Damit sie dieses Mandat als koordinierende Behörde überzeugend ausüben kann, muss ihre Finanzierung gesichert und idealerweise auch ausgeweitet werden. Ihre institutionelle Unabhängigkeit wäre größer, wenn sich die WHO aus nicht zweckgebundenen Mitteln der Mitglieder finanzieren könnte. Dieses Ziel ist 2020 allerdings in noch weitere Ferne gerückt. Damit bleibt die enge Beziehung zu privaten Akteuren, ob Stiftungen oder Unternehmen, zwar problematisch, aber notwendig.

Positiv ist zu beobachten, dass sich eine breite Allianz aus staatlichen und nicht staatlichen Unterstützern für globale Gesundheitspolitik und eine bessere Abstimmung zwischen UN-Organisationen abzeichnet. Sollte die WHO nicht deutlich gestärkt werden, erscheint eine enge Einbindung und Absprache mit der Vielzahl von Akteuren zur Ressourcengewinnung für global health als unerlässlich. Die Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure von NGOs bis zur Wissenschaft ist dabei wesentlich – sowohl für eine Demokratisierung der politischen Prozesse als auch für eine effektive Umsetzung von Programmen auf Länderebene.

Um angesichts der überlappenden Akteurskonstellationen zielorientiert koordinieren zu können, dient "Gesundheit für alle" als normativer Maßstab. So kann globale Gesundheit aus dem lange dominanten Bezugsrahmen der Entwicklungszusammenarbeit gelöst werden. Denn damit war globale Gesundheitspolitik darauf fokussiert, zu Armutsbekämpfungsprogrammen beizutragen, und darauf reduziert, absoluten Mangel zu beheben und Sterblichkeitsraten in bestimmten Weltregionen zu senken. Dieser Ansatz trennte Gesundheit vom breiteren global-politischen Kontext und beschränkte die Rollen der Akteure auf postkoloniale Konstellationen von Gebern und Hilfe-Empfängern. Stattdessen sollte es künftig vermehrt um eine Stärkung von Gesundheitssystemen und die Bekämpfung chronischer Erkrankungen gehen, die nicht mehr auf der Unterschiedlichkeit der Länder, sondern auch auf ihren gemeinsamen Erfahrungen beruhen. Hierfür sind die SDGs und das neue Arbeitsprogramm der WHO wichtige Schritte.

Die Weltbevölkerung eint ihre Verwundbarkeit und Verbundenheit, wenn es um die Verwirklichung eines gesunden Lebens geht. Die Covid-19-Pandemie führt uns all dies in verschärfter Dramatik vor Augen und könnte dazu beitragen, dass Solidarität und gemeinsames Handeln Priorität haben. Auch wenn sich einzelne Staatsführer im "Krieg" gegen das Virus wähnen und nationale Alleingänge zur Sicherung von medizinischer Ausstattung und künftigen Impfstoffen unternehmen, so sind auch vielversprechende Entwicklungen zu beobachten. Hinter der aktuellen Diskussion, ob die Impfung mit künftigen Covid-19-Impfstoffen als globales öffentliches Gut bewertet werden sollte, steht das Bewusstsein, dass nur die weltweite Immunisierung zu einer Überwindung der Pandemie führen kann. Impfstoffe müssen dann weltweit zugänglich und bezahlbar sein. Im April 2020 wurde deshalb die globale Initiative Access to Covid-19 Tools (ACT) Accelerator mit breiter Unterstützung staatlicher und nicht staatlicher Akteure verabschiedet, um Mittel für die Erforschung und Entwicklung von Lösungen gegen das Corona-Virus bereitzustellen. Im Juni folgte die Einrichtung der COVAX-Facility, die nicht nur die Finanzierung eines Impfstoffs, sondern auch den globalen Zugang sichern soll. Inwiefern sich der Anspruch von global equitable access, also dem globalen und gerechten Zugang realisieren lassen wird, bleibt abzuwarten. Während Unternehmen und private Stiftungen zentral an der Finanzierung und Forschung beteiligt sind, klagen zivilgesellschaftliche Akteure auch hier über fehlende Partizipationsmöglichkeiten.

Wie auch die aktuelle Diskussion zeigt, verbirgt sich hinter der Definition und Bereitstellung (globaler) öffentliche Güter immer eine gesellschaftliche und schlussendlich politische Wertung und Entscheidung: Es ist vielsagend, dass das Framing von Gesundheit in Zusammenhang mit globalen öffentlichen Gütern jetzt an Fahrt gewinnt. Was die derzeitige Pandemie von denen der vergangenen Jahrzehnte unterscheidet, ist die Umkehrung der Betroffenheitsbeziehungen: Zum ersten Mal in der Nachkriegszeit sind die wohlhabendsten Länder zunächst am stärksten betroffen. Die Wahrnehmung, dass unser aller Gesundheitssicherheit akut bedroht ist, hat neben den global hohen Infektionszahlen und dramatischen Krankheitsverläufen zu einer Aufwertung der Debatten um globale Gesundheit geführt.

Auch wenn die Debatte um öffentliche Güter in Bezug auf globale Gesundheit, ebenso wie die Rhetorik um Universal Health Coverage und das neue Arbeitsprogramm der WHO derzeit in ökonomischen Theorien und einer Sprache von Investitionen und quantifizierbaren Zielen verankert ist, so bleibt die Hoffnung, dass die Gelegenheit genutzt werden kann, um darauf aufbauend auch stärker auf die Verwirklichung von Gesundheit als Menschenrecht und Gerechtigkeit im Sinne der Abschaffung von Ungleichheiten zu zielen. Dazu zählt auch ein besser abgestimmtes, demokratischeres und effektives Steuerungssystem.

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Fakultät für Gesellschaftswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. E-Mail Link: elena.sondermann@inef.uni-due.de