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Die Wahrheit soll leben – das Untergrundarchiv im Warschauer Ghetto

Samuel D. Kassow

/ 9 Minuten zu lesen

Bis heute ist das geheime Archiv des Warschauer Ghettos eine bedeutsame Quelle. Auch der Film "Geheimsache Ghettofilm" greift auf das Material zurück. Der Historiker Samuel D. Kassow hat in seinem international anerkannten Buch die Geschichte des Archivs aufgeschrieben. bpb.de sprach mit Kassow über die mutigen Männer und Frauen hinter dem Archiv.

Samuel D. Kassow (© Lisa Pleskow)

Im November 1941 gründeten der jüdische Historiker Emanuel Ringelblum und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter das Untergrundarchiv "Oneg Schabbat" – "Freude am Sabbat". Sie dokumentierten für die Nachwelt minutiös das Leben im Warschauer Ghetto, ebenso die Tage vor ihrer eigenen Ermordung. Der Historiker Samuel D. Kassow schildert in seinem international anerkannten Buch "Ringelblums Vermächtnis" die Entstehung des geheimen Archivs, er erzählt die Lebensgeschichten der Macher und Macherinnen. Teile des Archivs konnten gerettet werden: Das überlieferte Material bietet bis heute wichtige Einblicke in das Leben im Ghetto. Auch Yael Hersonski lässt in ihrem Film "Geheimsache Ghettofilm" Berichte aus dem Untergrundarchiv einfließen, um den propagandistischen Filmaufnahmen der deutschen Besatzer im Warschauer Ghetto im Mai 1942 das wirkliche Leben entgegenzusetzen. Im Gespräch mit bpb.de bewertet Samuel Kassow das Archiv als kulturellen Widerstand.

Herr Kassow, Sie sind der erste, der die Geschichte des Ringelblum-Archivs so intensiv erforscht und aufgeschrieben hat. Warum hat es fast 60 Jahre gedauert, nachdem die ersten Teile des Archivs 1946 gefunden wurden, dass solch eine wichtige Arbeit entstanden ist?

Ich bin nicht wirklich der erste. Die polnische Historikerin Ruta Sakowska hat ebenfalls zum Ringelblum-Archiv geforscht. Doch ihre Arbeiten dazu wurden nicht aus dem Polnischen übersetzt. Auch unterscheiden sich unsere Herangehensweisen, sodass die Frage berechtigt bleibt: Wieso hat es so lange gedauert?

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen die physische Vernichtung der polnischen Juden. Ebenso das Auslöschen ihrer komplexen Kultur, eine wichtige Basis für den Aufbau des Ringelblum-Archivs. Dieser Verlust ließ das wissenschaftliche Interesse am polnischen Judentum schwinden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war es einfacher, die getöteten Juden als Kollektiv zu begreifen, als gesichtslose Opfer. Anstatt tatsächlich zu erforschen, wie diese Menschen gelebt hatten, welche Hoffnungen sie hatten, wie sie im Alltag auf die deutsche Besatzung reagiert hatten.

Mehr Das Ringelblum-Archiv

Wer waren die Mitstreiterinnen und Mitstreiter von Emanuel Ringelblum? Wie kann man sich ein Untergrundarchiv vorstellen? Interner Link: "Das Ringelblum-Archiv" liefert weitere Informationen zum geheimen Archiv im Warschauer Ghetto.

Zum anderen gestaltet sich wissenschaftliche Forschung sehr viel einfacher, wenn man auf ordentliche Dokumente zurückgreifen kann. Diese gibt es vor allem von den Tätern, nicht von den Opfern. Die Erforschung der Tätergeschichte ist deshalb sehr viel umfangreicher. Dass die Forschung über die Opfer weniger umfangreich ist, ergibt sich aus der Zwangsläufigkeit, dass ihre Dokumente ungeordnet sind. Das gilt auch für das Ringelblum-Archiv: Es war ein "work-in-progress", eine fortlaufende Arbeit unter großen emotionalen Strapazen. Wenn sie sich die Dokumente anschauen, dann schlagen sie die Hände über dem Kopf zusammen, so uneinheitlich ist die Sammlung.

Außerdem ist es schwierig, einen persönlichen Zugang zum Ringelblum-Archiv selbst zu finden. Ich habe lange Zeit gebraucht, um herauszufinden, wie ich solch ein Buch gestalten möchte, um wirklich die Idee des Archivs herauszuarbeiten. Und um seine Geschichte mit der Kultur des polnischen Judentums vor dem Zweiten Weltkrieg zu verknüpfen.

Die Aufarbeitung des Untergrundarchivs war auch eine ganz praktische Herausforderung. Die Mitglieder des Oneg Schabbat fertigten von jedem Dokument drei Kopien an. Doch ihnen blieb keine Zeit, diese zu indexieren. Sie vergruben die Dokumente wenige Tage nachdem die SS damit begonnen hatte, das Ghetto aufzulösen und jeden zu verhaften.

Als der erste Teil des Archivs im August 1942 vergraben wurde, standen die Mitglieder des Oneg Schabbat unter großem emotionalem Stress und sie waren ganz einfach in Lebensgefahr. Sie steckten das Material unsortiert in verschiedene Behälter. Es gab keine systematische Klassifikation der Dokumente und Kopien als der erste Teil des Archivs vergraben wurde. Außerdem erlitten manche Dokumente Wasserschäden und waren später nicht mehr lesbar.

In den Jahren 1946 und 1950 wurden Teile des geheimen Archivs gefunden. Insgesamt konnten 30.000 Blatt des Archivmaterials gerettet werden. Danach, wie auf dem Foto zu sehen, wurden die zahlreichen Dokumente gesichtet, ausgewertet und katalogisiert. (© Yad Vashem, 8839/1)

Nach dem Fund des Archivs ging es darum, tausende und tausende Dokumente durchzuarbeiten, um Duplikate zu finden, die in verschiedenen Behältern waren und diese zusammenzuführen. Es war wie ein Puzzlespiel. Die Dokumente blieben in Warschau, Kopien gingen nach Jerusalem und Washington. Das Archiv wurde erstmals in Polen in den Jahren 1946 und 1950 katalogisiert. Vor wenigen Jahren hat das US Holocaust Memorial Museum gemeinsam mit der Indiana University Press einen modernen und aktuellen Katalog herausgegeben mit über 500 Seiten.

Reden wir über Emanuel Ringelblum selbst. Er war Historiker, Schullehrer und Aktivist. Er war Ehemann und Vater. Sein Interesse galt der säkularen jüdischen Kultur und zugleich war er ein polnischer Patriot. Wie sehen Sie Emanuel Ringelblum?

Er war das Produkt jener Generation polnischer Juden, geboren um das Jahr 1900, die im Laufe des Ersten Weltkriegs heranwuchsen. Anschließend fanden sie sich als Erwachsene in der polnischen Republik wieder. Dort waren Juden in der Theorie gleichberechtigte Bürger, in der Praxis aber waren sie Bürger zweiter Klasse bis hin zu Ausgestoßenen. Damit schlug die polnische Mehrheit einer gesamten Generation von Juden die Tür vor der Nase zu.

Diese junge Generation polnischer Juden suchte deshalb eine Art emotionaler Kompensation in Ideologien, in Jugendbewegungen, in Gemeindearbeit. Viele jüdische Jugendliche gingen in politische Parteien. Auch wenn diese Parteien keine wirkliche Macht hatten, waren sie stark ideologisch geprägt – sie brauchten keine Kompromisse einzugehen. Die Parteien wurden für viele quasi zu Ersatzfamilien. Auch für Ringelblum, er lernte seine Frau bei der politischen Arbeit kennen.

Die Ironie hierbei ist, dass obwohl die polnische Mehrheit die Juden zurückwies, diese trotzdem eine Art imaginärer Zuflucht in der polnischen Kultur und Literatur fanden. Sie waren in Polen erzogen worden, sie kannten die polnische Kultur. Sie nahmen die Polen selbst zum Großteil als antisemitisch wahr, aber zugleich bot ihnen die polnische Kultur eine große Inspiration. So zum Beispiel die Poeten Adam Mickiewicz oder Julius Słowacki – im Grunde die gesamte Romantik. Dort fanden sie den Traum von Freiheit und Toleranz. Je mehr die polnische Nation selbst antisemitisch wurde, desto mehr bot die polnische Kultur den jungen polnischen Juden Trost.

Emanuel Ringelblum und seine Gefährten riskierten ihre Leben, um das Untergrundarchiv aufzubauen. Was trieb sie an, die Geschichte, die Leben und das Leid der Menschen im Warschauer Ghetto zu dokumentieren? War es der Traum von Freiheit?

Es gab verschiedene Phasen der Arbeit. Zunächst war den Menschen im Ghetto nicht klar, dass sie allesamt ermordet werden sollten. Man sammelte Dokumente für die Zeit nach dem Krieg. Man wollte festhalten, wie sich das Leben im Ghetto gestaltete, welche Persönlichkeiten wichtig waren und so weiter. Ringelblum selbst war ein Marxist, er richtete sich gegen das Großbürgertum und den Kapitalismus. Ich glaube, er hatte die Hoffnung, dass sich das polnische Judentum nach dem Krieg politisch sehr progressiv entwickeln würde.

Es war die größte jüdische Gemeinde Europas: In Warschau lebten 1939 rund 400.000 Juden. Nur wenige überlebten die deutsche Besatzung. Der Soldat und gelernte Fotograf Willi Georg machte das Foto im Sommer 1941: Ein Offizier schickte ihn ins Ghetto, um zu fotografieren. Die Polizei griff Georg auf; nur durch Glück konnte er vier von fünf Filmrollen retten. Die Fotos wurden 1993 erstmals veröffentlicht. (© U.S. Holocaust Memorial Museum, mit Genehmigung von Rafael Scharf, 20635)

Als jedoch klar wurde, dass der Krieg nicht bald enden würde, als mehr und mehr Menschen im Ghetto verhungerten und als sich Gerüchte von Massentötungen verbreiteten, die sich nach und nach bestätigten, entwickelte sich ein neuer Impetus. Diese Motivation wird deutlich im Originaltitel meines Buches: "Who Will Write Our History?" – "Wer wird unsere Geschichte aufschreiben?"

Ringelblum wusste, dass die Deutschen die Juden töten wollten und dass dann die Deutschen die Geschichte der Juden aufzeichnen und bestimmen würden. Hinweise gab es genug: Filme, wie "Der ewige Jude" wurden überall in Europa gezeigt. Juden wurden mit Ratten und Parasiten verglichen. Dann kam im Mai 1942 ein Filmteam ins Warschauer Ghetto. [Anmerk. d. Red.: Vom 2. Mai bis zum 2. Juni 1942 drehte eine deutsches Filmteam im Warschauer Ghetto. Mit dem damals entstandenen Propagandamaterial setzt sich der Film "Geheimsache Ghettofilm" von Yael Hersonski auseinander.]

Die Vorstellung, dass die Deutschen nicht nur den Krieg gewinnen sollten, sondern auch kontrollieren wollten, wie die ausgerottete jüdische Bevölkerung in der Erinnerung künftigen Generationen erscheinen würde, war unfassbar. Deshalb wollten die Mitglieder des Oneg Schabbat mit dem gesammelten Material quasi Zeitkapseln hinterlassen – auch wenn sie selbst sterben sollten. Künftige Generationen sollten auch jüdische Quellen haben, nicht nur deutsche, um die Wahrheit über die Geschichte der Juden zu erfahren.

Um diese Zeitkapseln zu erstellen, also die Geschichte der Juden festzuhalten, wollte Ringelblum ein präzises Abbild des Lebens im Ghetto schaffen. Er bat seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter, Menschen aus ganz unterschiedlichen sozialen Schichten, ihre Erlebnisse und Gedanken unmittelbar aufzuschreiben. Herr Kassow, Sie haben all diese einzigartigen Dokumente durchgearbeitet: Wie würden Sie den alltäglichen Kampf der Menschen im Ghetto beschreiben?

Im Ghetto lebten zweitweise etwa 460.000 Menschen. Um zu überleben, brauchte man auch eine Portion Glück: Jene, die ihr persönliches Eigentum hatten verstecken können, konnten sich glücklich schätzen. Jene, deren Häuser zufälligerweise im Ghettobereich lagen, mussten nicht zwangsweise umziehen. Jene, die in der Provinz lebten, wurden binnen Minuten aus ihren Häusern hinausgeworfen; sie wurden als Flüchtlinge im Ghetto quasi abgeladen. Glück bedeutete auch, die richtigen Kontakte zu haben. Jene, die ein Geschäft hatten und irgendetwas herstellten, das sie aus dem Ghetto herausschmuggeln konnten, wie Schuhe oder Bürsten, und die Kontakte zu Polen hatten, konnten etwas Geld verdienen. Im Ghetto gab es eine große soziale Bandbreite.

Als im Juli 1942 die großen Deportationen und die Ermordung der Juden des Warschauer Ghettos begannen, waren 80 Prozent der ursprünglichen Ghettobevölkerung noch am Leben. Die Menschen kämpften hart für ihr Überleben, sie wollten nicht verhungern.

Emanuel Ringelblum verfolgte mit dem Archiv nachdrücklich ein Ziel: Er wollte, was er als das stille Heldentum der jüdischen Massen bezeichnete herausstellen. Er ahnte, dass die Geschichte eines gewöhnlichen Menschen im Warschauer Ghetto, der versuchte seiner Familie und seinen Nachbarn zu helfen, der trotz der Verfolgung versuchte, seine Würde zu bewahren und sich nicht verformen zu lassen, dass dieser gewöhnliche Bürger keine Spuren hinterlassen würde. Diese Menschen würden alle ermordet werden. Sie würden in den Gaskammern verschwinden ohne jegliche Hoffnung, ein Echo zu hinterlassen.

Ebenso wollte Ringelblum, dass das Archiv die objektive Geschichte des Ghettos erzählt – nämlich inklusive der jüdischen Polizei, der Korruption, der Denunziation. Das war ein unschöner Teil des Ghettolebens. Aber Ringelblum war davon überzeugt, solange sie die ganze Wahrheit erzählten und nichts ausließen, würden Historiker später die tatsächliche Geschichte des Ghettos erkennen. Auch das stille Heldentum der Massen, das nicht offensichtlich war. Diese Tapferkeit, die nichts mit einer bewaffneten Rebellion zu tun hatte. Es war das Heldentum gewöhnlicher Juden, die versuchten menschlich und mitfühlend zu bleiben.

Diese sozialen Strukturen im Warschauer Ghetto beschreiben Sie auch in Ihrem Buch. Sie sprechen sogar von einer Art öffentlichem Raum, der entstand. Zumindest in den Jahren 1940 und 1941 gab es ein Netzwerk von Hilfsorganisationen und Hauskomitees, die durch verschiedene Aktionen die Hausmitbewohner unterstützten. Ihrer Meinung nach war im Warschauer Ghetto mehr Raum für solche Strukturen als in anderen Ghettos. Was war anders in Warschau?

Jedes Ghetto war anders. Aber im Warschauer Ghetto gab es ein paar Besonderheiten. Es lag – anders als zum Beispiel das Ghetto in Łódź ("Litzmannstadt") – im Generalgouvernement, also dem nicht vom Deutschen Reich einverleibten Mittelteil Polens. [Anmerk. d. Red.: Das Generalgouvernement war von den Deutschen besetztes polnisches Gebiet und wurde von einer deutschen Regierung und Administration verwaltet. Łódź, Litzmannstadt, lag auf annektiertem Gebiet im Deutschen Reich.] Das machte einen Unterschied. Auf der "arischen" Seite des Warschauer Ghettos lebten Polen, keine Volksdeutschen. Die Polen und die Juden schätzten sich zwar nicht besonders, aber sie vereinte ihr Hass auf die Deutschen. Die Juden konnten mit den Polen Geschäfte machen, es gab wirtschaftliche Verflechtungen.

Im Warschauer Ghetto entstanden 1940 und 1941 zahlreiche Hilfsorganisationen und -projekte: Suppenküchen, Krankenhäuser, Waisenheime. Doch nur kurzfristig konnten die Helferinnen und Helfer gegen Hunger und Elend ankommen. Das Foto gehört zu einem Album des jüdischen Joint Distribution Committee des Warschauer Ghettos. Dieses ließ im Frühjahr 1940 Fotos der verschiedenen Hilfsmaßnahmen machen. (© Yad Vashem, FA34/1954)

Das Warschauer Ghetto war nicht komplett abgeriegelt – trotz der Ghettomauern. So wurden schätzungsweise 80 Prozent des Kalorienbedarfs der Ghettoinsassen hineingeschmuggelt. Łódź ("Litzmannstadt") beispielswiese war vollständig abgesperrt, es gab keinen Schmuggel. Jeder war dort auf die offiziellen Essensrationen angewiesen. Das gab der jüdischen Verwaltung große Macht; sie entschied, wer aß oder nicht. Im Warschauer Ghetto gab es keine solch starke Hierarchie.

Im Jahr 1942 bestätigten sich die Gerüchte über die Massenmorde an den Juden im Osten Polens. Die Menschen im Warschauer Ghetto ahnten, dass sie das Ghetto nicht überleben würden. Auch Ringelblum und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter realisierten die Situation. Wie hat das die Arbeit des Oneg Schabbat verändert?

Die Mitglieder begannen Dokumente über die Massenmorde zu sammeln. Neue Prioritäten kamen hinzu: Berichte über das Morden wurden an die polnische Exilregierung nach London geschickt. Im Laufe des Jahres 1942 wurden vier Berichte verschickt. Sie enthielten Interviews mit wenigen Juden, die dem Morden in den Vernichtungslagern Chełmno und Treblinka entkommen waren. Ein Interview mit Abraham Jacob Krzepicki, der am 25. August 1942 nach Treblinka deportiert wurde und zwei Wochen in dem Vernichtungslager verbrachte, umfasste allein 100 Seiten. Die Dokumente, die im November 1942 nach London verschickt wurden, enthielten eine Zeichnung des Vernichtungslagers Treblinka.

David Graber, 19 Jahre jung und Mitglied des Oneg Schabbat, schrieb im August 1942 in seinen letzten Aufzeichnungen kurz vor seinem Tod: "Was wir nicht in die Welt hinausrufen und -schreien konnten, haben wir im Boden vergraben. ...Nur zu gerne würde ich den Augenblick erleben, in dem der große Schatz ausgegraben wird und der Welt die Wahrheit ins Gesicht schreit. Damit die Welt alles erfährt." Bis heute sind die Dokumente des Untergrundarchivs sehr bewegend. Sehen Sie in den Anstrengungen, das Archiv aufzubauen, eine Art Widerstand?

Absolut, absolut. Das Zitat von Graber ist ein perfektes Beispiel dafür, ein Dokument als Teil eines kulturellen Widerstands zu hinterlassen. Widerstand erfolgt nicht allein durch Waffen, sondern eben auch mit Papier und Stift. Einen Bericht zu hinterlassen, um zu zeigen, dass die Menschen im Ghetto nicht nur eine gesichtslose Masse waren, sondern Individuen, ist Widerstand.

Das Interview führte Sonja Ernst.

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Samuel D. Kassow wurde 1946 in Stuttgart geboren. Er ist Professor für osteuropäische Geschichte am Trinity College, Hartford, Connecticut. Rund acht Jahre arbeitete Kassow an seinem Buch "Who Will Write Our History", das auf deutsch im Jahr 2010 unter dem Titel "Ringelblums Vermächtnis. Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos" bei Rowohlt erschienen ist. Das Buch erhielt international Anerkennung.