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DDR-Betriebe im Übergang – weniger gesellschaftliche Funktionen, mehr wirtschaftliche Freiheiten

Bernd Martens

/ 5 Minuten zu lesen

Die Warnow-Werft in Warnemünde, welche damals noch in Besitz der Treuhand war, aufgenommen 1992. (© picture alliance/Paul Glaser/dpa-Zentralbild/ZB)

Der Industriesoziologe Burkart Lutz schrieb 1995 in einer ersten Einschätzung der betrieblichen Transformation in Ostdeutschland, westliche Berater und Wissenschaftler hätten ihre gängigen Perspektiven, Begrifflichkeiten und Fragestellungen unreflektiert auf die Wirtschaftsbetriebe der DDR übertragen." Indem [...] die Betriebe der ehemaligen DDR nahezu ausschließlich durch die ‚Maske‘ der betrieblichen Realität im Westen gesehen wurden, war die Vernachlässigung schwerwiegender struktureller Probleme sowohl in der industriellen und politischen Praxis wie in deren wissenschaftlicher Begründung und Reflexion nachgerade unvermeidlich" (S. 138). Was aber unterschied Betriebe in der DDR von solchen im Westen? – Um diese Frage zu beantworten, ist es hilfreich, weiter auszuholen und die Geschichte der Industrialisierung in den Blick zu nehmen.

Die "thematische Reinigung" wirtschaftlicher Betriebe als langfristiger Trend

Mit der Ausweitung der Industriearbeit im 19. Jahrhundert erfasste die Rationalisierung, das heißt die planvolle Gestaltung und die Ausrichtung der Lebensführung auf produktive wirtschaftliche Zwecke, immer größere Teile der Bevölkerung. In deren subjektiver Wahrnehmung gab es jedoch keine strikte Trennung von Arbeit und privatem Leben. Zum einen standen dem – auch bei hohen Ausbeutungsgraden – die sehr langen Arbeitszeiten entgegen. Zum anderen finden sich aus dieser Zeit viele Klagen von Unternehmerseite über Faulheit, Schlamperei und Schlendrian der Arbeiter. "Nahezu die gesamte frühe Rationalisierungsliteratur kann – gegen den Strich – als Dokumentation der Existenz dichter lebensweltlicher Elemente in der Fabrik gelesen werden" (Lutz 1995, S. 141).

Im Fortgang der Entwicklung kam es zu einer wachsenden "Verzweckung der Betriebe" (diesen Begriff hat der Soziologe Goetz Briefs 1931 geprägt). Damit ist eine "fortschreitende Bereinigung der Betriebsstrukturen [...] von allen ‚sachfremden‘, nicht unmittelbar dem expliziten Betriebszweck dienenden Elementen, Funktionen und Leistungen" gemeint (Lutz 1995, S. 141). In der soziologischen Systemtheorie ist ganz ähnlich allgemein von der "thematischen Reinigung" sozialer Systeme die Rede, die als ein Wesenszug moderner Gesellschaften verstanden wird (Tyrell 2008, S. 89). Die Ausrichtung von Betrieben auf einen Zweck wurde durch sinkende Arbeitszeiten, eine wachsende Trennung von Arbeit und Freizeit sowie durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaates mit seinen betriebsunabhängigen Sicherungssystemen beschleunigt.

In der Bundesrepublik wurden nach 1949 diese Tendenzen fortgeführt. Betriebswirtschaftliche Diskussionen um "schlanke" Betriebsstrukturen oder um die Ausgliederung ("Outsourcing") von Aufgabenbereichen, die nicht zum Kerngeschäft von Unternehmen gehören, veranschaulichen den aktuellen Stand der Unternehmensentwicklung.

Die "Verbetrieblichung des sozialen Lebens" in der DDR

Losabschnitt in der DDR (Bild zum Download)

Für die DDR hingegen lässt sich ein Bruch mit diesem langfristigen Trend der Betriebsführung feststellen. "Der ‚real existierende Sozialismus‘ hatte [...] viele Zustände, Verhältnisse und Strukturen, die 1945 zum gemeinsamen Traditionsbestand der deutschen Industrie gehörten, nicht nur nicht beseitigt, sondern konserviert und weiter stabilisiert" (Lutz 1995, S. 147). Verschiedene Autoren, die sich mit der ökonomischen Transformation befasst haben, weisen auf eine grundsätzlich andersartige Funktion von Betrieben in der DDR hin: Betriebe waren der "zentrale Vergesellschaftskern im Realsozialismus" (Kohli 1994, S. 43). In ihnen wurde die soziale Versorgung in einem umfassenden Sinne sichergestellt. Hierzu gehörten beispielsweise Kinderbetreuung, medizinische Versorgung, Urlaubsplätze und sportliche oder kulturelle Aktivitäten [Abbildung 1]. Kennzeichnend für die DDR war eine "betriebszentrierte Sozialpolitik" (Kohli 1994, S. 42). Der Industriesoziologe Rudi Schmidt (1995, S. 459) schreibt von einer "Verbetrieblichung des sozialen Lebens". Zentral war dabei die Brigade, das Arbeitskollektiv, in dem auch Freizeitaktivitäten durchgeführt wurden. In den 1950er Jahren wurden nach sowjetischem Vorbild Arbeitsbrigaden in der DDR eingeführt, die unter dem Motto "sozialistisch arbeiten, lernen und leben" standen. Der letzte Aspekt "leben" wurde in den letzten zwei Jahrzehnten der DDR immer wichtiger, so dass manche Brigaden einen "Biertischsozialismus" pflegten oder zum "Ersatzverein" wurden. Legendär waren Brigadefeiern (Hübner 2009), denen Sighard Gille 1977 mit seinem Gemälde "Brigadefeier – Gerüstbauer" ein kontrovers diskutiertes Denkmal setzte (Externer Link: https://www.bildatlas-ddr-kunst.de/item/14682). 1988 bestanden 300.000 Brigaden in der DDR mit 5,5 Mio. Mitgliedern. Das entsprach etwa 75 % der Arbeitskräfte (Reichel 2011, S. 317).

Folgende Positionen mussten von den Betrieben bei der Planung der Kultur- und Sozialausgaben berücksichtigt werden (Interner Link: Grafik zum Download) (Formular 826 für VEB, Bildung und Verwendung des Kultur- und Sozialfonds, Carl Zeiss Archiv Jena, Signatur VA 5227) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Die Betriebe wurden, gerade im Gegensatz zu "schlanken" Unternehmen im Westen, in der DDR zu einer weiten Hineinnahme ("Insourcing") von sozialen Funktionen angehalten [Abbildung 2]. Der Anteil der Beschäftigten im Kultur- und Sozialbereich, bezogen auf die Gesamtzahl der Beschäftigten, lag bei durchschnittlich ca. 6 Prozent (vgl. Deich/Kohte 1997, S. 209). Die Summe der Zuwendungen für kulturelle und soziale Aktivitäten unterschied sich bei den einzelnen Volkseigenen Betrieben (VEB). Hier spielten u.a. Branchenzugehörigkeit, Zusammensetzung der Belegschaft, Betriebsstandort aber auch Unternehmenstraditionen eine Rolle. So war für die kulturellen Aktivitäten des VEB Carl Zeiss Jena (u.a. eine Stadt-Bibliothek, ein philharmonisches Orchester sowie insgesamt 108 Volkskunstkollektive, Arbeitsgemeinschaften und Zirkel, Stand 1979, Zeiss-Archiv, VA03224) wichtig, dass der Unternehmensgründer Ernst Abbe schon 1903 den Jenaer Bürgern ein Kulturhaus gestiftet hatte. Durchschnittlich wurden bezogen auf die Betriebe und die Beschäftigten in der DDR jährlich ungefähr Zuwendungen in der Größenordnung eines halben Monatsgehalts gewährt (Deich/Kohte 1997, S. 131) [Abbildung 3].

Planung des VEB Freiberger Präzisionsmechanik, Freiberg für das Jahr 1990 (Interner Link: Grafik zum Download) (Carl Zeiss Archiv Jena, Statistisches Jahrbuch der DDR 1990, S. 144) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Von der Betriebs- zur Zweckgemeinschaft

Mit der Wende von 1990 veränderte sich die Situation grundlegend. In einer frühen Darstellung werden diese Vorgänge treffend mit der Formel "von der Betriebs- zur Zweckgemeinschaft" beschrieben (Aderhold u.a. 1994). Die neuen ostdeutschen Unternehmen konnten durch die "thematische Reinigung" erstmals nach rein ökonomischen Effizienzkriterien operieren. Dies sozialverträglich zu gestalten, war jedoch nur möglich, weil zeitgleich ein umfassender Institutionentransfer stattfand, der für die Bereitstellung der weiterhin notwendigen wohlfahrtsstaatlichen Leistungen sorgte. Die "thematische Reinigung" der ursprünglich ganzheitlichen DDR-Betriebe bewirkte jedoch soziale Probleme, die bis heute nicht gelöst sind. Der Wegfall betrieblicher Leistungen ist nicht überall durch Institutionen aufgefangen worden. So konnten beispielsweise landwirtschaftliche Betriebe zwar nach der Wende ökonomisch "durchstarten". Es verbesserten sich aber nicht die allgemeinen Lebensbedingungen in ländlichen Regionen, weil vormalige Verpflichtungen der Betriebe z.B. für Infrastrukturangebote ersatzlos wegfielen.

Für die Belegschaften hatte der Umbruch einschneidende Folgen. Zusätzlich zum Verlust des Arbeitsplatzes brach die herkömmliche Betriebsgemeinschaft zusammen. Schmidt (1995a, S. 307) schreibt auf der Grundlage der Auswertung von Interviews, die er in ostdeutschen Betrieben geführt hatte, dass in der Rückschau von Betroffenen "weniger die Gratifikationen der ‚zweiten Lohntüte‘ [d.h. der betrieblichen Zuwendungen von den Mitarbeitern] vermisst werden, sondern der die Lebenswelt integrierende Charakter der Betriebe und die ‚warmen‘, ganzheitlichen betrieblichen Sozialbeziehungen". Hierbei spielte insbesondere die Auflösung der Brigaden eine Rolle, die im Rückblick des Historikers Thomas Reichel (2011, S. 330) eine alltägliche, selbstverständliche, unpolitische und positiv konnotierte Systemintegration der Werktätigen bewirkt hatten. Diese Verlusterfahrungen lassen sich an einer merklichen Veränderung des Freizeitverhaltens und einer Einschränkung der Kontakte zu Kollegen ablesen [Abbildung 4]. Schlägt man den Bogen zurück zu dem langfristigen Trend der "Verzweckung von Betrieben", so können die Folgen des ökonomischen Umbruchs in Ostdeutschland noch längst nicht als geklärt gelten. Man kann die Frage stellen, ob "die extreme Scheidung zwischen hochgradig bereinigten und verschlankten betrieblichen Produktions- und Arbeitsprozessen auf der einen Seite und privater Lebensführung wie öffentlicher Daseinsvorsorge auf der anderen Seite" (Lutz 1995, S. 157) nachhaltig sein wird. Die Antworten auf diese Frage fallen bis heute gegensätzlich aus.

Belegschaftsbefragungen in einem Thüringer Unternehmen der Metallverarbeitung in den Jahren 1995/96 und 2009, Frage: Verbringen Sie Freizeit mit Arbeitskollegen? (Interner Link: Grafik zum Download) (Belegschaftsbefragungen in einem Thüringer Unternehmen der Metallverarbeitung in den Jahren 1995/96 und 2009) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Quellen / Literatur

Aderhold, J. u.a., Von der Betriebs- zur Zweckgemeinschaft, Berlin 1994.

Deich, I./ Kohte, W., Betriebliche Sozialeinrichtungen, Opladen 1997.

Hübner, P., Die Brigadefeier, in: Sabrow, M. (Hrsg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 241-247.

Kohli, M., Die DDR als Arbeitsgesellschaft? Arbeit, Lebenslauf und soziale Differenzierung, in: Kaelble, H. / Kocka, J. / Zwahr, H. (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 31-61.

Lutz, B., Betriebe im realen Sozialismus als Lebensraum und Basisinstitution, in: Schmidt, R./ Lutz, B. (Hrsg.), Chancen und Risiken der industriellen Restrukturierung in Ostdeutschland, Berlin 1995, 135-158.

Reichel, T., "Sozialistisch arbeiten. Lernen und leben". Die Brigadebewegung in der DDR (1959-1989), Köln 2011.

Schmidt, R., Die Bedeutung der sozialen Beziehungen für die ostdeutsche Produktionsmodernisierung 6(1995), 455-462.

Schmidt, W., Metamorphosen des Betriebskollektivs, in: Soziale Welt 46(1995a), S. 305-325.

Tyrell, H., Soziale und gesellschaftliche Differenzierung, Wiesbaden 2008.

Fussnoten

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Weitere Inhalte

Dr. habil. Bernd Martens, studierte Soziologie, Informatik, Sozialgeschichte und Volkswirtschaftslehre in Hamburg. Von 2001-12 war er am Sonderforschungsbereich 580 "Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch" an der Universität Jena in einem Forschungsprojekt über wirtschaftliche Eliten im erweiterten Europa und als wissenschaftlicher Geschäftsführer tätig. Von 2013 bis 2017 arbeitete er am Zentrum für Sozialforschung an der Universität Halle in verschiedenen Forschungs- und Evaluationsprojekten. Von 2018 bis 2019 war er am DZHW (Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung) Berlin im Nacaps-Projekt tätig. Seit 2020 arbeitet er in der Außenstelle Leipzig des DZHW. (Nacaps steht für National Academics Panel Study und ist eine Längsschnittstudie des DZHW über Promovierende und Promovierte in Deutschland. In regelmäßigen Abständen befragt Nacaps bundesweit Promovierende und Promovierte zu ihren Promotionsbedingungen, Karriereabsichten und Karriereverläufen sowie zu ihren allgemeinen Lebensbedingungen.)