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Konfession und Landespolitik | Reformation: Luthers Thesen und die Folgen | bpb.de

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Konfession und Landespolitik

Axel Gotthard

/ 7 Minuten zu lesen

Die Konfession konnte die territoriale Identität verstärken und dem Herrscher sakrale Legitimität verleihen. Und das Reichsterritorium gewann neue Zuständigkeitsbereiche, Wirkfelder, Kompetenzen, für die früher die Kirche zuständig gewesen war; sowie die hierfür nötigen finanziellen Mittel.

Das Konfessionelle Zeitalter – es erstreckt sich in Mitteleuropa von 1555 bis 1648, vom Ersten bis zum Zweiten Religionsfrieden – interessiert Historiker noch gar nicht so lang. Traditionell nahm man nichts wahr als lauter leidige theologische Zänkereien, die überließ man gern der Kirchen- und Dogmengeschichte. Das änderte sich im letzten Fünftel des 20. Jahrhunderts, als zahlreiche Historiker das Konfessionelle Zeitalter regelrecht für die politische Geschichte, genauer: für die Vorgeschichte der modernen Staatlichkeit 'entdeckt' haben. Sie arbeiteten heraus, dass damals Konfession und Staatsbildung eine besonders innige Verbindung eingegangen sind. Es war ein innovativer und wichtiger Neuansatz, freilich wissen wir inzwischen, dass er für die Mitte Europas mit ihrer kleinparzellierten konfessionellen Konkurrenzsituation besser passt als für andere Teile des Kontinents. Und aus heutiger Warte verfuhren seine Protagonisten ferner allzu etatistisch (von l´État, französisch für Staat, meint also: man fokussierte allzu sehr den staatlichen Pol – indem man die Religion, unter Verkennung der tiefen Frömmigkeit aller damaliger Menschen und übrigens auch der Herrscher, zum bloßen Instrument der Staatsverdichtung herabwürdigte). Auf ihrem langen Weg vom mittelalterlichen Personenverband zum modernen institutionalisierten, durchbürokratisierten Flächenstaat erfuhr die Gemeinschaftsbildung "Staat" durch ihre innige Verschmelzung mit der Konfession einen Modernisierungsschub.

Jean Calvin. Porträt, Frankreich um 1555. (© picture-alliance/akg)

Von der engen Verzahnung Staat-Religion konnten beide profitieren. Die Konfession brauchte, um angesichts der neuen religiösen Konkurrenzsituation in einem Gemeinwesen die flächendeckend einzig maßgebliche zu werden oder zu bleiben, die Hilfe des Staates (beziehungsweise, in der Mitte Europas, des Reichsterritoriums) – der durch Personalpolitik, Propaganda und Zensur dafür sorgte, dass andere Konfessionen nicht Fuß fassten, durch gezielte Bildungspolitik eine Internalisierung der 'richtigen' Glaubensnormen verbürgte.

Was hatte der Staat davon? Erstens konnte die Konfession die territoriale Identität verstärken und dem Herrscher sakrale Legitimität verleihen – er profilierte sich als "defensor fidei", Verteidiger des einzig wahren Glaubens gegen die angrenzenden Ketzereien ringsum, sonntägliche kirchliche Fürbitten, im katholischen Barock auch vielfältige ikonographische Anspielungen hielten diese wichtige Rolle des "Landeshirten" stets präsent. Überhaupt war der Fürst nun eben für das Seelenheil seiner Untertanen verantwortlich, er erachtete dies als seine vornehmste Amtspflicht, evangelische Landesherren standen ja sogar an der Spitze "ihrer" Landeskirche.

Zweitens gewann das Reichsterritorium neue Zuständigkeitsbereiche, Wirkfelder, Kompetenzen; sowie die hierfür nötigen finanziellen Mittel. Die Armen- und Altenfürsorge, das Bildungswesen, Eheschließungen – das waren lauter Angelegenheiten, für die einmal, im Mittelalter, allein die Kirche zuständig gewesen war. Die Konfessionalisierung beschleunigte die Transformation solcher einst kirchlich-karitativer zu staatlichen Wirkfeldern. Es ist nun der Staat selbst, der sich um diese Dinge kümmert, oder es sind staatliche Kirchenbehörden bzw. doch solche (in katholischen Gebieten), die staatlich kontrolliert werden, etwa durch den "Geistlichen Rat", dem sowohl landesherrliche Juristen als auch Kleriker angehören. Der – nach heutigen Begriffen unvorstellbar kleine – staatliche Behördenapparat wird, um den neuen Aufgaben gerecht werden zu können, personell und institutionell ausgebaut. Der Staat kann sich das nun leisten, denn ihm gelingt ja der Zugriff auf die Ressourcen der Kirche. Evangelische Territorien sind hierbei im Vorteil: Sie ziehen das Kirchengut teils einfach ein (so die meisten Klöster), teils wird das einstige Kirchenvermögen in einem weiterhin getrennt verwalteten Fonds zusammengezogen, der nun freilich eben soziale Aktivitäten oder Bildungsanstrengungen des Staates finanziert. Altgläubige Obrigkeiten können lediglich versuchen, Aufsichts- und Kontrollrechte auszuüben, hier bleibt das Vermögen in Kirchenbesitz – katholische Territorien sind insofern ("aufgeklärte" katholische Herrscher beginnen es im 18. Jahrhundert zu beklagen) den evangelischen gegenüber strukturell benachteiligt.

Drittens kann die Staatsgewalt einen traditionellen, im Mittelalter oft genug äußerst selbstbewussten Konkurrenten, eben die Amtskirche, domestizieren; vor allem aber seine und ihre Schäfchen, er diszipliniert die Untertanen. Auf evangelischer Seite wird die Kirche zu einem Zweig der Landesverwaltung. Dies vor Augen, versuchen auch katholische Herrscher noch energischer als vordem, Verfügungsrechte an sich zu reißen. Die Kirche kommt in den Griff des Staates, in katholischen Gebieten mehr denn je, in evangelischen ganz und gar. Und die domestizierte Kirche hilft dem Landesherrn beim Regieren. Nur mit Hilfe der kirchlichen Manpower, über Kanzel, Beichtkabine und fromme Publizistik, kann der Staat hoffen, Gehirne und Herzen seiner Untertanen tatsächlich zu erreichen. Es gilt einem – jedenfalls in den Augen der hauptstädtischen Eliten – noch recht wilden und vergnügungssüchtigen Volk Arbeitsamkeit und Diszplin einzubleuen, am Ende so erfolgreich, dass der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts mit diesen Menschen seine Fabriken betreiben kann. Der vormoderne Staat wird jahrhundertelang daran arbeiten (man bezeichnet es manchmal, mit einem – weil nämlich erneut der Etatismusvorwurf greift – umstrittenen Begriff, als staatliche "Sozialdisziplinierung"), aber jetzt gibt es einen deutlichen Schub. Konsistorium wie Regierungskanzlei, Amtmann und Pfarrer arbeiten an dieser Front Hand in Hand.

QuellentextInstruktion Herzog Maximilians von Bayern für seine Rentmeister

Maximilians Instruktion vom 22. April 1613 zeigt, wie "Sozialdisziplinierung" (die Obrigkeit will "gehorsame", disziplinierte, arbeitsame Untertanen), "Gegenreformation" (Bekämpfung abweichender Glaubensüberzeugungen mit Hilfe der staatlichen Gewalt) und "katholische Reform" (spirituelle Selbsterneuerung des Katholizismus) Hand in Hand gingen. Im Folgenden steht Fettdruck für "Sozialdisziplinierung", kursive Schrift für "Gegenreformation", unterstrichene Passagen sind eher unter "Reform" der Institution Kirche und des Klerus zu rubrizieren; die Übergänge sind freilich oft fließend.

Die im Text erwähnten "Martersäulen" sind Bildstöcke (in Süddeutschland und Österreich noch heute "Marterln" genannt): also Säulen oder Pfeiler mit frommen Gemälden oder Reliefs, die unterwegs zum Beten anregen wollen.

" ... Uber daß so soll er auch sein vleissig nachforschung haben, ob der gottsdienst durch die pfarer und seelsorger aller orthen vleissig, andechtig, auch ordenlich und zu rechter zeit verricht und gehalten werde ... Die marterseylen bey den wegen, landt- und andern strassen sollen ... underhalten und die nidergefallnen restauriert und wider aufgesetzt werden. Nit weniger schaffen wir hiemit unserm rentmaister, daß er allen obrigkheiten mit ernst einbinden solle, ir vleissig obacht und spechen zu halten ["spähen", also: auskundschaften], damit nit durch die puechfüehrer oder andere durchraißende und sonderlich sectische handwerchsgesellen lutterische, calvinische, widerthaufferische und andere khetzerische gesang, thractätlein oder püecher und gemöhl in ihren verwaltungen eingeschleicht, verkhauft oder verschenckht werden; wie es dann mit andern püechern und gemälden, so gleichwol nichts von der religion, sondern von puellerey und andern leichtfertigkheiten, so wider guete sütten, ehr und erbarkheit sein [meint: Liebesszenen, zumal wenig `züchtige´], tractiern und dem gemainen mann, auch jungen unverstendigen leüthen zu lastern und unthugenden anraitzung geben, ein gleiche mainung hat ... In gleichem soll er auch vleissig erkhundigung einziechen, ob nit die underthonen, sonderlich die, so an den sectischen grenitzen ... wohnen, denselben orten zulauffen, ire predigen und nachtmal besuechen, andere darzu persuadiern, verführn und verhetzen, deßwegen sy zusamenrottiern ... Weiln auch ein guete anzahl pfarrn in unserm landt durch ordenspersohnen und conventualn auß den clöstern versechen werden, so soll er in still" herausbekommen, ob sich die "geistliche persohnen irem standt und orden gemeß in der lehr, leben und wandel erweisen oder ob sy nit disem zugegen sich mit volsauffen, leichtfertigkheit, besuechung der würthsheüser, spill- und khugelpletz, auch tantzheüser ergerlich verhalten ..."

Quelle: Albrecht Pius Luttenberger (Hg.), Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit, Bd. 17: Katholische Reform und Konfessionalisierung, Darmstadt 2006.

Machen wir es uns am Beispiel des Dorfpfarrers bzw. -priesters klar! Er war der einzige stets anwesende Fremde im Dorf, der als Weisungsgebender oder Kontrolleur obrigkeitliche Aufgaben wahrnehmen konnte. Er entstammte nicht dem dörflichen Klüngel. Die regionalen Honoratioren vertraten ja ausschließlich ihre Interessen und bestenfalls die ihres Dorfes, ihrer Kleinstadt, jedenfalls nicht die der fernen Zentrale, wo kaum einer von ihnen auch nur einmal in seinem Leben gewesen war. Selbst in die nächste größere Stadt, wo ein einziger Amtmann die Belange der fernen Zentrale hochhielt, werden viele kaum je gekommen sein. Man war und blieb im Dorf unter sich. Der Pfarrer aber war fremd, bezog auch sein Gehalt von auswärts, bald hatte er ferner studiert, war er gebildet. Er hatte eine gewisse amtsgegebene Autorität – zum Beispiel, weil die Gemeindemitglieder regelmäßig bei ihm beichten mussten, er andernfalls die Zulassung zur Kommunion entziehen konnte. Der Mann konnte für die unter den damaligen Kommunikationsbedingungen weit, weit entfernte Zentrale schon nützlich sein. Die Kirche begann, kontinuierlich und systematisch Geburts- oder Tauf-, Ehe- und Sterbebücher zu führen; und ermöglichte erst dadurch dem Staat sein planendes und regulierendes Eingreifen, etwa das, was man bald, im Absolutismus, "Peuplierungspolitik" nennen wird.

Mit der Distanz der Jahrhunderte und des abstrahierenden Forschers gesehen, überwiegen bei dieser obrigkeitlichen "Sozialdisziplinierung" mit Hilfe der Kirche strukturelle Gemeinsamkeiten in allen konfessionellen Lagern die für die Zeitgenossen eklatanten Unterschiede im Detail. Auch die Forschung hat letztere lange Zeit überwiegend in den Blick genommenen. Natürlich waren die Methoden der Beeinflussung und Disziplinierung je und je etwas anders – die Ohrenbeichte war ein in katholischen Gemeinden wirksames Instrument; der Calvinismus überwachte die "Kirchenzucht" mit einer Art 'Sittenpolizei'; die Verhaltenssteuerung durch sonntägliche Predigt war im Luthertum am ausgeprägtesten; dafür die Inquisition wiederum katholisch. Auch die Glaubensnormen wichen natürlich voneinander ab, die "Kontroverstheologie" der Zeit strich das ja auch weidlich heraus. Aber die Verhaltensnormen? Die Ethik, die eingeimpft werden sollte, kommt uns Heutigen doch auf allen Seiten sehr ähnlich vor.

Was wissen wir bis jetzt? Der Staat gewinnt durch die innige Verschränkung mit der Konfession neue Kompetenzen, und er gewinnt neue Zugänge zu den Köpfen seiner Untertanen. Außerdem erfährt der noch unfertige Staat eine Identitätsverstärkung – vom Nachbarn trennen nicht mehr lediglich unscharfe, vielfach strittige Grenzen und kaum embryonal vorhandener Patriotismus, trennt nun die Konfession.

Wenn da Identitätsverstärkung durch Kontrastierung gesucht wurde, lässt uns das ahnen, dass der Konfessionalisierung nicht nur modernisierende, sondern auch konflikt-, ja, sogar kriegstreibende Wirkungen immanent gewesen sind. Und tatsächlich, das Konfessionelle Zeitalter ist überhaupt kein friedliches gewesen. Sogar die Datierung war alsbald strittig! Schuld war die "Gregorianische Kalenderreform". Um was ging es dabei? Der alten, noch auf Cäsar zurückgehenden Julianischen Zeitrechnung lag ein etwas zu langes Jahr zugrunde. Deshalb hatten sich der objektiv gegebenen Zeit gegenüber Abweichungen eingeschlichen und summiert, die im späten 16. Jahrhundert fast zwei Wochen betrugen – die Jahreszeiten drohten sich gewissermaßen zu verschieben. Die erforderlichen Anpassungen verfügte 1582 Papst Gregor XIII. Künftige Fehlzeiten sollte eine Reduktion der Schaltjahre vereiteln. Und die bereits angehäuften "Überzeiten"? Die reduzierte Gregor, indem er zehn Tage überspringen ließ. Auf den 4. Oktober 1582 würde sogleich der 15. Oktober folgen. Gregor hatte, naturwissenschaftlich gesehen, Recht damit. Und er hätte, als einzige überstaatliche Instanz Europas, für eine derartige, überstaatlich wichtige Angelegenheit auch durchaus der geeignete Impulsgeber sein können. Eigentlich – wenn wir uns nicht im Konfessionellen Zeitalter befänden!

Für einen aufrechten Protestanten war der neue Kalender natürlich "katholisch", und natürlich machte er diesen Unsinn nicht mit. Europa war also künftig auch in der Zeitrechnung zweigeteilt. Die Katholiken waren den Protestanten um zehn Tage voraus, was auch heißt: Sie lebten je und je an einem anderen Wochentag, wenn für den einen Sonntag war, ging der andere seinem Tagwerk nach und umgekehrt. Es hat viele Reibereien deshalb gegeben, die meisten im politisch wie konfessionell kleinparzellierten Reich, die allermeisten in denjenigen Reichsstädten, denen der Augsburger Religionsfrieden von 1555 auferlegt hat, beide Konfessionen innerhalb der Stadtmauern hinzunehmen. Legte der Stadtrat für die einen zu Recht Weihnachtspause ein, lebten andere mental schon am 3. Januar. Wann war das Verhältnis zwischen den Konfessionen denn endlich so entspannt, dass man wieder dieselbe Datierung pflegen konnte? Die meisten evangelischen Reichsterritorien führten den neuen Kalender im Jahr 1700 ein, England und Schweden ließen sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts Zeit. Übrigens folgten die orthodoxen Kirchen des Ostens dem Gregorianischen Kalender auch nach 1700 nicht. Die berühmte russische Oktoberrevolution von 1917 fand nach heutiger Datierung am 7. November statt. Aber für uns war das Datierungsproblem nur ein kleiner Indikator dafür, dass das Konfessionelle Zeitalter überhaupt kein friedliches gewesen ist. Das merken wir erst recht, wenn wir uns der Reichspolitik zuwenden.

Prof. Dr. Axel Gotthard ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehören Historische Friedens- und Konfliktforschung, vormoderne Verräumlichungspraktiken, die Bedeutung der Konfession und von Säkularisierungsprozessen für die europäische Geschichte und die politische, Kultur- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen, u.a. "Das Alte Reich 1495-1806, Darmstadt 2003", "Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004", "Der liebe vnd werthe Fried. Kriegskonzepte und Neutralitätsvorstellungen in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2014"; zuletzt erschien (September 2016) "Der Dreißigjährige Krieg. Eine Einführung."