Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Armenisches Leben im Osmanischen Reich vor 1915 | Aghet – Genozid an den Armeniern | bpb.de

Aghet – Genozid an den Armeniern Einführung Der Genozid an den Armeniern Armenier im Osmanischen Reich Der jungtürkische Genozid im Ersten Weltkrieg Deutschlands Rolle Der Völkermord 1915/16 in deutschen Akten Johannes Lepsius - eine deutsche Ausnahme Erinnerungskultur Erinnerung der Zeitzeugen Literarische Zeugnisse Deutschsprachige Literatur Der Genozid in der Gegenwartskultur Mein armenisches Istanbul Komitas – ein Kronzeuge Erinnerungspolitik Türkische Völkermordleugnung Aghet und Holocaust Armenien und der Genozid Der Völkermord im Unterricht Der Fall Hrant Dink Redaktion

Armenisches Leben im Osmanischen Reich vor 1915 Zwischen Hoffnung und Gefährdung

Elke Hartmann

/ 20 Minuten zu lesen

Weite Teile Armeniens gehörten seit dem 16. Jahrhundert zum Osmanischen Reich. In seiner Spätzeit lebten die Armenier in einem Spannungsfeld zwischen Hoffnung und Gefährdung. Nach den Massakern am Ende des 19. Jahrhunderts und der fortschreitenden Marginalisierung zwang europäischer Druck im Februar 1914 den Osmanischen Staat zu Reformen – die aber durch den Kriegseintritt nie umgesetzt wurden. Für die Armenier begann die Katastrophe: durch Deportation, Ermordung und die Überführung ihres Besitzes und ihrer Wirtschaftsbetriebe in sunnitsch-türkische Hand.

Die Stadt Van, im Hintergrund der Berg Varak. (© Sammlung Michel Paboudjian, mit freundlicher Genehmigung von: www.houshamadyan.org )

Einleitung

Der überwiegende Teil Armeniens war seit dem frühen 16. Jahrhundert Teil des Osmanischen Reiches. Im ausgehenden 19. Jahrhundert kam es unter der Herrschaft Sultan Abdülhamids II. in den Jahren 1894-1896 zu reichsweiten Armeniermassakern. Während des Ersten Weltkriegs wurden die osmanischen Armenier Opfer eines Völkermordes. Im Folgenden wird dargestellt, wie die Armenier im Osmanischen Reich vor dieser Katastrophe gelebt haben, wie sie sich in den Osmanischen Staat und die osmanische Gesellschaft einfügten und welche Rolle sie selbst darin spielten. An einigen Beispielen wird zugleich aufgezeigt, welche Faktoren im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Zunahme der Gewalt gegen die armenische Bevölkerung und schließlich zu Vernichtung des armenischen Lebens im Osmanischen Reich führten. Dieser in der Forschung noch sehr neue Ansatz wendet sich zum einen nicht nur der Auslöschung zu. Er beschäftigt sich auch mit dem osmanisch-armenischen Alltagsleben und Erbe selbst und und legt dar, dass die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts keineswegs zwangsläufig auf den Völkermord an den Armeniern zuliefen und entsprechend armenische Geschichte nicht nur vom Völkermord ausgehend bzw. auf ihn hinführend erzählt werden kann. Dieser Forschungsansatz macht es sich zugleich zum Ziel, den Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich vor allem aus seinen osmanischen Kontexten heraus zu verstehen, zu denen auch die Betrachtung der vielfältigen Verflechtungen, Handlungsmöglichkeiten und örtlichen Gegebenheiten der Armenier in Hauptstadt und Provinzen gehören.

Zerstreuung und Verstädterung

Die Armenier im Osmanischen Reich lebten nicht nur im Armenischen Hochland bzw. den sogenannten sechs armenischen Provinzen (vilayat-ı sitte) Erzurum, Van, Bitlis, Diyarbekir, Mamuret ül-Aziz und Sivas. Seit der Spätantike führten Umsiedlungen, Kriege, Unruhen, Flucht und Vertreibung dazu, dass viele Armenier seit Jahrhunderten außerhalb Armeniens lebten: Die byzantinischen Kaiser brachten Tausende Armenier nach Thrakien, in jenes Gebiet also, das heute den europäischen Nordostzipfel der Türkei und die in Bulgarien liegenden angrenzenden Landstriche ausmacht. Die seldschukische Eroberung der armenischen Hauptstadt Ani im Jahr 1065 löste eine Massenauswanderung aus, in deren Folge sich in Kilikien (der Region im Südosten Kleinasiens am Mittelmeer) während der Kreuzfahrerzeit ein armenisches Königtum bildete. Im 16. und 17. Jahrhundert lösten die langen osmanischen Kriege mit dem Iran und anhaltende Unruhen in Anatolien (die sogenannten Celali-Revolten) erneut große Migrationsbewegungen unter den Armeniern aus, die vom Land in die geschützteren Städte, vom Armenischen Hochland in die westlicheren Provinzen des Osmanischen Reiches oder in die Ferne zogen. Dadurch gab es neben einer weltweiten Diaspora innerhalb des osmanischen Reichsgebiets in fast allen Provinzen – mit Ausnahme Nordafrikas und der Arabischen Halbinsel – bedeutende armenische Gemeinschaften. Das 19. Jahrhundert erlebte mehrere osmanisch-russischen Kriege, die die armenischen Provinzen verwüsteten. Vor allem aber war das 19. Jahrhundert geprägt von den tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, welche der beschleunigte Modernisierungsprozess auslöste, dem sich das Osmanische Reich unterzog. Diese großen Umwälzungen eröffneten einigen Bevölkerungsgruppen neue Chancen und weckten neue Hoffnungen. Gleichzeitig brachten sie für erhebliche Teile der Bevölkerung auch Ängste mit sich, die Unruhen und - gepaart mit den Folgen der Kriege - gerade in den armenischen Provinzen vermehrte Unsicherheit und ansteigende Gewalt nach sich zogen. Hierdurch nahm die Auswanderung, vor allem aber die Binnenwanderung und damit einhergehende Verstädterung der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich im Laufe des 19. Jahrhunderts noch einmal drastisch zu.

Hoffnung und Gefährdung

In der Spätzeit des Osmanischen Reiches lebten die Armenier in einem Spannungsfeld zwischen Hoffnung und Gefährdung. Auf der einen Seite veränderte das Übermaß an alltäglicher Gewalt die Bevölkerungsstruktur vor allem im Armenischen Hochland. Die Zerstörungen der Kriege lösten Fluchtwellen aus, die Felder blieben unbestellt, Ernten verkamen, und so gab es vor allem nach dem letzten russisch-osmanischen Krieg von 1877/78 über Jahre hinweg immer wieder lokale Hungersnöte. Die Unsicherheit der sesshaften Bauern wurde durch die häufigen und zumeist nicht geahndeten Überfälle von nomadisch oder halbnomadisch lebenden Stämmen verstärkt. Ganze Dorfgemeinschaften verarmten. Neben dem Verlust von Ernten, Vieh und Weideland wurden auch Entführungen junger Frauen beklagt.

Blick auf die Stadt Harput (© Ernst Sommer, Was ich im Morgenlande sah und sann, Bremen 1926. Mit freundlicher Genehmigung von www.houshamadyan.org)

Das Bild schutzloser Frauen und Kinder, deren Männer als Wanderarbeiter (bantukhd) in den Großstädten ein neues Elendsproletariat bildeten oder Überfällen und schließlich 1894-1896 auch Massakern zum Opfer gefallen waren, fand seinen Niederschlag in zahllosen Konsularberichten; das Schicksal der geraubten Mädchen wurde zu einem Leitmotiv der Literatur wie der kollektiven Erinnerung der Armenier. Viele Bauern, keineswegs nur armenische, sondern auch die kurdischen sesshaften Dörfler, lebten als Untergebene (maraba) ihrer Grundherrn in einem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis, das in vielen Aspekten einer Leibeigenschaft nahekam, sie jedoch gleichzeitig auch dem Schutz ihrer beys (Stammesoberhäupter oder städtischer Notabeln) unterstellte. Die Machtposition der beys fußte auf dem Institut der Steuerpacht. Dabei kontrollierten sie zum Teil nicht nur einzelne Dörfer, sondern ganze Regionen.

Die Armenier als Teil der osmanischen Gesellschaft

Gewalt, Unsicherheit, Verelendung und Abwanderung waren indessen nur der eine Pol armenischer Erfahrung in den osmanischen Provinzen. Auf der anderen Seite suchten und fanden die Zuzügler in den Provinzstädten in neuen Tätigkeiten und Lebensformen auch ihre Chancen. In der Dynamik der vielfältigen Modernisierungsprozesse probierten sie sich in neuen Produktionstechniken und Berufsfeldern. Die Kaufleute, Geldwechsler und Handwerker entwickelten sich zu einer städtischen Mittelschicht, die nicht selten zu Wohlstand und Selbstbewusstsein gelangte und die an den umfassenden Reformprozess, dem sich das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert unterzog, auch Hoffnungen auf Rechtstaatlichkeit und politische Teilhabe knüpften.

Insgesamt waren die Armenier im Osmanischen Reich zu dieser Zeit in allen Bereichen von Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft, in den Städten wie auch in den Dörfern, ob als landlose Bauern und verarmte Wanderarbeiter oder als aufstrebende Mittelschicht und zu Wohlstand und Einfluss gelangte Notabeln untrennbarer Teil des osmanischen sozialen Gefüges. Was sie von ihren muslimischen Landsleuten im osmanischen Reich unterschied, war ihr Status als nichtmuslimische Minderheit. Im Osmanischen Reich als islamischem Staatswesen wurden Nichtmuslime zwar geduldet, jedoch zum Preis eines nachrangigen Status, der sie unter anderem von Herrschaftsaufgaben und Waffendienst ausschloss. Mit dem Minderheitenstatus der Armenier ging also sowohl eine größere Gefährdung und Schutzlosigkeit einher, als auch eine - bei minderprivilegierten Minderheiten häufig beobachtete - ausgeprägtere soziale Dynamik und ein Aufbruchsgeist in der Epoche der modernisierenden Reformen.

Das Osmanische Reich als Vielvölkerstaat

Die Armenier stellten zwar in vielen Orten relative oder auch absolute Mehrheiten, nicht aber flächendeckend in einem größeren zusammenhängenden Gebiet. Neben den Armeniern lebte in Anatolien eine Vielzahl von religiösen, sprachlichen und ethnischen Gemeinschaften, von denen die Türken, Kurden, Griechen, Aramäer / Assyrer und Araber als größte Gruppen zu nennen sind, wobei diese sich jeweils nach konfessionellen oder sprachlichen Gesichtspunkten nochmals unterteilten. Heterogen war die Bevölkerung in der gesamten Region auch hinsichtlich ihrer Lebensformen sowie ihrer sozialen Organisation, ob als sesshafte Bauern, Städter oder nomadisch bzw. halbnomadisch lebende Stammesverbände. Armenisches Leben im Osmanischen Reich stand also immer vor der Notwendigkeit, sich mit den anderen Gruppen in derselben Region zu arrangieren.

Vielgestaltige Übergangsformen

Armenische Frauen in Diyarbekir, Anfang des 20. Jahrhunderts. (© Hugo Grothe, Geographische Charakterbilder, Leipzig 1909. Mit freundlicher Genehmigung von www.houshamadyan.org)

Das gesamte Gebiet Kleinasiens war nicht nur geprägt von einer großen religiös-konfessionellen, sprachlichen und ethnischen Vielfalt, sondern auch von einer Vielzahl an Übergangsformen und wechselseitigen Beeinflussungen zwischen den verschiedenen Gruppen und Gemeinschaften, also von religiösen, kulturellen und sprachlichen Transfer- und Adaptionsprozessen. Dies betraf auch die Armenier. So lebten in der Gegend um Urfa (in der heutigen Türkei nahe der syrischen Grenze) Armenier, die sich neben ihrem nach außen hin praktizierten Christentum auch zoroastrische Glaubenselemente bewahrt hatten. In Shadakh südlich des Van-Sees (im Südosten der heutigen Türkei), in der Pontosregion am Schwarzen Meer und an anderen Orten gab es Armenier, die zum Islam konvertiert waren und diese Religion auch praktizierten, zu Hause aber ebenso christliche Riten befolgten. Sprachliche Assimilationen waren weit verbreitet. So waren beispielsweise in der Region westlich des Van-Sees viele Armenier kurdisch-sprachig, in Kilikien, aber auch in einigen anderen Regionen hatte im 19. Jahrhundert das Osmanisch-Türkische das Armenische als Umgangssprache auch innerhalb der eigenen Gemeinschaft abgelöst. Insgesamt war die armenische Gemeinschaft im Osmanischen Reich sprachlich in herausragendem Maß integriert, osmanische Sprachkenntnisse waren in kaum einer anderen nicht-türkischen Bevölkerungsgruppe so verbreitet wie unter den Armeniern. Umgekehrt hatten sich viele Aramäer und Chaldäer, insbesondere in der Region um Diyarbakır, sprachlich an die Armenier angeglichen.

Die "treue Nation"

Die Armenier galten spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert unter den nicht-muslimischen und nicht-türkischen Bevölkerungsgruppen des Osmanischen Reiches als besonders gut integriert und – aus der Perspektive der osmanisch-türkischen Staatsspitze insbesondere im Gegensatz zu den Christen auf dem Balkan, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts vom osmanischen Staatsverband absetzten, um eigene Nationalstaaten zu gründen – als besonders loyal, als "treue Nation"(millet-i sadiqa).

In der islamischen Staatsordnung des Osmanischen Reiches waren Nicht-Muslime zwar theoretisch von Herrschaftsfunktionen ausgeschlossen. Deshalb waren Nicht-Muslime in der osmanischen Armee, Polizei und Verwaltung nur in Ausnahmefällen vertreten. Erst mit den "tanzimat" (Neuordnungen) genannten Reformen öffnete sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die osmanische Verwaltung auch für Nichtmuslime, während die Armee ihnen noch bis 1909 verschlossen blieb. Dennoch dienten Nicht-Muslime allen osmanischen Sultanen und Regierungen traditionellerweise etwa als Ärzte oder Dolmetscher. Insbesondere waren Nicht-Muslime in denjenigen Berufsfeldern präsent, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert neu aufkamen und sich ausdifferenzierten: etwa dem allmählich entstehenden Bankenwesen, an dessen Entwicklung im Osmanischen Reich armenische sarrafs (Geldverleiher, Bankiers) maßgeblichen Anteil hatten.

Der armenische Bankier Hagop Pascha Kazazian diente Sultan Abdülhamid II. (reg. 1876-1909) nicht nur als privater Vermögensverwalter mit Ministerrang, sondern auch als Finanzminister des Reiches. Seine beiden unmittelbaren Nachfolger im Sultansdienst waren ebenfalls Armenier. Krikor Odian, ein namhafter armenischer Intellektueller und Politiker, der bereits 1860/63 bei der Ausarbeitung der armenischen millet-Verfassung (der "Nationalen Verfassung" der armenischen Gemeinschaft im Osmanischen Reich) eine maßgebliche Rolle gespielt hatte, war als wichtigster Berater des berühmten Reform-Großwesirs Midhat Pascha einer der Vordenker und Ko-Autoren der ersten osmanischen Verfassung, die 1876 proklamiert wurde. Der armenische Arzt Servitchen (Serovpe Vitchenian) war einer der bedeutendsten Ärzte seiner Generation.

Entfaltungsmöglichkeiten in den Provinzen: die Architekten-Familie Arslanian aus Yozgad

Das Beispiel der Familie Arslanian aus dem zentralanatolischen Yozgad illustriert die Dynamik der Binnenmigration, des Neuanfangs und Aufstiegs ebenso wie die Handlungsmöglichkeiten, die vor Ort jenseits der Vorschriften der osmanisch-islamischen Herrschaftsordnung bestanden. Yozgad war eine junge Stadt, die erst Mitte des 18. Jahrhundert von der turkmenischen Dynastie der Çapanoğlu gegründet wurde. In deren Gefolge befand sich auch ein armenischer Baumeister namens Nakkash Simon, der für die Errichtung der ersten Gebäude mitverantwortlich war und im Gegenzug von der Protektion der mächtigen Lokalfürsten profitierte. Sein Enkel, Ohan Amira Arslanian, stieg dann selbst zu einem der einflussreichen Notabeln der Stadt auf, der als Kaufmann auch zu Kreisen der Provinzverwaltung Kontakte pflegte und mit Titeln und Auszeichnungen dekoriert wurde. Zeitweise hatte er die Steuerpacht nicht nur für einzelne Dörfer, sondern für den gesamten Verwaltungsbezirk inne und übernahm damit eine Funktion, die eigentlich Muslimen vorbehalten war.

Unterrichtsstunde in der deutschen Schule von Mezire (Mamuretül-aziz) (© Paul Rohrbach, Armenien, Stuttgart 1919. Mit freundlicher Genehmigung von www.houshamadyan.org)

Ohan Amira wurde auf diese Weise Teil des lokalen Machtgefüges, entsprechend war er auch verwickelt in die zahllosen Machtkämpfe und Intrigen, durch die mal er, mal seine Widersacher ihrer Funktionen enthoben und in die Verbannung geschickt wurden. Während des Krimkriegs 1854-65 (zwischen Russland und dem Osmanischen Reich, Großbritannien und Frankreich) Lieferant für die osmanische Armee, hielt die Familie Arslanian auch während einer anschließenden lokalen Hungersnot die Versorgung der Bevölkerung aufrecht. Damit verschaffte sich Ohan Amira so großes Ansehen, dass er sogar zum Verwalter einer Moscheestiftung ernannt wurde und dieses Amt rund 30 Jahre lang ausfüllte – ganz entgegen den Regelungen der islamischen Rechtsvorschriften, die ein solches Amt für einen Nichtmuslim eigentlich ebenso ausschlossen wie generell jegliche Herrschaftsfunktionen über Muslime. Die Familie Arslanian zog andere Armenier nach. Auf den Ländereien, die sie kontrollierten, siedelten sie Armenier an, die aus den Ostprovinzen geflohen waren. Für die wachsende Gemeinde gründeten sie schließlich eine neue Kirche und eine Schule.

Bildung als Königsweg

Die Armenier verfügten in überproportional hohem Maß über moderne Schulbildung. Zum einen sprachen die von westlichen Missionaren gegründeten Bildungseinrichtungen unter den Bevölkerungsgruppen Anatoliens vor allem die Armenier an. Zum anderen bemühte sich die armenische Gemeinschaft selbst, nicht zuletzt als Reaktion auf die Aktivitäten der Missionare, um den Aufbau eines modernen, säkularen Schulwesens. In den Schulen wurde neben Armenisch und europäischen Fremdsprachen auch Osmanisch-Türkisch unterrichtet, einige Missionsschulen verwendeten sogar vornehmlich Türkisch als Unterrichtssprache. Viele armenische Schulen unterrichteten auch türkische (muslimische) Kinder, vor allem in den Dörfern, in denen osmanische Staatsschulen bzw. muslimische Bildungseinrichtungen zunächst fehlten. Die Absolventen dieser Schulen leisteten schließlich auch ihren Beitrag bei der Entwicklung des neuen staatlich-türkischen Bildungswesens.

Theateraufführung im Waisenhaus von Dörtyol, 1920-1921 (© AGBU Bibliothèque Nubar, Paris, mit freundlicher Genehmigung von www.houshamadyan.org)

Namhaft waren vor allem die großen Schulen in der Hauptstadt Istanbul. Einige der neuen Schulen in den Provinzen entwickelten sich ebenfalls zu wichtigen Zentren armenischen intellektuellen Lebens. Zu nennen sind etwa das Sanasarian-College in Garin / Erzurum oder die Schulen in Van, Kharpert / Harput und Aintab / Antep. Die junge Generation armenischer Schriftsteller, die in der kurzen Periode der Freiheit und Hoffnung zwischen der jungtürkischen Revolution von 1908 und der Errichtung der Diktatur im Jahr 1913 ihre Blüte erlebte, hatte nicht nur diese Schulen absolviert, viele dienten dort auch als Lehrer.

Kulturelle Ausdrucksformen pluraler Identitäten

Auch auf dem Gebiet der Kultur taten sich die Armenier des Osmanischen Reiches hervor. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts gehörten Armenier zu den Pionieren des frühen Buchdrucks im Osmanischen Reich. Mit Güllü Hagop (Hagop Vartovian) gründete ein Armenier das erste moderne Theater osmanischer Sprache, dessen Schauspielerensemble zunächst ebenfalls fast ausschließlich aus Armeniern bestand. Das Stadtbild Istanbuls ist bis heute an vielen Orten bestimmt von den Palästen und Moscheen, die die armenische Architektendynastie Balian im 19. Jahrhundert im Auftrag der Sultane erbauten und in denen sie versuchten, den klassischen osmanischen Baustil mit zeitgenössischen europäischen Einflüssen zu verschmelzen und damit einen modernen und zugleich spezifisch osmanischen Stil zu schaffen.

Diese Beispiele zeigen, wie sehr das armenische Leben und die armenische Kultur im Osmanischen Reich durchzogen war von einer doppelten Referenz: Zum einen waren die eigene historische Tradition und Überlieferung, die armenische Sprache, Literatur und Kirche wichtige Bezugspunkte, ebenso wie die jeweils lokalen Gegebenheiten. Zum anderen aber bezogen sich die Armenier und natürlich in erster Linie die armenischen Eliten auf das Osmanische Reich als Bezugs- und Identifikationsrahmen, innerhalb dessen und für den sie ihre Fertigkeiten und Kunst entwickelten. In der Kunst und Kultur ebenso wie in den Ausdrucksformen des Alltagslebens der osmanischen Armenier fanden beide identifikatorischen Pole ihren Niederschlag: die eigenen armenischen Wurzeln sowie die osmanische Umgebung, und häufig Einflüsse der im Westen und Osten angrenzenden Kulturräume.

Pioniere der Fotografie: Familienfotos und Repräsentationen des Staates

Familie Elizabeth und Abraham Abrahamian (sitzend); Avedis und Araxie Abrahamian (stehend) in Istanbul, 1920 (© Sammlung Carolann Najarian. Mit freundlicher Genehmigung von www.houshamadyan.org)

Die Fotografie blieb im gesamten Osmanischen Reich eine stark von Armeniern geprägte Kunst. Die armenischen Hoffotographen – zu nennen sind vor allem die Studios Abdullah Frères und Sébah & Joaillier – schufen die offizielle osmanische moderne Außendarstellung: so etwa das große Porträt der osmanischen Modernisierung in den berühmten Fotoalben Sultan Abdülhamids II. oder die Inszenierung der osmanischen Vielfalt im Katalog zum osmanischen Weltausstellungsbeitrag von 1873.

Jenseits dieser künstlerisch-visionären staatlichen Inszenierung veränderte die Fotographie das Leben der Armenier in den Provinzen bis hinein in die Dörfer auf sehr spezifische Weise. Schon bald wurde es unter den armenischen wie auch den muslimischen Oberschichten modern und prestigeträchtig, sich und die Familie in Festtagskleidung oder kostümiert und mit sorgfältig gewähltem Dekor und Accessoires im Fotostudio porträtieren zu lassen. Für die armenische Gemeinschaft wurde die Fotografie jedoch auch zum Mittel des Appells, um nach Massakern die europäische Aufmerksamkeit auf das Schicksal der Armenier zu lenken oder um Hilfe für die Waisen zu mobilisieren. Für viele Armenier wurde die Fotographie schließlich zum Medium des Zusammenhalts der durch Flucht und Auswanderung auseinandergerissenen Familien. Die Familienbilder wurden zum Erinnerungsstück, das Bildnis der Abwesenden – Ausgewanderten oder auch Verstorbenen – wurde integriert in wieder neue Familienporträts. Heute sind die Familienfotos oft das einzige Relikt der verlorenen Welt, welches die Nachkommen der Völkermordüberlebenden besitzen.

Unverzichtbare Handwerker

Künstler und Intellektuelle, Ärzte und Bankiers waren letztlich eine zahlenmäßig überschaubare Gruppe. Spezialisierte handwerkliche Fähigkeiten boten hingegen einer größeren Zahl armenischer Familien die Möglichkeit zum Aufstieg, in der Hauptstadt, und mehr noch in den Provinzzentren. Dies gelang in besonderem Maße dann, wenn sie sich als Produzenten dem Osmanischen Staat unentbehrlich machen konnten. In den Provinzen geschah dies zumeist im Umfeld der modernen Wehrpflicht-Armee mit ihren neuen Bedürfnissen an Massenproduktion verschiedener Güter. Die osmanische Münzprägung lag seit 1757 gut ein Jahrhundert lang in den Händen der Familie Düzian (armenisch-katholischen amiras), die Dadians wiederum, armenische Juweliere am Hof des Sultans, hatten 1795 das Schießpulvermonopol übernommen. Jenseits dieser berühmten Ausnahmen an der obersten Spitze der osmanischen Gesellschaft sind es jedoch zahlreiche Fallbeispiele aus den verschiedenen Provinzen, die das Spannungsfeld zwischen Aufbruch und Gefährdung aufzeigen, in dem sich das armenische Alltagsleben im Osmanischen Reich bewegte.

Armenische Schreiner (marangoz) in ihrer Werkstatt, im Zentrum: Garabed Nadjarian. (© Aharonian. Mit freundlicher Genehmigung von www.houshamadyan.org)

Zerstörerisches Misstrauen: die Schmiedemeister Parigian aus Kharpert

Die Geschichte der Familie Parigian aus Kharpert (Harput, im östlichen Zentralanatolien) demonstriert, in welcher Weise aus der bedrängten Situation von Verfolgung und Auswanderung gelegentlich neue Chancen entstehen konnten und wie der dynamische Aufbruch der Armenier im Zeitalter der Moderne auch beeinflusst war von der steten Interaktion mit den Landsleuten in der Diaspora. Sie zeigt jedoch ebenso, wie sehr die Initiative und Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen nicht zuletzt vom Vertrauen bzw. Misstrauen der osmanischen Regierung abhingen – und eingeschränkt wurden.

Apraham, Parichan-Ded Amu und Manug Parigian waren drei Brüder aus dem Dorf Hussenig bei Kharpert, die sich in den verschiedenen Zweigen der Schmiedekunst einen Namen gemacht hatten, welche in der Region um Harput und Mezire insgesamt in erster Linie von Armeniern ausgeübt wurde. 1870 gründeten die Brüder Parigian die erste Gießerei in der ganzen Gegend und nutzten erstmals Wasserkraft für ihre Maschinen. 1880 reiste der jüngste Bruder Manug in die USA, um sich dort über neue Produktionstechniken zu informieren. Kurze Zeit später kehrte Manug Parigian mit neuem Wissen und importierten Maschinen in seine Heimat zurück. Mit ihm kam Dikran Terzian (Tertsagian), ein erfahrener Fachmann, den Parigian überredete, sich in Kharpert an seiner Fabrik zu beteiligen.

Das Werk der Parigians stellte eine große Bandbreite an Produkten her: von landwirtschaftlichen Geräten über Nähmaschinen bis hin zu Gewehren für die osmanischen Sicherheitskräfte. So nützlich die Parigiansche Fabrik für Staatsorgane und Gesellschaft in der Region war, so sehr weckte die Waffenproduktion auch das Misstrauen der Provinzverwaltung. Nachdem die Fabrik in kurzen Abständen zwei Mal geschlossen und wieder eröffnet wurde, entschloss sich zunächst Dikran Terzian, den Osmanischen Staat zu verlassen und wieder in die USA zurückzukehren. Die Herausforderungen und Hindernisse nahmen stetig zu. 1893 wurde die Fabrik einmal mehr geschlossen, nur zwei Jahre später, 1895, waren auch die Brüder Parigian von den reichsweiten Armeniermassakern betroffen, bei denen alle drei verwundet wurden. Dennoch setzen sie ihre Arbeit fort. Schon bald allerdings war es ihre große Windmühle, die sie zur besseren Energieversorgung gebaut hatten, die das Misstrauen der Behörden wachrief. Mit dem Argument, die Mühle bedrohe die osmanische Armee, weil aus ihr auch Geschütze abgefeuert werden könnten, ordneten sie die Zerstörung der Windmühle an. 1905 starb der älteste Bruder, Apraham. Manug entschloss sich zur Flucht in die USA. Nach der jungtürkischen Revolution 1908 schöpfte Manug Parigian erneut Hoffnung. Noch einmal kehrte er nach Kharpert zurück. 1915 wurde er erst in die Armee einberufen und dann ermordet. Ded Amu rettete sich, indem er einwilligte, in seiner Gießerei die Produktion für den Staat unentgeltlich fortzusetzen. 1923 verließ schließlich auch er das Land. Er starb 1931 in Los Angeles.

Tödlicher Aufstieg: die Dörrfleischfabrikanten Pastermadjian aus Erzurum

Die Geschichte der Parigians zeigt in erster Linie, wie sich der wechselhafte Kurs der osmanischen Behörden gegenüber aufstrebenden Armeniern in den Provinzen auswirkte, die vom Unternehmergeist und dem Handwerk der Armenier ebenso sehr profitierten wie sie den Armeniern misstrauten. Das Schicksal des Khatchadour Efendi Pastermadjian aus Erzurum hingegen veranschaulicht, in welcher Weise das Leben der Armenier im Osmanischen Reich durch die Ressentiments ihrer muslimischen Umgebung einer steten Gefährdung ausgesetzt war. Eine Gefährdung, die auch deshalb entstand, weil die Behörden kaum etwas zum Schutz der Armenier oder zur Ahndung von Verbrechen gegen Armenier unternahmen, sondern die antiarmenische Stimmung in der Bevölkerung sowie Übergriffe gegen Armenier stillschweigend tolerierten oder sogar beförderten.

Khatchadour Efendi Pastermadjian wurde 1824 geboren. Sein Vater war Metzger, der sich einen bescheidenen Wohlstand aufgebaut hatte und gute Kontakte zu anderen Handwerkern in seiner Umgebung unterhielt, möglicherweise auch zu lokalen Behördenvertretern. Unter Khatchadour expandierten die Geschäfte. Die Familie begann, Dörrfleisch (Bastrma / Pastırma) zu produzieren und etablierte sich als wichtiger Zulieferer der in Erzurum stationierten osmanischen Truppen, einer Garnison, der als Hauptquartier des vierten Armeekorps und militärischem Zentrum des gesamten osmanischen Ostens besondere Bedeutung zukam. Bald wurde aus der Familienschlachterei eine Fabrik mit ausladenden Handelskontakten. Sukzessive baute sich Khatchadour ein Netzwerk an Beziehungen zu den Viehzüchtenden Stämmen des Umlands auf, die seine Fabrik belieferten, mehrte Land und landwirtschaftliche Produktion, zudem verkehrte er in höchsten Kreisen der Provinzverwaltung und des Militärs. Khatchadour Pastermadjian begann, sich auch im Bauwesen zu betätigen. Schließlich tat er sich, seinem Wohlstand und Status entsprechend, auch durch wohltätiges Engagement hervor.

Die Brüder Fabrikatorian, Besitzer einer Seidenfabrik in in Mezire (Memuretül-aziz) (© Vahé Haig. Mit freundlicher Genehmigung von www.houshamadyan.org)

Khatchadour Efendis Erfolg und Aufstieg rief unweigerlich Gegner auf den Plan, und obwohl seine Gaben und sein Einfluss ungeachtet ihrer Gruppenzugehörigkeit Nicht-Muslimen ebenso wie Muslimen zugute kamen, bekamen Missgunst und Gegnerschaft schließlich eine religiöse Konnotation. Als Khatchadour Efendi 1872 eine Grundwasserquelle für sein öffentliches Bad (hamam) erwerben wollte, entzündete sich daran ein religiös begründeter Konflikt. Die Quelle gehörte zuvor einer muslimischen Stiftung (waqf). Obwohl der Verwalter (mütevelli) der Stiftung den Verlauf initiiert und das Verwaltungsgericht ihn bestätigt hatte, empfanden die gläubigen Muslime des Viertels es als ungehörig, dass die Quelle nun von einer muslimischen Stiftung in den Besitz eines "Ungläubigen"übergehen sollte, und protestierten dagegen. Mit dem Erwerb der Quelle hatte Khatchadour Efendi Pastermadjian eine Grenze überschritten, er hatte den immer noch eingeschränkten Handlungsrahmen verlassen, den die muslimische Gesellschaft trotz aller politischen Reformen im Osmanischen Reich den Nichtmuslimen weiterhin zuwies. Ein aufgebrachter Mob legte Feuer in einem von Pastermadjians Geschäftshäusern (han), sieben Stunden lang verfolgte die Menge unter Verwünschungen, wie das Feuer rund dreißig Läden und ein Wohnhaus zerstörte. Knapp einen Monat nach diesem Vorfall wurde Khatchadour Efendi Pastermadjian am helllichten Tag vor seinem hamam mit einem gezielten Kopfschuss getötet. Der Mörder, ein dagestanischer Einwanderer namens Muhiddin, entkam: Er hatte den Mord im Auftrag einer Gruppe einflussreicher muslimischer Notabeln Erzurums verübt, zu denen auch der Polizeichef der Stadt gehörte.

Teilhabe und Ausschluss

Es war die bedeutende Rolle, welche die Armenier überall im Land für die Erneuerung des Osmanischen Reiches spielten, ihr kultureller, wirtschaftlicher und politischer Aufbruch innerhalb des osmanischen Staats- und Gesellschaftsgefüges, der sie letztlich besonderer Gefährdung aussetzte. Je sichtbarer die Armenier als Motor und Gewinner der Modernisierung wurden, je selbstbewusster armenische Eliten auch politische Reformen, wirksamen Schutz von Leben und Eigentum und eine ausgewogene Teilhabe am Staatswesen einforderten, desto mehr kollidierten ihre Vorstellungen eines dezentral organisierten, pluralen Osmanischen Staates mit jener Vision eines muslimisch-türkischen Reiches, welches die jungtürkischen Eliten vertraten. Paradoxerweise wurde damit armenisches Leben im Osmanischen Reich umso gefährdeter, je mehr die Armenier sich zum Osmanischen Staat bekannten, ihren Willen zur politischen Integration bekundeten und sich für eine Erneuerung des Osmanischen Reiches einsetzten – was gleichzeitig als einzig gangbarer Weg erschien, der bestehenden Gefährdung zu entkommen.

Im frühen 19. Jahrhundert hatte die osmanische Armee im Zuge der zentralisierenden Reformbestrebungen die kurdischen Fürstentümer Ostanatoliens zerschlagen, ohne allerdings an deren Stelle wirksam und durchgehend eine neue Ordnung und direkte Kontrolle zu etablieren. Die osmanischen Regierungen setzten stattdessen auf eine Gewaltdelegation an verschiedene rivalisierende lokale Akteure, die sich gegenseitig unter Kontrolle halten sollten und dazu mit bestimmten Befugnissen, Waffen oder Privilegien ausgestattet wurden. In der Folge waren viele Regionen von langen Stammesfehden und Machtkämpfen zwischen den Organen der Provinzverwaltung und dem Militär, irregulären Stammesregimentern und lokalen Notabeln betroffen. Die Sesshaftmachung von Nomaden und die Ansiedlung der vielen muslimischen Flüchtlinge (muhacirun) von der Krim, aus dem Kaukasus und vom Balkan – denen oftmals keine hinreichende Lebensgrundlage an die Hand gegeben wurde und die sich dann kaum anders als durch Raub versorgen konnten – verschärften die Konflikte um Acker- und Weideland. Diese bekamen schließlich auch eine religiöse bzw. konfessionelle Konnotation, wenn christliche Armenier oder auch Alewiten Opfer sunnitischer Muslime wurden.

Die Verwüstungen des verlorenen Krieges gegen Russland von 1877-78 verschlechterten die Situation drastisch. Wie in den vorangegangenen Kriegen gegen Russland waren viele Armenier zeitweilig in andere Provinzen oder über die Grenze geflohen. Zerstörung und Flucht führten zu Ernteausfällen und diese wiederum zu lokalen Hungersnöten, die Kleinasien und vor allem die Ostprovinzen während der 1880er Jahre immer wieder heimsuchten.

Der Alltag vieler armenischer Dörfer war seit Mitte des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet von einem Übermaß an alltäglicher Gewalt, Raub und Übergriffen, gegen die sich die armenischen Bauern kaum zur Wehr setzen konnten, auch weil sie als Christen kein Recht hatten, Waffen zu tragen. Das armenische Patriarchat sowie die armenische sogenannte Nationalversammlung als weltliche Vertreterin der armenischen Gemeinschaft (millet), wandte sich mit unzähligen Petitionen an die osmanische Zentralregierung mit der Bitte um Reformen und Ahndung der Verbrechen. Schließlich setzten einige Armenier ihre Hoffnung auf einen Appell an Europa. Ende der 1880er und Anfang der 1890er Jahre gründeten sich armenische revolutionäre Parteien, die im Zusammenschluss mit den jungtürkischen Revolutionären gegen das autokratische Regime Sultan Abdülhamids II. und für die Wiedereinsetzung der Verfassung von 1876 kämpften. Als Reaktion vor allem auch auf die mit europäischer diplomatischer Unterstützung immer vehementer vorgetragenen Reformen für einen besseren Schutz der Armenier, initiierte Abdülhamid 1895-96 die reichsweiten Armeniermassaker, die zwar internationale Empörung, aber keine Interventionen nach sich zogen.

Reformen und Emanzipationsbestrebungen

Angesichts der gegebenen Bevölkerungsstruktur war für die Armenier im Osmanischen Reich im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine nationalstaatliche Sezession nach dem Vorbild der unabhängig gewordenen Balkanländer die am wenigsten realistische Option. Deshalb suchten die meisten osmanischen Armenier und gerade auch ihre unterschiedlichen Eliten einschließlich der Revolutionäre nach Möglichkeiten, die armenische Nation innerhalb des Osmanischen Staates zu verwirklichen. Sie versprachen sich die Entfaltung ihrer Nation in erster Linie durch eine Modernisierung und Stärkung des Osmanischen Staates, durch ein konstitutionelles Regime und politische Reformen, durch eine Gleichstellung aller Bevölkerungsgruppen ungeachtet ihrer Religion, schließlich durch lokale Autonomieregelungen und eine dezentrale Staatsordnung, welche der großen Vielfalt der osmanischen Bevölkerung und der regionalen Bedingungen im Reich Rechnung trug.

Die armenischen Eliten, die sich so vehement für eine Erneuerung des Osmanischen Reiches einsetzten, erstrebten vordergründig besseren Schutz für ihre Gemeinschaft. Letztlich aber verlangten sie eine Teilhabe an dem Staat, den sie als den ihren betrachteten. Dies allerdings hätte bedeutet, die islamische Grundlegung des Osmanischen Staates und die türkische Dominanz in Frage zu stellen und das Staatswesen in diesen beiden zentralen Aspekten auf ein neues Fundament zu stellen – ein Szenario, das von den jungtürkischen Machthabern als existenzielle Bedrohung verstanden wurde. Denn ihre Vision des Osmanischen Staates war nicht die eines multikonfessionellen und vielsprachigen föderalen Reiches, sondern jene eines türkischen Großreichs.

Vielvölkerstaat oder Nationalstaat: die "Armenische Frage"als osmanische Systemfrage

Als im Februar 1914 auf europäischen Druck hin schließlich Reformen zur Verbesserung der Lage der osmanischen Armenier einschließlich einer Autonomieregelung beschlossen wurden und als einige Monate später sogar zwei europäische Inspekteure anreisten, um die Implementierung der Reformen zu überwachen, trat das Osmanische Reich in den Ersten Weltkrieg ein und hob das Reformpaket fast unmittelbar nach seinem Kriegeintritt wieder auf. Im Schatten des Krieges wurde die so lange schwelende "Armenische Frage", die eigentlich eine Frage des Charakters des Osmanischen Staates war, endgültig "gelöst": Durch die Deportation und Ermordung der Armenier und die Überführung ihres Besitzes und ihrer Wirtschaftsbetriebe in sunnitsch-türkische Hand. Gefolgt von der Vertreibung der Griechen im sogenannten Bevölkerungsaustausch nach 1923 sowie dem jahrzehntelangen Versuch, die kurdische Bevölkerung gewaltsam zu assimilieren, wurde das einst vielfältige Osmanische Reich gewaltsam in einen seinem Selbstverständnis nach homogenen türkischen Nationalstaat umgewandelt.

Weitere Inhalte

Aghet – Genozid an den Armeniern

Der Völkermord an den Armeniern 1915/16 in deutschen Akten

Der Völkermord an den Armeniern 1915/16 war das wohl schwerste Verbrechen des Ersten Weltkriegs. Und ein unheimlicher Vorläufer der Shoah. Schon deshalb müsste er die Deutschen interessieren, tut…

Aghet – Genozid an den Armeniern

Der Genozid in der Gegenwartskultur

Unter Kulturschaffenden einer jüngeren Enkelgeneration wird der Genozid zur Bedingung wie zum Ziel eigener kultureller Artikulationsversuche. Geschichten von Kindern, die der Ermordung ihrer Eltern…

Aghet – Genozid an den Armeniern

Der jungtürkische Genozid im Ersten Weltkrieg

1915/16 kam mehr als die Hälfte der 1,5-2 Millionen osmanischen Armenier Kleinasiens als Opfer einer Innenpolitik ums Leben, die sich frontal gegen sie richtete. An der Spitze des Osmanischen Reichs…

Aghet – Genozid an den Armeniern

100 Jahre türkische Völkermordleugnung

Burak Çopur setzt sich mit den Hauptfaktoren für den jungtürkischen Genozid an den Armeniern auseinander. Von der Türkei fordert er in seinem Essay: Sie muss ihren Gründungsmythos infrage stellen…

Aghet – Genozid an den Armeniern

Der Völkermord an den Armeniern in literarischen Zeugnissen

Die armenische Literatur ist kein Forum geworden für die Reflexion der traumatischen Verletzungen und Verluste. Die Literatur war vielmehr immer ein Forum der kritischen Auseinandersetzung mit Fragen…

Elke Hartmann ist Historikerin und Islamwissenschaftlerin. Sie hat zahlreiche Arbeiten zur Geschichte der armenischen Kultur und der türkischen Armenienpolitik publiziert und gehört dem Forschernetzwerk "houshamadyan"/"Erinnerungsbuch" in Berlin an.