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Interview mit Stefan Münker: Was ist das Neue an den neuen "Öffentlichkeiten"? | Politische Teilhabe im Netz | bpb.de

Interview mit Stefan Münker: Was ist das Neue an den neuen "Öffentlichkeiten"?

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Das Internet hat unser Verständnis von Öffentlichkeit grundlegend transformiert. Im Interview erklärt Medienwissenschaftler Stefan Münker was die digitale Öffentlichkeit von ihren analogen Ahnen unterscheidet, was dies für neue Teilhabemöglichkeiten bedeuten und weshalb wir alle mehr Medienkompetenz brauchen.

Vernetzheit und Fragmentierung in der digitalen Öffentlichkeit (CC, Chris Potter) Lizenz: cc by/2.0/de

Was bedeutet für sie Öffentlichkeit?

'Öffentlichkeit' ist ein Name für die Möglichkeiten einer Gesellschaft, sich selbst kritisch zu beobachten und zu reflektieren. Diese Selbstreflektion kann vielfache Formen annehmen; sie ist aber immer an die Vermittlung durch Medien gebunden, deren Charakter die Art und Weise der je realisierten Öffentlichkeit entsprechend prägen.

Was unterscheidet die so genannten digitalen Öffentlichkeiten am grundlegendsten von ihren ‘analogen’ Vorgängern?

Wo Öffentlichkeiten mit Hilfe digitaler Medien realisiert werden, sind die Prozesse der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung und kritischen Selbstreflektion geprägt von einer technisch implementierten Möglichkeit der interaktiven Partizipation. Waren die primär öffentlichkeitsbildenden Massenmedien des zwanzigsten Jahrhunderts strukturell immer nur als Verbreitungsmedien von Meinungen und Argumenten institutionalisiert, sind die digitalen Netzmedien der Gegenwart immer schon Verbreitungs- und Kommunikationsmedien zugleich. Der grundlegendste Unterschied ist die Tatsache, dass Medien damit nicht länger auf die Rolle der Vermittlung von Teilöffentlichkeiten (klassisch zum Beispiel: der Presse und ihren Rezipienten) festgelegt bleiben, sondern zur prinzipiell allen Beteiligten offenstehenden Arena der diskursiven Reflektion werden können.

Was bedeuten diese Unterschiede für die Partizipationsmöglichkeiten der Bürger_innen am politischen Diskurs?

Die technischen Möglichkeiten neuer, digitaler Öffentlichkeiten bieten historisch bisher einzigartige Teilhabe- und Interaktionsoptionen. Über die Frage der Auswirkungen für die Beteiligung von Bürgern an politischen Diskursen freilich entscheidet nicht die Technik allein, und wahrscheinlich nicht einmal zuerst. Ob und inwieweit die strukturelle Offenheit digitaler Medien tatsächlich die politischen Debatten und Diskurse unserer Öffentlichkeiten entscheidend verändern werden, entscheidet sich maßgeblich dadurch, ob ihre Nutzer diese Möglichkeiten auch tatsächlich annehmen und ausschöpfen.

Stefan Münker (© Hochschule der Medien)

Häufig hört man, dass die ‘neue Öffentlichkeit’ im Netz die Durchlässigkeit bestehenden Grenzen fördert. Was bedeutet das?

Digitale Öffentlichkeiten entstehen einzig durch die kollaborative Partizipation ihrer Nutzer. Ihre Medien vermitteln nicht zwischen verschiedenen Sphären – etwa der Politik auf der einen und der Zivilgesellschaft auf der anderen Seite -, in ihnen vermischen sich diese Sphären. Und was für Politik und Gesellschaft gilt, gilt auch für andere Bereiche: Die Grenze zwischen Experten und Laien wird ebenso durchlässig wie die Grenze zwischen professionellen Künstlern und Amateuren oder die Grenze zwischen öffentlichen und privaten Bereichen des eigenen Lebens. Der Grund ist, dass der strukturell offene Raum zumindest theoretisch jedem die Möglichkeit bietet sich an digitalen Produktions- und Distributionsprozessen zu beteiligen – auch wenn diese Möglichkeiten tatsächlich nicht jedem gegeben sind (siehe Nicole Zilliens Beitrag zur Interner Link: Digitalen Spaltung).

Wie entgegnen Sie dem Vorwurf, dass das Internet 'die Öffentlichkeit' aufgrund der vielen Teilöffentlichkeiten die in ihm entstehen fragmentiert, Prozesse der sozialen Isolierung fördert und möglicherweise sogar neue, vorher nicht dagewesene Grenzen zieht? Inwiefern kann man überhaupt von 'der Öffentlichkeit' reden?

Das, was wir 'Öffentlichkeit' nennen, gab und gibt es immer nur im Plural. Die Öffentlichkeit der Leser einer Zeitung wie der FAZ ist eben eine andere als die Öffentlichkeit der BILD-Leser. Und die Öffentlichkeit der bürgerlichen Elite des 19. Jahrhunderts war eine andere als die Öffentlichkeit der schlesischen Weber. Die Entstehung digitaler Öffentlichkeiten kann die Öffentlichkeit oder das öffentliche Bewusstsein gar nicht unterminieren, weil es die Öffentlichkeit oder das öffentliche Bewusstsein im Singular nie gegeben hat. Was es allerdings unbestreitbarer Weise gibt, ist eine Zunahme medialer Plattformen zur öffentlichen sozialen Interaktion. Diese Pluralisierung von Öffentlichkeiten durch das Internet aber ist kein Nachteil, sondern ein Vorteil für eine demokratische Gesellschaft.

Es wird viel von den Möglichkeiten geredet, die die neue Öffentlichkeit für den politischen Diskurs und politische Beteiligungsmöglichkeiten bietet. Wo sehen Sie konkrete Gefahren?

Im gleichen Maße, in dem digitale Medien prinzipiell offene Plattformen für interaktive und partizipatorische Kommunikationen und Interaktionen bereitstellen, stellen sie auch neue Techniken der Überwachung und Beeinflussung eben dieser Kommunikationen und Interaktionen zur Verfügung. Der aktuelle Skandal um die Abhörmaßnahmen der NSA und anderer Geheimdienste ist hier sicher nur die äußerste Spitze des Eisbergs. Wir brauchen deswegen eine breite gesellschaftliche Debatte und wir brauchen mehr Medienkompetenz – sowohl bei den Nutzern, als auch bei Akteuren in der politischen Arena.

Stefan Münker

Stefan Münker ist Medienwissenschaftler und Publizist. Unter anderem unterrichtet er als Privatdozent an der HU-Berlin und arbeitet zurzeit als Kulturredakteur für das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Hier beschäftigt er sich insbesondere mit der Emergenz neuer, digitaler Öffentlichkeiten.