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Aghet und Holocaust | Aghet – Genozid an den Armeniern | bpb.de

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Aghet und Holocaust Vergleichende Betrachtungen

Wolfgang Benz

/ 10 Minuten zu lesen

Öffentliche Erinnerung ist Teil der politischen Kultur zivilisierter Gesellschaften. Dazu gehört auch das Erinnern an schlimme Ereignisse – und das Eingeständnis historischer Schuld. Ob Völkermorde vergleichbar sind nach ideologischen Kriterien und phänomenologischen Kategorien, ist allerdings in Deutschland umstritten. Nicht zuletzt aus Gründen einer politischen Ethik.

Deir ez-Zor (heutiges Syrien) wurde 1915/16 zum Schauplatz von Massakern an den Armeniern (© Armenian Genocide Museum & Institute)

Desiderate der Genozidforschung

Der Völkermord an den Juden beherrscht als die zentrale Katastrophe des 20. Jahrhunderts weltweit den politischen Erinnerungsdiskurs, ungeachtet anderer Genozide, die erst allmählich zum Gegenstand vergleichender Betrachtung werden. Die Vergleichbarkeit der Völkermorde nach ideologischen Kriterien und phänomenologischen Kategorien ist vor allem in Deutschland umstritten, nicht zuletzt aus Gründen einer politischen Ethik, deren Angelpunkte Schuldbewusstsein und daraus resultierende Empathie gegenüber den Opfern sind. Für die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland bedeutet die Erinnerung an die Einzigartigkeit des Judenmords ein konstitutives Element. Doch das kann freilich – abgesehen von der singulären Methode und planmäßigen Organisation – keine generelle Einschränkung des Blicks auf den durch Deutsche zu verantwortenden Völkermord an den Juden und an Sinti und Roma bedeuten: Zur Erforschung der Ursachen und Motive gibt es nach dem zuerst geführten Diskurs über Schuld, Opfer und Täter noch viele Desiderate.

Genozide als "Ausgrabungs-" und Diskursfeld

Die Beschäftigung mit vergangenem Völkermord ist zunächst, aber nicht ausschließlich, Sache der Historiker. Seit dem Verbrechen von 1915 hat sich immer wieder aufs Neue gezeigt, dass Völkermorde planmäßig und kaltblütig in Szene gesetzt werden, dass sie Ergebnis systematischer Planung sind. Auch die Handlungsmuster sind geläufig: Schuldzuweisung an eine ethnische, religiöse, kulturelle Minderheit, ihre Verfolgung unter dem Vorwand, die Mehrheit sei provoziert worden; es folgt die "politische Lösung", die als "ethnische Säuberung", als Umsiedlung, als friedensstiftende Maßnahme verkündet und in den Formen von Vertreibung, Deportation, Raub und Mord praktiziert wird. Welche Ursachen und Motive veranlassten die Täter zum Verbrechen, welche Strategien und Methoden wurden mit welchem Ziel angewendet? Wer hat davon gewusst, wer hat den Genozid gebilligt oder verurteilt? Ist die Untat gesühnt worden? Und: Hat sie einen Platz in der Erinnerungskultur der Nation? Dann, dies ist immer noch Aufgabe der Wissenschaft, interessiert es, ob Indizien zu gewinnen sind, die sich verallgemeinern lassen, die helfen könnten, frühzeitig zu erkennen, ob irgendwo ein Konflikt, eine Krise derart eskaliert, dass sie in einen Genozid zu münden droht.

Aghet und Amnesie

Schließlich sind in Sachen Erinnerungskultur die Medien gefragt, und die Politik. Der Völkermord an den Armeniern – von einigen wenigen Literaten, Intellektuellen und moralisch Engagierten als Metapher der Vernichtung beschworen — sank bei Beteiligten wie Nichtbeteiligten allzu rasch ins Unterbewusste.

Im scharfen Kontrast zur Erinnerung an den Holocaust stehen der Gedächtnisverlust und die Realitätsverweigerung gegenüber dem Völkermord an den Armeniern während osmanischer Herrschaft, der von den Urhebern und ihren Nachfolgern noch 100 Jahre nach der Tat mit beträchtlichem Aufwand verleugnet wird, der aber auch von der Mehrheit in allen zivilisierten Völkern lange Zeit aus dem Gedächtnis gedrängt und dessen Dimension absichtsvoll nicht zur Kenntnis genommen wurde. Dabei fand der Völkermord an den Armeniern – inszeniert im Ersten Weltkrieg von der Regierung des Osmanischen Reiches, ausgeführt von türkischer Gendarmerie, türkischem Militär und, als Erfüllungsgehilfen, kurdischen Banden – unter den Augen der Weltöffentlichkeit statt.

Die große Mehrheit der Deutschen akzeptiert heute die historische Schuld am Judenmord und die Verpflichtungen, die daraus entstanden sind. Mit Rücksicht auf die aus der Türkei stammenden Bürger der Bundesrepublik hat es jedoch lange gedauert, bis Deutschland dem Vorbild Belgiens, Griechenlands, Schwedens und Frankreichs folgte und den Völkermord an den Armeniern als solchen öffentlich anerkannte. Lange war das verweigert worden und die Begründung, mit der ein prominentes Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion im Februar 2001 das Thema abtat, scheint nachgerade grotesk: Nicht die Abgeordneten seien schließlich gefragt, hatte dieser erklärt, sondern die Historiker. Das ist ein merkwürdiges Verständnis der Dinge. Denn Historiker haben sich lange und gründlich mit den Verbrechen an den Armeniern beschäftigt, den Sachverhalt beschrieben und beim Namen genannt: Völkermord.

Eine armenische Frau kniet beim Körper ihres Kindes, vor den Toren Aleppos, Syrien zur Zeit des armenischen Genozids, 1915. (© picture alliance / CPA Media Co. )

Die Faktizität der Ereignisse

Zum Wesen des Völkermords gehören seine Öffentlichkeit und die gleichzeitige Teilnahmslosigkeit der Nicht-Betroffenen. Der Genozid an den Armeniern geschah, wie nur zweieinhalb Jahrzehnte danach der Holocaust, unter den Augen der Welt. Im Vergleich mit dem Völkermord, den das nationalsozialistische Deutschland gegen die Juden plante und durchführte, machte sich die Regierung des Osmanischen Reiches im Herbst 1915 sogar wenig Mühe, ihre Absichten zu verschleiern. In Erlassen an nachgeordnete Behörden führte der Innenminister eine offene Sprache. Am 15. September 1915 verfügte er:

Der Völkermord an den Armeniern vor GerichtDer Prozeß Talaat Pascha

"Es ist bereits mitgeteilt worden, dass die Regierung beschlossen hat, alle Armenier, die in der Türkei wohnen, gänzlich auszurotten. Diejenigen, die sich diesem Befehl und diesem Beschluss widersetzen, verlieren ihre Staatsangehörigkeit. Ohne Rücksicht auf Frauen, Kinder und Kranke, so tragisch die Mittel der Ausrottung auch sein mögen, ist, ohne auf die Gefühle des Gewissens zu hören, ihrem Dasein ein Ende zu machen."

Fußnoten

  1. Der Völkermord an den Armeniern vor Gericht. Der Prozeß Talaat Pascha (Berlin 1921), Neuaufl. Herausgegeben und eingeleitet von Tessa Hofmann, Göttingen 1980, S. 133.

Die Tatsache des planmäßigen Vernichtungswillens und mithin des Völkermords am armenischen Volk steht außer jedem Zweifel. Sowohl die Evidenz des Geschehens im Einzelnen wie dessen Dimension von mindestens eineinhalb Millionen Toten, unendlicher Grausamkeit gegen die Opfer, Sadismus, Freude an der Qual und am Untergang der Todgeweihten – dies alles ist belegt und gesichert. Und es steht auch fest, dass die Welt damals schon Notiz genommen hat, dass buchstäblich vom "Genozid" an den Armeniern gesprochen wurde: Es gab Publizisten und Literaten, die öffentlich in Wort und Schrift den Völkermord zum Thema machten; der Schriftsteller Armin T. Wegner, der als deutscher Sanitätssoldat Augenzeuge der Massaker geworden war, bemühte sich um öffentliche Aufklärung; der Interner Link: Pfarrer Johannes Lepsius hatte in Armenien Zeugenberichte gesammelt und reiste durch Deutschland auf der Suche nach Unterstützung für ein Hilfswerk.

Erste Schritte zur Anerkennung des Völkermords

Der Völkermord an den Armeniern geriet auch in der Folge nicht ins Vergessen. Vor allem das Attentat des jungen Armeniers Soghomon Tehlirjan auf einen der Hauptschuldigen des Völkermords, den ehemaligen Innenminister des osmanischen Reiches Talaat Pascha, im März 1921 in Berlin auf der Hardenbergstraße, rief das Geschehene erneut ins kollektive Gedächtnis. Die zweite Sensation war der Freispruch des geständigen Attentäters nach zweitägiger Verhandlung im Juni 1921 vor dem Schwurgericht des Landgerichts III zu Berlin. Der Attentäter gab an, als 18jähriger seine gesamte Familie verloren und selbst ein Massaker unter einem Leichenberg liegend überlebt zu haben. Obgleich dieses Motiv einer persönlichen Traumatisierung jüngst in Zweifel gezogen worden ist – die sorgfältige Beweisaufnahme des Gerichts hatte grundsätzlich jeden Zweifel an der Realität des Genozids, an seiner Planung und Durchführung ausgeräumt.

Noch auf einer anderen als der politischen Ebene blieb der erste Genozid des 20. Jahrhunderts aktuell, Interner Link: nämlich in der Literatur. Mitte 1933 war Franz Werfels Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" erschienen, mit der im Vorwort geäußerten Absicht, "das unfaßbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen". Das Buch, das Werfels Weltruhm begründete, war Helden- und Widerstandsepos für die Armenier und Menetekel für die Deutschen, soweit sie es noch zur Kenntnis nehmen wollten und konnten.

Opfer des Völkermords, Türkei / Armenien, ca. 1915. (© picture alliance / CPA Media Co. Ltd. )

Die Parallelen zwischen dem osmanischen Genozid an den Armeniern und dem nationalsozialistischen Völkermord an den Juden sind nicht zufällig. In der Gewissheit, dass es keine Überlebenden geben werde, verkündeten die Wach- und Begleitmannschaften ihren Opfern ganz ungeschminkt, was bereits geschehen war, und welche Intentionen weiter bestanden. Auf die Frage eines armenischen Geistlichen, der geglaubt hatte, nur Männer seien Objekte des Mordens, erklärte ihm ein türkischer Gendarmeriehauptmann, wenn man nur die Männer totschlage, dann gebe es nach 50 Jahren wieder ein paar Millionen Armenier: "Wir müssen also auch Frauen und Kinder totschlagen, damit für immer keine inneren und äußeren Unruhen mehr kommen."

Die doppelte Last der Überlebenden

Als Adolf Hitler am 22. August 1939 die militärischen Befehlshaber zu sich befahl, um ihnen die Ziele des unmittelbar bevorstehenden Krieges mitzuteilen, da propagierte er die Ideologie der Vernichtung, als er erklärte, Ziel sei die "Beseitigung der lebendigen Kräfte" Polens, nicht die Erreichung einer bestimmten strategischen Linie. Hitlers Ansprache an die Generale enthielt verräterische Sätze über die wahren Absichten des bevorstehenden Krieges, bei denen die Teilnahmslosigkeit der Weltöffentlichkeit einkalkuliert war: "Dschingis Chan hat Millionen Frauen und Kinder in den Tod gejagt" sagte Hitler, um dann zu fragen: "Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?"

Die Überlebenden des Völkermords und ihre Nachkommen stehen im Gegensatz zum jüdischen Volk seither unter einem doppelten Trauma: der unverjährbaren Last des Erlittenen, wie der zusätzlichen Bürde durch die Leugnung des Verbrechens. Die Behauptung, dieser Genozid sei (so) nicht geschehen, wie er von den Opfern erfahren wurde, bedeutet eine zusätzliche Kränkung der Erinnerungsgemeinschaft. Dieser wird damit die Wahrnehmung und Wahrhaftigkeit ihres kollektiven Gedächtnisses abgesprochen, wodurch auch jede Aussicht auf Erlösung vom Schmerz genommen ist.

Überlebende des Genozids sammeln sich in den Baracken von Aleppo, ca. 1918. (© picture alliance / CPA Media Co. Ltd. )

Politische Verantwortung gegenüber geschichtlicher Erkenntnis

Öffentliche Erinnerung ist Teil der politischen Kultur zivilisierter Gesellschaften. Dazu gehört auch das Erinnern an unselige Ereignisse und das Eingeständnis historischer Schuld. Die Leugnung des Holocaust ist deshalb in Deutschland zu Recht strafbar, weil dies als ein beleidigender und aggressiver Akt gegen die Opfer und ihre Nachkommen verstanden wird. Die Nachfolger des längst vergangenen Osmanischen Reiches verweigern das Eingeständnis des Genozids bis zum heutigen Tag. In uns schwer verständlicher Aufwallung nationaler Leidenschaft reagierte die türkische Regierung, aber auch die mediale Öffentlichkeit in der Türkei darauf, dass das französische Parlament in einem späten legislativen Akt die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern beschlossen hat. Dies ist lediglich die Feststellung einer historischen Tatsache, nicht mehr. Auf ihr gründen sich keine rechtlichen Forderungen, aus denen sich für die Türkei Nachteile ergeben könnten. Es ist vor allem ein symbolischer Akt der Gerechtigkeit und der Anerkennung gegenüber den Armeniern französischer Nationalität. Und es ist ein Zeichen von Verantwortungsbewusstsein der Parlamentarier gegenüber geschichtlicher Erkenntnis.

Reaktionsmuster

Aber die Türkei hat reagiert, als sei ihr der Krieg erklärt worden, Medien und Politik gebärdeten sich, als seien sie in ihren Grundfesten existentiell bedroht. Staatschef Abdullah Gül verwahrte sich: "Es steht außer Frage für uns, diesen Gesetzesentwurf hinzunehmen, der das Recht aberkennt, unbegründete und ungerechte Vorwürfe gegen unser Volk und unsere Nation zurückzuweisen." Als mögliche Folgen brachte Gül den Abzug des Botschafters und den Abbruch der bilateralen Beziehungen mit Frankreich ins Gespräch. Das türkische Aufbäumen gegen die historische Realität erinnert an die Emotionen in Deutschland, mit denen nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg Realität verweigert und nationalistischer Wahn glorifiziert wurde. Beide Fälle sind aber eher als Hinweise auf mangelndes Selbstbewusstsein zu lesen. Zur Selbstgerechtigkeit gibt es in Deutschland jedoch keinen Grund. Dem verbündeten Osmanischen Reich ist die kaiserliche deutsche Regierung seinerzeit trotz bestehenden Unbehagens nicht in den Arm gefallen, das Wissen über den Völkermord wurde militärischen und bündnisstrategischen Erwägungen nachgeordnet.

Deutsche Debattenkultur

Schweigemarsch anlässlich des hundertsten Jahrestages des Völkermords am 24.4.2015 in Berlin. (© picture alliance / Pacific Press)

Der Deutsche Bundestag hatte am 21. April 2005 eine Dreiviertelstunde lang über den Tagesordnungspunkt "Gedenken anlässlich des 90. Jahrestages des Auftakts zu Vertreibungen und Massakern an den Armeniern am 24. April 1915" debattiert. Deutschland müsse zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen, lautete die Absicht. Die Redner waren sachkundig, sie zeigten sich über die historischen Ereignisse gut informiert. Die Abgeordneten waren auch sehr zufrieden mit ihrem Tun, spendeten sich für den Ernst und die Würde und ihre Einmütigkeit Beifall, verabschiedeten jedoch am 16. Juni 2005 einstimmig eine Resolution, die alles "Reden über den Völkermord" wieder zunichte machte: Um die voraussehbaren heftigen Reaktionen aus der Türkei zu verhindern, war in der Resolution vom "Genozid" – als geplanter, organisierter und ideologisch begründeter Vernichtung eines ganzen Volkes – nicht ausdrücklich die Rede, statt dessen bloß von "Vertreibungen" und "Massakern". Die türkische Regierung, der man einerseits eine Lektion in Erinnerungskultur erteilen wollte, ohne ihr jedoch durch schmerzliche Wahrheiten zu nahe zu treten, hat dies Leisetreten nicht gedankt. Regierungschef Erdogan äußerte sich beleidigend über seinen deutschen Kollegen Schröder, und in Berlin demonstrierten türkische Patrioten lautstark ihr nationalistisch aufgeladenes Geschichtsverständnis.

Die Zäsur von 2015

Am gleichen Tag findet ebenfalls in Berlin eine türkische Gegendemonstration statt. (© picture alliance / Pacific Press )

Das drohte sich zehn Jahre später zu wiederholen, als sich im April 2015 der Genozid zum hundertsten Mal jährte. Der Bundestag gedachte, wie zuvor das Europäische Parlament, des Schicksals der Armenier. Aus Rücksicht auf die deutsch-türkischen Beziehungen hatte das Auswärtige Amt vor der Vokabel "Völkermord" gewarnt und die Bundesregierung vorsorglich diplomatische Retuschen am Resolutionstext vorgenommen. Nachdem Papst Franziskus dann aber die Verfolgung der Armenier als Völkermord gebrandmarkt hatte, das Europäische Parlament wie schon 1987 denselben Sachverhalt konstatiert und Bundespräsident Gauck bei einem Gottesdienst zum Gedächtnis der ermordeten Armenier vom "Genozid" gesprochen hatte, fand auch das deutsche Parlament in Gestalt des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert endlich die richtigen Worte: "Das, was mitten im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich stattgefunden hat, war ein Völkermord." Der türkische Staatspräsident erklärte dagegen, für die Türkei sei es "niemals möglich, eine solche Sünde, eine solche Schuld anzuerkennen". Und, um drastische Wendungen nie verlegen, richtete Erdogan an die Adresse des Europäischen Parlaments noch die Ankündigung, welche Entscheidung es auch treffe, ihm gehe sie zum einen Ohr rein und zum anderen raus.

Der weite Weg zu einer gemeinsamen Erinnerungskultur

Zu lernen gibt es auf beiden Seiten noch vieles. Deutsche Politiker scheinen erkannt zu haben, dass sprachliche Bemäntelungen der Fakten nicht hilfreich sind, und türkische Politiker werden irgendwann wohl einsehen müssen, dass Wut und Empörung keine wirksamen Mittel gegen die historische Wahrheit sind. Auch der Versuch wird scheitern, sich aus politischem Kalkül hinter Begriffen wie "Vertreibung" oder "ethnischer Säuberung" zu verschanzen, oder die Fakten durch Begrifflichkeiten wie "Massaker" oder "Pogrom" zu beschönigen: der Völkermord als organisierter Vernichtungswille, der einer Intention folgt und nach System praktiziert wird, ist Höhepunkt und nicht steigerbare Summe all dieser Exzesse aus Massakern oder Deportationen, die im Rahmen eines Völkermordes eben nie auf Zufall beruhen. Anders gesagt, der Genozid wird mit den Methoden des Massakers, der Exekution, des Todesmarsches oder der Verelendung im Lager verübt, er lässt sich jedoch durch die Reduktion auf eine seiner Methoden nicht verharmlosen.

Literatur

  • Wolfgang Gust, Der Völkermord an den Armeniern. Die Tragödie des ältesten Christenvolkes der Welt, München 1993

  • Wolfgang Gust (Hg.), Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, Springe 2005

  • Jürgen Gottschlich, Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier, Berlin 2015

  • Rolf Hosfeld, Tod in der Wüste. Der Völkermord an den Armeniern, München 2015

  • Annette Schaefgen, Schwieriges Erinnern: Der Völkermord an den Armeniern, Berlin 2006

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. u.a. Tim Neshitov, „Der Adler. Rächer für Völkermord an den Armeniern“, Süddeutsche Zeitung, 19. April 2015.

  2. A.a.O, S. 78.

  3. Heinrich Vierbücher, Was die kaiserliche Regierung den deutschen Untertanen verschwiegen hat. Armenien 1915. Die Abschlachtung eines Kulturvolkes durch die Türken, Hamburg 1930/Reprint Bremen 1985, S. 76f.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Wolfgang Benz für bpb.de

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Prof. em. Dr. Wolfgang Benz ist ehemaliger Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin.