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Soviel Anfang war nie

Michael Bechtel

/ 3 Minuten zu lesen

Der Mai 1945 gilt als "Stunde Null" der deutschen Geschichte. Aber was genau hatte sich alles verändert? Wieso konnte, kann Deutschland danach nie wieder so sein wie zuvor? Und wofür steht das Jahr 1945 heute? Michael Bechtel über die Lehren und Verpflichtungen der Geschichte.

Ein 16-jähriger Wehrmachtssoldat gerät während der alliierten Invasion in der Normandie in Kriegsgefangenschaft. (© AP)

Eine neue Weltordnung

1945 ist Ende und Anfang zugleich. 1945 geschah nichts, was nicht lange vorbereitet war, wurde wenig beschlossen, was nicht längst entschieden war. Lawinen, die Deutschland losgetreten hat, endeten ihren zerstörerischen Lauf. Als der Kriegslärm verstummte und die Toten begraben waren, mischte sich auch in die Freude der Sieger die beklemmende Erkenntnis, daß die Welt kaum wiederzuerkennen war:

  • Auschwitz zeigte, zu welchen Formen der Barbarei Menschen in der Lage sind.

  • Hiroshima mahnte, daß die Menschheit sich durch Atombomben selbst umbringen kann.

  • Stalin nutzte die Chance, die osteuropäischen Völker zu unterjochen und seine Herrschaft bis zur Elbe auszudehnen.

  • Die Welt lebte fortan im Schatten der Konfrontation zweier politischer und ideologischer Lager, die bei Strafe des atomaren Holocaust keinen offenen Krieg mehr führen konnten.

  • Deutschland sollte bis zum Auseinanderbrechen des sowjetischen Imperiums 45 Jahre lang geteilt sein.

  • Die Westdeutschen konnten sich als Bündnispartner bald (relative) Gleichberechtigung und vielbeneideten Wohlstand erarbeiten.

1945 steht also für den Beginn einer Nachkriegsordnung, die bis zum Ende der 80er Jahre die Welt prägte. Sie ist heute schon Vergangenheit.

Eine andere Gesellschaft

1945 steht in der Erinnerung der Menschen, die es durchlitten haben, für Tod in den Bombennächten, für Kriegsgefangenschaft, für das Leben in zerstörten Städten, für Hunger und Demütigung. Millionen verloren ihre Heimat. Vieles von dem Leid, das sie in die Welt gebracht hatten, war auf die Deutschen zurückgefallen.

Die Menschen erinnern sich an die große Erleichterung, daß der Krieg vorbei war, an die Freude überlebt zu haben. Sie ist vielfach überlagert von Ängsten. Viele konnten sich die Zeit nach der Niederlage nur als Katastrophe und Versklavung vorstellen – ganz in dem Sinne, wie sich die deutsche Besatzungsmacht anderswo aufgeführt hatte.

Die Menschen verdrängten: Wer noch im Oktober 1948 die Frage "Halten Sie den Nationalsozialismus für eine gute Idee, die schlecht ausgeführt wurde?" mit ja beantwortete, der hat sich 1945 sicher nicht befreit gefühlt. Das waren in den Westzonen 57 Prozent der Deutschen. Die meisten wollten von Krieg und von Ideologien, vielfach von Politik nichts mehr wissen, sondern sich möglichst ungestört eine neue wirtschaftliche Existenz schaffen. Dafür erwies sich die verordnete Demokratie als idealer Rahmen. Die Sieger haben es den Deutschen im Westen ermöglicht, sich allmählich in eine weltoffene, liberale und demokratische Ordnung einzuleben, sie nicht nur hinzunehmen, sondern anzunehmen.

  • Ein Austausch von Eliten hat stattgefunden, politische und gesellschaftliche Spitzenpositionen wurden von Menschen neu besetzt, die überzeugte Anhänger demokratischer Regeln waren oder diese zumindest akzeptierten – auch wenn es Skandale um ehemalige Nazis in wichtigen Ämtern gab.

  • Dem deutschen Militarismus war das Rückgrat gebrochen, das Leitbild des Soldatischen spielte für die Mehrheit der Deutschen keine Rolle mehr.

  • Die Politik der Nazis, der Krieg und der Zusammenbruch haben die deutsche Gesellschaft von Grund auf verändert. Alte Bindungen wurden zerstört, Traditionen gebrochen. Die Bomben zerstören nicht nur Wohnviertel, sondern soziale Milieus, Nachbarschaften, Subkulturen; Wanderungsbewegungen ebneten landsmannschaftliche und religiöse Unterschiede und Gegensätze ein.

  • Das alte Parteiensystem der Weimarer Republik wurde nicht restauriert.

  • Auch die Arbeiterbewegung überwand, jedenfalls im Westen, weitgehend ihre Spaltung – nicht zuletzt dadurch, dass die Kommunisten an Einfluß verloren. Die Gewerkschaften entstanden als Einheitsgewerkschaften neu.

Eine Verpflichtung für die Zukunft

1945 steht für ein Wendepunkt der deutschen Geschichte, für die Abwendung der Deutschen von weltverbesserischem Dünkel und Nationalsozialismus, für ihre Hinwendung zu freiheitlichem Leben und Denken. Nur so sind aus den Verlierern von damals am Ende Gewinner geworden. Mit dem Pathos, das uns heutigen schwerfällt, aber vielleicht dem Thema doch angemessen ist: 1945 ist das Geburtsjahr einer neuen, demokratischen deutschen Nation, die nicht mehr über andere herrschen will, die gelernt hat, zu leben und leben zu lassen.

Das ist alles andere als ein Schlußstrich unter die Vergangenheit. Aus ihr zu lernen heißt, die Irrtümer und Verfehlungen zu kennen, die in die Katastrophe geführt haben, heißt auch, um die Schuld der Vorfahren zu wissen. Die Kinder und Enkel müssen wissen, daß der 8. Mai 1945 das Datum ist, an dem seinen Anfang nahm, was für die Zukunft zu bewahren ist: ein Leben in Freiheit, Menschlichkeit, Toleranz und demokratischer Selbstbestimmung. Dazu gehört für die vereinten Deutschen die noch sehr neue Verpflichtung, für diese Werte in einer konfliktreichen Welt einzustehen.

Quellen / Literatur

Auszug aus: PZ-Extra (Nr. 81/1995) - Soviel Anfang war nie

Fussnoten

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