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Zustand der Demokratie Editorial Neue Krisen. Wissenschaft, Moralisierung und die Demokratie im 21. Jahrhundert Freiheit, Gleichheit, Zusammenhalt – oder: Gefährdet "Identitätspolitik" die liberale Demokratie? Aus dem Gleichgewicht. Zum Zustand demokratischer Öffentlichkeit Demokratie in Gefahr? Repräsentative Politik zwischen Demokratisierung und Entdemokratisierung Krise (und Ende?) der Volksparteien Demokratische Innovation durch Bürgerräte

Demokratie in Gefahr?

Vanessa A. Boese

/ 17 Minuten zu lesen

Wer verstehen möchte, wie demokratisch die Welt heute ist, muss zunächst definieren, was "demokratisch" bedeutet, was also eine Regierung demokratisch und eine andere undemokratisch oder autokratisch macht. Der altgriechische Ursprung des Wortes "Demokratie" – δημοκρατία – setzt sich zusammen aus δῆμος – dem normalen Volk, den Bürgern – sowie κράτος – der Herrschaft. Demokratie ist also wortwörtlich die "Herrschaft des Volkes".

Allerdings ist mit dieser allgemeinen Definition für die vergleichende empirische Analyse noch nicht viel gewonnen. Eine Möglichkeit, Regime weltweit zu kategorisieren, ist das sogenannte Regimes of the World-Schema (RoW). Dieses teilt Regierungen auf der ganzen Welt in vier Kategorien ein: in zwei Formen der Autokratie und zwei Formen der Demokratie (Abbildung 1).

Abbildung 1: Regierungsformen nach dem "Regimes of the World"-Schema (© bpb)

In geschlossenen Autokratien übt ein Einzelner oder eine Gruppe unkontrolliert Macht aus, es handelt sich also um klassische Diktaturen. Im Gegensatz dazu weist eine elektorale Autokratie teilweise demokratische Elemente auf. Zum Beispiel gibt es in diesen Ländern zwar laut Gesetz Wahlen, diese sind aber in der Realität weder frei noch fair. Als "fair" werden Wahlen unter anderem dann bezeichnet, wenn sich alle Parteien in einem fairen Wettbewerb miteinander befinden und politische Wettbewerber nicht systematisch von den Amtsinhabern bedroht oder sogar de facto an einer Wahlteilnahme gehindert werden. Die beiden demokratischen Regierungsformen zeichnen sich ihrerseits durch Wahlen aus, in denen mehr als eine Partei frei und fair gewählt werden kann. Doch auch hier gibt es qualitative Unterschiede: In elektoralen Demokratien sind Wahlen zwar frei und fair, aber die Gewaltenteilung ist beispielsweise nicht vollständig ausgeprägt, sodass etwa das Staatsoberhaupt nur einer schwachen oder gar keiner Kontrolle durch die Judikative oder das Parlament unterliegt. In der liberalen Demokratie wiederum sind die demokratischen Grundideale und Institutionen am effektivsten realisiert, und zwar in Form eines starken Rechtsstaats mit Gewaltenteilung und deutlich ausgeprägten Bürgerrechten, der auch Minderheiten wirkungsvoll zu schützen vermag.

Abbildung 2: Anzahl der Staaten nach Regierungsform, 1900–2020 (© bpb)

Abbildung 2 zeigt die weltweite Anzahl der Regierungen in jeder der vier Kategorien seit 1900. Anfang des 20. Jahrhunderts waren (geschlossene) Autokratien die weltweite Norm, doch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und später des Kalten Krieges ist die Zahl der Demokratien deutlich gewachsen. Im Jahr 2020 gab es nach der RoW-Kategorisierung insgesamt 87 autokratische und 92 demokratische Länder (25 geschlossene Autokratien, 62 elektorale Autokratien, 60 elektorale Demokratien und 32 liberale Demokratien). Die Mehrheit der Länder war also demokratisch – auch wenn die elektorale Autokratie der häufigste der hier unterschiedenen Regierungstypen war. Steckt die Demokratie also vielleicht gar nicht in der Krise? Sehen wir etwas genauer hin.

Will man die Demokratieentwicklung weltweit und über die Zeit hinweg untersuchen, ist es wichtig zu wissen, wie viele Menschen überhaupt entsprechende demokratische Freiheitsrechte genießen. Abbildung 3 zeigt den Anteil der Weltbevölkerung, der in jeder der vier Regimetypen im Zeitverlauf gelebt hat. 2020 beispielsweise lebten 68 Prozent der Weltbevölkerung unter autokratischer Herrschaft. Genauer gesagt lebten 25 Prozent der Weltbevölkerung in geschlossenen Autokratien, 43 Prozent in elektoralen Autokratien, 19 Prozent in elektoralen Demokratien und nur 14 Prozent in liberalen Demokratien. Die in den vergangenen Jahren zu beobachtende starke Zunahme jenes Anteils der Weltbevölkerung, der in elektoralen Autokratien lebt, hat zum Teil damit zu tun, dass bevölkerungsreiche Länder wie Indien (das bislang mit seinen 1,37 Milliarden Bürgerinnen und Bürgern als "größte Demokratie der Welt" galt) oder die Türkei zunehmend als autokratisch klassifiziert worden sind. "Der Grad an Demokratie, den der weltweite Durchschnittsbürger genießt, ist 2020 auf ein Niveau gesunken, wie es zuletzt 1990 zu beobachten war."

Abbildung 3: Anteil der Weltbevölkerung, der unter der entsprechenden Regierungsform lebt, 1900–2020 (© bpb)

Die beiden Abbildungen 2 und 3 zeigen auch, dass sich die Anzahl der Länder (und damit auch der Bevölkerungsanteil) in den beiden mittleren Kategorien – der elektoralen Autokratie sowie der elektoralen Demokratie – seit Ende des Kalten Krieges stetig vergrößert hat. Dies gibt durchaus Anlass zur Besorgnis, da sich empirisch gezeigt hat, dass die Länder zwischen harter Autokratie auf der einen und konsolidierter Demokratie auf der anderen Seite anfälliger sind für politische Instabilitäten und gesellschaftliche Konflikte. Ihre institutionelle Basis ist häufig relativ jung und unterliegt fortlaufenden Wandlungsprozessen, was sie anfälliger für politische Destabilisierung macht. Voll funktionsfähige demokratische Institutionen verfügen über Mechanismen zur friedlichen Konfliktlösung. Allerdings müssen diese demokratischen Mechanismen und Abläufe erst implementiert und von den Bürgerinnen und Bürgern erlernt und akzeptiert werden. Solche Prozesse benötigen Zeit. Die Forschung zeigt: Je länger ein Land demokratisch ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass es bewaffnete Konflikte erlebt; auch die Gefahr, dass seine politischen Institutionen zusammenbrechen und dem Autoritarismus anheimfallen, ist umso geringer, je länger das Land ein demokratisches Regierungssystem aufweist.

Wie demokratisch war nun die Welt 2020? Die kurze Antwort lautet: Nicht so demokratisch wie zehn Jahre zuvor. Zwar waren 52 Prozent aller Länder Demokratien, doch die Mehrheit der Weltbevölkerung (68 Prozent) lebte in Autokratien. Wie ist das zu erklären? Der nächste Abschnitt betrachtet die weltweiten Trends zu Autokratisierung und Demokratisierung, um besser verstehen zu können, wie es zu den heutigen Demokratieniveaus gekommen ist.

Trends

Blickt man genauer auf die weltweiten Regimeentwicklungen zwischen 2010 und 2020, zeigen sich bedeutende Trends. So zeigt Abbildung 4 die Veränderung des Demokratieniveaus jedes Landes zwischen 2010 und 2020. Zur Messung des Demokratieniveaus wird der sogenannte Liberal Democracy Index (LDI) von V-Dem verwendet. Dieser misst einerseits, wie gut das Konzept der elektoralen Demokratie in einem Land implementiert ist, andererseits fließt in ihn aber auch eine Analyse der rechtsstaatlichen Beschränkungen ein, denen Regierungen zugunsten des Schutzes individueller Rechte und Freiheiten unterliegen, sowie eine Evaluation der Institutionen der Gewaltenteilung beziehungsweise der Gewaltenkontrolle. Das Konzept der elektoralen Demokratie fragt danach, inwieweit saubere, freie und faire Wahlen mit mehreren Parteien stattfinden; inwieweit die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, der Zugang zu alternativen Informationsquellen sowie das Wahlrecht garantiert werden; und inwieweit die Regierungspolitik von gewählten politischen Repräsentanten bestimmt wird.

Abbildung 4: Veränderung der liberalen Demokratie zwischen 2010 und 2020 (© bpb)

Die LDI-Skala beginnt bei 0 (am undemokratischsten) und endet bei 1 (am nächsten am Ideal der liberalen Demokratie). In Abbildung 4 sind negative Veränderungen des LDI zwischen 2010 und 2020 rot oder orange markiert, positive Veränderungen hingegen blau. Zu sehen sind kleinere positive oder negative Entwicklungen in einer Vielzahl von Ländern (Hellblau oder helles Orange), in einigen Ländern ist jedoch auch eine bedeutende Erosion demokratischer Institutionen erkennbar (dunkles Orange oder Rot). Mit Polen und Ungarn bilden erstmals zwei EU-Mitgliedsstaaten die Speerspitze der "Autokratisierer" (mit einer Veränderung des LDI von −0,34 beziehungsweise −0,32 zwischen 2010 und 2020, was einer beträchtlichen Verschlechterung gleichkommt).

Seit 2019 wird Ungarn nach dem RoW-Schema nicht mehr als Demokratie klassifiziert und ist somit der erste autokratische Mitgliedsstaat der Europäischen Union. Mit Serbien und der Türkei gehören außerdem zwei unmittelbare EU-Anrainer zu den Ländern mit den stärksten Autokratisierungstendenzen. Es fällt besonders auf, dass große Volkswirtschaften wie Brasilien, Indien und die Türkei (und in gewissem Maße sogar die USA) Rückschritte bei den bürgerlichen Freiheiten und politischen Rechten erlebt haben. Das Sinken des Demokratieniveaus in mehreren G-20-Nationen mit signifikanten militärischen, wirtschaftlichen und politischen Einflüssen in der Welt ist so neu wie alarmierend. Darüber hinaus haben bevölkerungsreiche Staaten in Asien wie Thailand oder die Philippinen ebenso eine Verschlechterung ihres Demokratieniveaus erlebt. Südlich der Sahara haben sich die Institutionen in Mali, Benin, Botswana und Sambia am stärksten in Richtung Autokratie entwickelt.

Glücklicherweise gibt es aber auch einige (wenige) Fälle einer deutlich positiven Entwicklung in Richtung liberaler Demokratie. In mehreren Ländern hat sich das Niveau der liberalen Demokratie zwischen 2010 und 2020 verbessert, insbesondere etwa in Tunesien. Seit Beginn des Arabischen Frühlings 2012 hat sich Tunesien zum bemerkenswerten Fall eines gelungenen Übergangs von einer elektoralen Autokratie zu einer elektoralen Demokratie entwickelt. In Osteuropa und Zentralasien haben Armenien und Georgien ihr Demokratieniveau verbessern können. Südlich der Sahara sind es Niger und Gambia, die seit 2010 eine positive Entwicklung hin zu einer elektoralen Demokratie durchlaufen haben, und auch in Madagaskar waren Verbesserungen der demokratischen Institutionen feststellbar. Zwei besondere Fälle sind Südkorea und Ecuador, wo sich die Demokratie trotz eines anhaltenden Autokratisierungsprozesses behaupten und ihr Zusammenbruch letztlich abgewendet werden konnte. In Ecuador etwa war es eine zivilgesellschaftliche Massenmobilisierung für die Demokratie, die eine wesentliche Rolle bei der Verhinderung eines Zusammenbruchs der demokratischen Institutionen unter Präsident Rafael Correa spielte.

Bei der Analyse der Veränderungen des Demokratieniveaus einzelner Länder zwischen 2010 und 2020 lassen sich im Großen und Ganzen zwei Beobachtungen machen: Erstens hat sich der Zustand der Demokratie in mehreren sehr bevölkerungs- und einflussreichen Ländern stark verschlechtert. Seit 2019 hat die EU ihren ersten autokratischen Mitgliedsstaat in ihren Reihen (Ungarn), und selbst in den USA finden Prozesse der Erosion der Demokratie statt. Zweitens gibt es zwar einige Länder, in denen sich der Zustand der demokratischen Institutionen verbessert hat, allerdings sind diese Länder und ihre Fortschritte tendenziell kleiner und fallen daher insgesamt nicht so sehr ins Gewicht wie die "Top-Autokratisierer".

Demokratisierung und Autokratisierung

Wie stark sind die bisher diskutierten Tendenzen der Demokratisierung und Autokratisierung nun aber aus historischer Sicht? Sind die genannten Veränderungen Teil eines größeren Trends, über den wir besorgt sein sollten, oder ist davon auszugehen, dass sich schon bald ein für die Demokratie positiveres Bild abzeichnen wird? Für die Beantwortung dieser Frage ist es hilfreich, sich anzuschauen, wie viele Länder überhaupt pro Jahr seit 1900 einen Prozess des Wechsels der Regierungsform durchlaufen haben (sowohl in Richtung Autokratie als auch in Richtung Demokratie). Ein Prozess der Transformation der Regierungsform setzt dann ein, wenn eine nennenswerte Anzahl von Akteuren in einem bestimmten Land aktiv versucht, die Regierungsform zu ändern, und sie dabei insofern erfolgreich ist, als in den politischen Institutionen eines Landes entsprechende Veränderungen zu beobachten sind.

Kleine Veränderungen im LDI von Jahr zu Jahr sind durchaus normal, denn politische Institutionen verändern sich stets ein wenig. Diese Veränderungen bedeuten nicht unbedingt, dass ein größerer Wandel hin zu einer neuen Regierungsform eingesetzt hätte. Wer Phasen der Autokratisierung und Demokratisierung adäquater messen möchte, muss sich auf länger anhaltende Phasen eines politischen Systemwechsels konzentrieren. Jedes Land, das sich in einer Phase der Demokratisierung oder Autokratisierung befindet, durchläuft de facto substanzielle Transformationen seines politischen "Ökosystems" und seiner Institutionen. Diese Transformationen gilt es, adäquat empirisch abzubilden und zu messen.

Setzen Demokratisierungsprozesse in einem autokratischen System ein, nennen wir solche Prozesse "politische Liberalisierung" (siehe auch Abbildung 1). Liberalisierungsprozesse in Autokratien dauern häufig viele Jahre lang, und ihr Ergebnis – ob sich das Land also erfolgreich zur Demokratie entwickelt oder nicht – bleibt häufig so lange unklar, bis die Transformationsphase zu Ende ist. Demokratisierung kann aber auch in einer elektoralen Demokratie beginnen, wenn etwa ein Land seine Gewaltenteilung stärkt oder die legislativen und judikativen Beschränkungen und Kontrollen ausbaut, denen etwa die Exekutive unterliegt. In diesen Fällen kommt es zu einer Vertiefung der Demokratie beziehungsweise zu einer Verbesserung ihrer Qualität. Allerdings kann es in Demokratien eben auch zu Prozessen der Autokratisierung kommen, was als "demokratische Erosion" oder "demokratische Regression" bezeichnet wird. In der Anfangsphase eines solchen Prozesses lässt sich in der Regel noch nicht abschätzen, ob sich das betreffende Land als widerstandsfähig erweist und demokratisch bleibt – oder ob seine demokratischen Institutionen zusammenbrechen und es zur Autokratie wird. Und auch in Autokratien versuchen Herrscher häufig, ihre Macht zu konsolidieren und zu konzentrieren. Diese weitere Autokratisierung von Autokratien bezeichnen wir als "autokratische Regression".

Die Kurve auf der linken Seite von Abbildung 5 zeigt die jährliche Anzahl von Ländern, die sich in Phasen der Demokratisierung oder der Autokratisierung befinden. Drei Wellen der Demokratisierung (blaue Linie) heben sich in beiden Kurven deutlich und durchgehend ab: die erste Phase nach Ende des Ersten Weltkriegs, mit ihrem Höhepunkt 1920; die zweite nach dem Zweiten Weltkrieg, bis sie gegen 1960 wieder abflacht; und die dritte große Welle um 1980, mit ihrem Höhepunkt gegen Ende des Kalten Krieges 1990 und einem abfallenden Verlauf bis heute. Auf jede dieser Wellen folgte eine Welle der Autokratisierung (orange Linie). Es ist zu erkennen, wie sich die erste Welle der Autokratisierung über längere Zeit aufbaut, bis sie im Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt findet. Eine zweite Welle folgt dann in den 1960er und 1970er Jahren. Seit 1990 ist ein weiterer Anstieg zu erkennen, der jene Länder umfasst, die Teil einer dritten Welle der Autokratisierung sind. 2012 war schließlich der Schnittpunkt beider Linien erreicht: Seitdem erleben mehr Länder eine Autokratisierung als eine Demokratisierung. Die einzigen Phasen, in denen dies bereits zuvor der Fall war, lagen zwischen 1926 und 1942 und kurzzeitig noch einmal in den 1960er Jahren. Die Wucht dieser dritten Welle der Autokratisierung wird noch deutlicher, wenn man die Anzahl der Menschen betrachtet, die von ihr betroffen sind. Der rechte Teil von Abbildung 5 zeigt den jährlichen Anteil der Weltbevölkerung, der in Ländern lebt, die eine Phase der Demokratisierung oder Autokratisierung durchlaufen. Seit 2000 ist der Anteil der Menschen, die unter den Bedingungen sich verschlechternder demokratischer Institutionen leben, größer als der jener, die ein Mehr an demokratischen Freiheiten erleben.

Abbildung 5: Wellen politischer Systemwechsel, 1900–2020 (© bpb)

2020 befanden sich nur noch 17 Länder in einem Prozess der Demokratisierung, was einem Anteil von lediglich 4 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Unterdessen hat die dritte Welle der Autokratisierung 25 Länder erfasst, in denen ein Drittel (33 Prozent) der Weltbevölkerung lebt. Wie gravierend die heutige Situation ist, wird noch deutlicher, wenn man die schon oben angeführte Tatsache berücksichtigt, dass auch wirtschaftlich starke G−20-Nationen wie etwa Indien, Brasilien oder die USA von der dritten Welle der Autokratisierung betroffen sind. Diese dritte Welle hat zu einem beispiellosen Zusammenbruch von 36 demokratischen Regierungssystemen geführt und mehr als 700 Millionen Menschen den Zugang zu demokratischen Institutionen gekostet. Hierbei ist außerdem zu beachten, dass nur 22 Prozent jener Länder, die seit dem Jahr 1900 Prozesse der Autokratisierung durchlaufen haben, einen Zusammenbruch ihrer demokratischen Institutionen abwenden konnten. Anders gesagt: Sobald ernsthafte Autokratisierungsprozesse einsetzen, "sterben" mehr als drei Viertel (78 Prozent) aller betroffenen Demokratien.

Corona-Pandemie und globales Demokratieniveau

Die dritte Welle der Autokratisierung hat lange vor der Corona-Pandemie eingesetzt. Allerdings haben mehrere Regierungen als Antwort auf die Pandemie Maßnahmen ergriffen, die die bürgerlichen Freiheiten und politischen Rechte ihrer Bürgerinnen und Bürger massiv eingeschränkt haben, etwa die Versammlungsfreiheit oder den Zugang zu alternativen Informationsquellen. Eine gesellschaftliche Balance zwischen dem Schutz der Verletzlichsten und dem Erhalt demokratischer Standards zu finden, war weltweit eine große Herausforderung für alle Regierungen. Im Rahmen des "Pandemic Backsliding Project" untersucht eine V-Dem-Forschungsgruppe in 144 Ländern, ob und inwieweit die pandemiebedingten Notmaßnahmen der Regierungen demokratische Normen verletzt haben. Diese Maßnahmen werden als internationalen Menschenrechtsabkommen und demokratischen Standards konform angesehen, wenn sie die individuellen, unveräußerlichen Rechte (wie etwa das Recht auf Leben oder die Freiheit von Folter) respektieren, zeitlich begrenzt sind und nicht auf unverhältnismäßige Weise umgesetzt werden. In sieben Dimensionen wird gemessen, wie stark Regierungsmaßnahmen demokratische Normen verletzen, die Skala reicht von 0 (keine Verletzungen demokratischer Standards) bis 1 (schwere Verletzungen demokratischer Standards).

Es zeigt sich, dass die Maßnahmen demokratischer Regierungen (insbesondere in liberalen Demokratien) deutlich weniger Verstöße gegen grundlegende Freiheitsrechte verursachten als die Maßnahmen autokratischer Regierungen. Differenziert man zwischen keinen, geringfügigen, mittelschweren und schwerwiegenden Verletzungen der Freiheitsrechte, so zeigt sich, dass die meisten Demokratien durchaus verantwortungsvoll gehandelt haben. Die Mehrheit von ihnen hat demokratische Standards insbesondere in der zweiten Jahreshälfte 2020 nicht oder nur geringfügig verletzt. Die einzigen Demokratien, bei denen schwerwiegende Verletzungen im Jahresverlauf erkennbar wurden, sind El Salvador, Nepal, Paraguay und Sri Lanka. Zu den besorgniserregenden Entwicklungen in Sri Lanka zählten Einschränkungen der Medien, der unabhängigen Rechtsprechung sowie der Autonomie der Wahlbehörde (also der Behörde, die Wahlen organisiert und durchführt). In El Salvador wurden Grundrechte (vor allem die Bewegungsfreiheit) erheblich und unangemessen beschnitten. In Nepal und Paraguay griff die Regierung auf exzessive Gewaltanwendung zurück. Allerdings waren im Verlauf des Jahres 2020 in immerhin 30 Demokratien mittelschwere Verletzungen erkennbar. Auch diese gingen jedoch im Jahresverlauf zurück, was darauf hindeutet, dass demokratische Regierungen die Bedrohung ihrer Institutionen durch die Maßnahmen erkannten und sie entsprechend anpassten. Des Weiteren galten in 24 Demokratien im Dezember 2020 Notmaßnahmen ohne zeitliche Begrenzung.

Auffällig ist, dass Bürgerinnen und Bürger in Autokratien deutlich schwerwiegendere Einschränkungen ihrer demokratischen Rechte und Freiheiten erlebten. Über den gesamten Zeitraum hinweg traf die große Mehrheit der Autokratien Maßnahmen gegen Covid-19, die mittelschwer oder gar schwerwiegend gegen freiheitliche Standards verstießen. Solche Verstöße geschahen etwa in Saudi-Arabien und Venezuela, wo Behörden massiv gegen Grundrechte verstießen, indem sie aus dem Ausland einreisende Menschen in provisorischen Einrichtungen festsetzten, oder in Indien, wo Schikanen gegen Journalistinnen und Journalisten bekannt wurden, die über Covid-19 berichteten. In der Türkei wurden Bürger wie Journalisten festgenommen und inhaftiert, weil sie sich zur Pandemie in Nachrichtenmedien oder sozialen Netzwerken geäußert hatten. In Serbien schränkte die Regierung die Bewegungsfreiheit in Flüchtlingscamps enorm ein. Darüber hinaus hatten 19 Autokratien Notmaßnahmen ohne zeitliche Beschränkung erlassen.

Da die Mehrheit der schwerwiegenden Verletzungen demokratischer Normen in Autokratien mit bereits schwachen demokratischen Institutionen geschah, hatte die Pandemie auf den weltweiten Grad an liberaler Demokratie nur marginale Auswirkungen. Der weltweite LDI-Durchschnittswert ist von 0,40 im Jahr 2019 auf 0,39 im Jahr 2020 zurückgegangen – er ist also nicht dramatisch gesunken. Nur drei der 46 LDI-Indikatoren zeigten tatsächlich wesentliche negative Veränderungen, die auf die Lockdown-Maßnahmen während der Pandemie zurückgingen. Insbesondere betroffen waren hiervon die Indikatoren für nationale und internationale Freizügigkeit. Allerdings können wir bisher nur Kurzzeiteffekte auswerten. Die Langzeitfolgen sind noch unbekannt. Anhaltende Verletzungen von Rechten in verschiedenen Ländern geben Grund zur Sorge und sind Anlass, künftige Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen. Notmaßnahmen sollten zum Schutz der Demokratie aufgehoben werden, sobald die Pandemie sich abschwächt.

Sind derart schwere Verletzungen aber vielleicht durch bessere Ergebnisse im Bereich der Gesundheitsvorsorge zu rechtfertigen? Sterben also in Ländern, deren Reaktion auf die Notlage sich überproportional negativ auf demokratische Rechte und Freiheiten ausgewirkt hat, weniger Menschen am Coronavirus? Die Antwort lautet: Nein. Die Verletzung demokratischer Standards durch Notmaßnahmen senkt die Sterberate durch das Coronavirus nicht. Solche Freiheitsverletzungen lassen sich also auch mit dem Argument einer Verbesserung der öffentlichen Gesundheit nicht rechtfertigen.

Demokratie in Gefahr

Die vorangegangenen Abschnitte zeichnen ein ernüchterndes Bild vom heutigen Zustand der Demokratie. Sie ist in Gefahr. Die Erosion demokratischer Normen, die zunehmende Macht der Exekutiven sowie abnehmende Medienfreiheit sind weltweite Symptome einer dritten Welle der Autokratisierung. Besteht also Grund zur Sorge?

Mitunter erscheint es in der öffentlichen Debatte so, als würden Autokratien wie China oder Russland hinsichtlich unterschiedlicher Entwicklungsziele effektiver handeln als Demokratien – von der wirtschaftlichen Entwicklung bis hin zum Umgang mit der Corona-Pandemie. Aber stimmt das überhaupt? Und was bietet uns die Demokratie, das autokratische Systeme vermissen lassen?

Davon abgesehen, dass sich der Demokratie schon für sich genommen ein universaler Wert zusprechen lässt, hat die Forschung auch instrumentelle Vorteile demokratischer Regierungssysteme aufzeigen können. So ist etwa das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in Demokratien höher als in Autokratien. Während nur wenige Autokratien, wie etwa China oder Singapur, beim Wachstum außergewöhnliche Ergebnisse erzielen, zeigen etliche andere eine miserable wirtschaftliche Entwicklung. Demokratische Institutionen funktionieren wie ein Sicherheitsnetz, das die Volkswirtschaft von den negativen Auswirkungen autokratischer Führer und deren Entscheidungen abschirmt. Vielfach streben diese nur Investitionen in eigener Sache an. Demokratische, auf Mitsprache und Teilhabe ausgerichtete Institutionen sind hingegen eine Grundlage für ein gerechteres, Armut reduzierendes Wirtschaftswachstum. Auch wissen wir, dass liberale Demokratien bedeutend mehr Ausgaben für den Sozialstaat aufwenden als geschlossene Autokratien; auch hiervon profitieren wiederum die Schwächsten einer Gesellschaft. Abgesehen von positiven wirtschaftlichen Effekten hat Demokratie auch erkennbar zu Verbesserungen der allgemeinen Gesundheit geführt, etwa zu einem Rückgang der Kindersterblichkeit und der Herz-Kreislauf-Todesfälle. Und es gibt noch eine weitere sichere und unbestrittene Erkenntnis: die des "demokratischen Friedens". Demokratien bekämpfen einander in der Regel nicht.

Auch wenn demokratische Institutionen also derzeit unter vielleicht stärkerem Druck stehen als je zuvor in der modernen Geschichte, ist die Erkenntnislage doch eindeutig: Zur Anpassung an die aktuellen Herausforderungen ist die Demokratie unsere beste Option. Durch sie stehen uns friedliche Mechanismen zur Verfügung, um Konflikte zu lösen, Machtwechsel zu organisieren, marginalisierte Gruppen zu integrieren und die Macht destruktiver Autokraten zu begrenzen. Wie man es auch dreht und wendet, die Demokratie ist unsere einzige Chance, dem Druck von innen und außen dauerhaft standzuhalten. Gerade deshalb sollten wir uns bewusst machen, wie prekär die Situation der Demokratie derzeit weltweit ist. Die Stärkung und Verbesserung demokratischer Institutionen ist ein langwieriges Unterfangen. Legen wir also möglichst schnell damit los.

Übersetzung aus dem Englischen: Jan Fredriksson, Senden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die folgenden Ausführungen beruhen auf den empirischen Daten des sogenannten Varieties of Democracy-Datensatzes (V-Dem), vgl. Michael Coppedge et al., V-Dem [Country–Year/Country–Date] Dataset v11.1, Varieties of Democracy (V-Dem) Project 2021, Externer Link: http://www.v-dem.net/en/data/data/v-dem-dataset-v111. Dieser größte weltweite Datensatz zur Demokratiemessung umfasst nahezu 30 Millionen Datenpunkte zu 202 Ländern zwischen 1789 und 2020. Gemeinsam mit mehr als 3500 Forschenden und Länder-Expertinnen und -Experten erfasst V-Dem hunderte unterschiedliche Charakterzüge politischer Regime – etwa, ob regelmäßig Wahlen stattfinden und wie frei oder fair diese sind. Der Datensatz ist kostenlos auf der Website von V-Dem verfügbar (Externer Link: http://www.v-dem.net/en).

  2. Vgl. Anna Lührmann/Marcus Tannenberg/Staffan I. Lindberg, Regimes of the World (RoW): Opening New Avenues for the Comparative Study of Political Regimes, in: Politics and Governance 1/2018, S. 60–77.

  3. Nazifa Alizada et al., Autocratization Turns Viral, V-Dem Democracy Report 2021, S. 13.

  4. Siehe etwa Scott Gates et al., Institutional Inconsistency and Political Instability: Polity Duration, 1800–2000, in: American Journal of Political Science 4/2006, S. 893–908. Ähnlich auch Håvard Hegre, Democracy and Armed Conflict, in: Journal of Peace Research 2/2014, S. 159–172.

  5. Vgl. Hegre (Anm. 4); Amanda B. Edgell et al., Democratic Legacies: Using Democratic Stock to Assess Norms, Growth, and Regime Trajectories, V-Dem Working Paper 100/2020; Vanessa A. Boese et al., How Democracies Prevail: Democratic Resilience as a Two-Stage Process, in: Democratization 2021 (online first), DOI: 10.1080/13510347.2021.1891413.

  6. Für eine genauere Beschreibung der Indikatoren vgl. Alizada et al. (Anm. 3), S. 42–47.

  7. Vgl. z.B. Anna Lührmann et al., Autocratization Surges – Resistance Grows, V-Dem Democracy Report 2020, S. 13f.

  8. Vgl. ebd., S. 23.

  9. Gemeint sind hiermit in etwa solche Fälle, wie sie in Abbildung 4 in Hellblau oder hellem Orange dargestellt sind.

  10. Hierzu kann z.B. das sogenannte Episodes of Regime Transformation-Dataset (ERT) genutzt werden, das ebenfalls Daten von V-Dem verwendet. Vgl. dazu Edgell et al., Episodes of Regime Transformation Dataset, Version 1.0, 2020. Der Datensatz, die Kodierungsregeln und das Codebook mit der Datenbeschreibung finden sich unter Externer Link: https://github.com/vdeminstitute/ERT.

  11. Vgl. Matthew C. Wilson et al., Successful and Failed Episodes of Democratization: Conceptualization, Identification, and Description, V-Dem Working Paper 97/2020.

  12. Eine umfassende Beschreibung und Definition dieser Konzepte des politischen Systemwechsels finden sich z.B. bei Seraphine F. Maerz et al., A Framework for Understanding Regime Transformation: Introducing the ERT Dataset, V-Dem Working Paper 113/2021.

  13. Vgl. hierzu z.B. Samuel P. Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, Norman 1991.

  14. In der Fachwelt gibt es eine lebhafte Debatte darüber, wann genau diese Wellen beginnen und enden. Vgl. z.B. Svend-Erik Skaaning, Waves of Autocratization and Democratization: a Critical Note on Conceptualization and Measurement, in: Democratization 8/2020, S. 1533–1542; Vanessa A. Boese/Staffan I. Lindberg/Anna Lührmann, Waves of Autocratization and Democratization: a Rejoinder, in: Democratization 2021 (online first), DOI: 10.1080/13510347.2021.1923006.2021.

  15. Vgl. dazu Anna Lührmann/Staffan I. Lindberg, A Third Wave of Autocratization is Here: What is New About It?, in: Democratization 7/2019, S. 1095–1113.

  16. Vgl. Boese et al. (Anm. 5).

  17. Nähere Informationen zum Projekt und seinen Daten, interaktive Grafiken, individuelle Länderinformationen sowie eine Reihe von Kurzdossiers mit den Haupterkenntnissen finden sich unter Externer Link: http://www.v-dem.net/en/our-work/research-projects/pandemic-backsliding.

  18. Dies geschieht mithilfe des sogenannten Pandemic Democratic Violations-Index (PanDem), der folgende Punkte umfasst: 1) Diskriminierung von Minderheiten, 2) Grundrechtsverletzungen (unveräußerliche Rechte), 3) unangemessene Gewaltanwendung, 4) Fehlen einer zeitlichen Beschränkung von Notmaßnahmen, 5) Einschränkungen der Fähigkeit der Legislative, die Exekutive zu kontrollieren, 6) offizielle Desinformationskampagnen und 7) Einschränkungen medialer Freiheiten. Vgl. Alizada et al. (Anm. 3), S. 10.

  19. Vgl. ebd., S. 11.

  20. Vgl. ebd., S. 12.

  21. Stand: Dezember 2020; vgl. ebd., S. 11.

  22. Vgl. ebd., S. 16.

  23. Vgl. Seraphine F. Maerz et al., Worth the Sacrifice? Illiberal and Authoritarian Practices During Covid-19, V-Dem Working Paper 110/2020.

  24. Vgl. Daron Acemoglu et al., Democracy Does Cause Growth, in: Journal of Political Economy 1/2019, S. 47–100.

  25. Vgl. Carl Henrik Knutsen, Democracy and Economic Growth: A Survey of Arguments and Results, in: International Area Studies Review 4/2012, S. 393–415.

  26. Vgl. ders., The Business Case for Democracy, V-Dem Working Paper 111/2020.

  27. Vgl. Rohini Pande, Can Democracy Work for the Poor?, in: Science 4/2020, S. 1188–1192; Sirianne Dahlum/Carl Henrik Knutsen/Valeriya Mechkova, Female Empowerment and Economic Growth, V-Dem Working Paper 103/2020; Knutsen (Anm. 25).

  28. Vgl. Syed Mansoob Murshed et al., Fiscal Capacity, Democratic Institutions and Social Welfare Outcomes in Developing Countries, in: Defence and Peace Economics 2020, DOI: 10.1080/10242694.2020.1817259.

  29. Vgl. Yi-ting Wang/Valeriya Mechkova/Frida Andersson, Does Democracy Enhance Health? New Empirical Evidence 1900–2012, in: Political Research Quarterly 3/2019, S. 554–569.

  30. Vgl. Thomas J. Bollyky et al., The Relationships Between Democratic Experience, Adult Health, and Cause-Specific Mortality in 170 Countries Between 1980 and 2016: An Observational Analysis, in: The Lancet 10181/2019, S. 1628–1640.

  31. Vgl. Hegre (Anm. 4).

  32. Dieser Druck kommt einerseits von außen, etwa durch die Corona-Pandemie oder den Klimawandel, andererseits aber auch von innen, weil illiberale Akteure zunehmend versuchen, demokratische Standards zu schleifen und abzuschaffen.

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ist promovierte Ökonomin und Senior Research Fellow am Varieties of Democracy Institute an der Universität Göteborg. E-Mail Link: vanessa.boese@v-dem.net